„Ich war schon an sechs Demonstrationen. Ich habe es einfach zu Hause vor dem Fernseher nicht mehr ausgehalten und bin spontan an die erste grössere Kundgebung gegangen.“ Marzena Tyburz ist Krankenschwester in Warschau, politisch interessiert, aber alles andere als eine politische Aktivistin. Sie verbringt ihre Zeit lieber mit Gartenarbeit als mit Politik. „Wir hatten schwere Zeiten mit der Komuna (dem „kommunistischen“ Regime). Dann endlich gab es nach 1989 grosse Fortschritte, trotz aller Probleme. Und nun dies! Das PiS-Regime bringt wieder grosse Rückschritte und gefährdet die weitere Entwicklung.“
Ähnlich wie Marzena haben viele Bürger und Bürgerinnen reagiert. Organisatorin der Demonstrationen ist das KOD, „das Komitee zur Verteidung der Demokratie“, eine zivilgesellschaftliche überparteiliche Plattform. KOD entstand bereits gegen Ende November letzten Jahres als spontane Reaktion auf rechtsstaatlich mehr als bedenkliche Schritte des neuen rechtskonservativen Regimes unter Jaroslaw Kaczynski, dem Chef der PiS „Recht und Gerechtigkeit“ (vgl. Journal21 vom 14. 12. 2015). Mateusz Kijowski , Informatiker und Bürgerrechtsaktivist, griff die von einem Publizisten lancierte Idee einer neuen sozialen Bewegung auf und präsentierte sie auf Facebook. Nach grossem Echo organisierte er erste Strukturen und Demonstrationen. Er ist bis heute Kopf und Repräsentant des immer populärer werdenden KOD.
„Kaczynski hat zu hoch gepokert"
Die Popularität zeigt sich nicht nur in der wachsenden Zahl der Aktivisten - nach Angaben von Kijowski sind es im ganzen Lande bereits rund 20’000 - und den hohen Teilnehmerzahlen an den Kundgebungen. Auch in den Umfragen legte das KOD deutlich zu. Mitte März beurteilten gut 40 Prozent die Demonstrationen positiv, Anfang Mai waren es schon 55 Prozent. Vor allem Personen über 40, mit Hochschulabschluss und Bewohner von grossen Städten unterstützen das KOD – nebst den meisten Anhängern der Oppositionsparteien. Am letzten Samstag demonstrierten unter dem Motto „Alle für die Freiheit“ gegen 50'000 Personen in Warschau. In 20 weiteren Städten gab es kleinere Demonstrationen. Anlass war der Jahrestag der Wahlen von 1989, Symbol für die Wende zu demokratischen Strukturen.
„Kaczynski hat mit seinem unerwartet aggressiven Kurs zu hoch gepokert. Er hat sich zwar damit die für ihn zentrale Kontrolle über den Staatsapparat sichern können. Der Widerstand gegen eine offene Demontage rechtsstaatlicher Errungenschaften ist aber stärker ausgefallen als erwartet. Deshalb hat er auch auf die Demonstrationen emotional reagiert, ist teilweise richtig ausfällig geworden.“ Wojtek Modzelewski, emeritierter Soziologieprofessor an der Universität Warschau, spricht damit Kommentare von Kaczynski an wie die Bezeichnung von Demonstranten als „gorszego sortu“ (schlechterer Sorte). Dafür fand er bei seinen Anhängern Beifall, aber nicht beim Durchschnittsbürger. Kaczynski ist nicht zufällig in den Umfragen einer der unbeliebtesten Politiker Polens.
Hängepartie Verfassungsgericht
In den letzten Wochen hat sich der rüde Ton in der politischen Auseinandersetzung verschärft. Hauptsächlicher Anlass war die völlig verfahrene Situation, wie die Blockade um das Verfassungsgericht gelöst werden könnte. Zur Erinnerung: Im Dezember letzten Jahres hatte das von der PiS dominierte Parlament im Eiltempo Gesetzesänderungen durchgeboxt (vgl. Journal21 vom 2.1 2016). Diese wurden Anfang März vom Verfassungsgericht in diversen Punkten als verfassungswidrig abgelehnt. Die Entscheidung des Gerichtes und alle weiteren Urteile wurden wiederum von der Regierung als nicht bindend anerkannt, da sie nicht nach den neuen Gesetzesregeln erfolgt seien. Eine groteske Situation mit gravierenden Auswirkungen für Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit.
Die EU machte denn auch Druck, den Streit zu beenden und eröffnete ein Verfahren wegen Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit. Grundlage sollte der Bericht der Venedig-Kommission, der Rechtskommission des Europarates sein, der vom polnischen Aussenminister selber bestellt worden war. In diesem Bericht wurde weitgehend die Position des Verfassungsgerichtes anerkannt und eine schnelle Lösung des Konfliktes gefordert. Die Regierung überwies den Bericht an das Parlament, das eine Expertenkommission einsetzte. Erste Sitzungen zwischen PiS und Opposition brachten wenig, man stritt sich vor allem um Termine und Verfahrensfragen. Die PiS präsentierte einen sogenannten Kompromissvorschlag, der aber in den wesentlichen Punkten nichts Neues beinhaltete.
Skeptische Wirtschaftsaussichten
Als vor gut zwei Wochen durchsickerte, dass die EU-Kommission in ihrem Verfahren den zweiten Schritt einleiten wollte, kam es im polnischen Parlament zu einer Eskalation. Premierministerin Beata Szydlo griff in ungewohnter Schärfe die EU-Kommission und vor allem die Opposition an. Diese würde die polnische Souveränität untergraben und mit Befriedigung die Tatsache anerkennen, dass Polen attackiert werde. Auch die Opposition schlug heftige Töne an. So meinte der neue Chef der vorherigen Regierungspartei PO, Grzegorz Schetyna, ganz Polen schäme sich wegen der Premierministerin. Erneute Beschwichtigungsversuche gegenüber der EU brachten nichts, so dass letzten Mittwoch der Bericht der EU-Kommission an die polnische Regierung übermittelt wurde. Diese hat zwei Wochen Zeit, Stellung zu nehmen. Dass bald eine wirkliche Kurskorrektur erfolgt, ist wenig wahrscheinlich. Kaczynski hat eine „Kapitulation“ schon vor einiger Zeit ausgeschlossen. Auch am letzten Samstag hieb er an einer Parteiversammlung in die gleiche Kerbe und sprach von der „Souveränität als Wert an sich“, die verteidigt werden müsse.
„Bis jetzt hat das neue Regime für uns keine direkten Auswirkungen gehabt, indirekte aber schon.Klienten halten sich mit Investitionsprojekten zurück. Zudem haben wir auch einen Fall, wo sich die Regierung bemüht die Renationalisierung einer Firma zu erreichen.“ Wiezek Samitowski ist Inhaber und Chef einer grösseren polnischen Consultingfirma in Krakau. Die zukünftigen Aussichten sieht er eher skeptisch wie viele andere Wirtschaftsexperten.
50 Prozent verdienen weniger als 825 Franken
Dabei stehen indirekte Auswirkungen der politischen und gesellschaftlichen Polarisierung im Vordergrund. Ratingagenturen haben bereits mit negativeren Bewertungen reagiert. Nach Angaben des für die wirtschaftliche Entwicklung zuständigen Ministers Mateusz Morawiecki, eines ehemaligen Bankmanagers, sistierten rund 20 Prozent ausländischer Firmen ihre Investitionsentscheidungen. Auch die EU könnte Polen indirekt mit gezielten Nadelstichen zusetzen. Morawiecki und andere Minister sollen denn auch für ein konzilianteres Vorgehen gegenüber der EU eingetreten sein.
Obwohl gemachte Wahlversprechen zurückgestellt und abgeschwächt werden, könnten bald finanzielle Probleme dazukommen. Allerdings sind die aktuellen wirtschaftlichen Trends trotz einer leichten Wachstumsabschwächung noch günstig. Die Arbeitslosigkeit ist am Sinken und hat im April die 10 Prozent-Marke unterschritten. Auch die Löhne steigen weiterhin etwas an, sind aber immer noch sehr unbefriedigend. So verdienen 50 Prozent weniger als 3300 Zloty (rund 825 Fr.). Vor allem im Osten Polens, wo die PiS am meisten Anhänger hat, ist die Arbeitslosigkeit besonders hoch und sind die Löhne besonders tief.
Gespaltene Gesellschaft
„Bei uns hat die PiS die Wahlen deutlich gewonnen. Das ist kein Wunder. Viele hören Radio Maria (einen erzkonservativen katholischen Sender), lesen keine Zeitungen und haben ein einfaches traditionalistisches Weltbild. Jetzt kommt noch die Propaganda des staatlichen Fernsehens dazu mit ihren völlig einseitigen Nachrichtensendungen. Da muss schon viel passieren, bis die Leute nicht mehr PiS wählen“. Sonja Kucharska lebt in Cieszaczyn Wielki, einem kleinen Dorf im Südosten Polens, arbeitete aber längere Zeit als Technikerin im schlesischen Industrierevier.
Sonja ist kritisch gegenüber der PiS eingestellt. Mit PiS Anhängern diskutiere sie nicht über Politik, das gäbe nur Streit und bringe doch nichts. Selbst mit ihrer Schwester, einer PiS-Sympathisantin, spricht sie nicht über politische Themen. Das ist kein Einzelfall. Die Polarisierung ist so gross, dass auch Familien durch die Politik gespalten werden. Ein bekanntes Beispiel sind die Brüder Kurski. Der eine ist Chefredakteur der PiS-kritischen Zeitung Gazeta Wyborza, der andere PiS-Politiker und neuer Fernsehchef.
Gewaltlose Protestaktionen
Mit wem auch immer man in Polen spricht, in einem Punkt herrscht Einigkeit: So gross wie jetzt war die Polarisierung noch nie. Die bekannte polnische Regisseurin Agnieszka Holland spricht sogar von einem „kalten Bürgerkrieg“. In den zahlreichen Publizistikprogrammen sind zwar verschiedene Parteien und Orientierungen vertreten, aber die „Diskussionen“ sind meist eine Abfolge von Monologen. Ständig fallen sich die Teilnehmer ins Wort. Verbal wird immer mehr aufgerüstet, vor allem im PiS-Lager. Eine junge Abgeordnete sprach beispielsweise nach der EU-Sanktionsdebatte gar davon, dass für Verräter ja eigentlich der Strick die richtige Massnahme wäre.
Allerdings verliefen die Auseinandersetzungen bisher fast immer ohne Gewalt. An Kundgebungen kommt es fast nie zu Scharmützeln. Das hängt mit der Rolle der Polizei zusammen, die breit akzeptiert wird und sehr zurückhaltend agiert. Zudem gibt es in Polen eine Tradition gewaltloser Protestaktionen, vor allem seit der Solidarnosc-Bewegung. Allerdings haben Gruppierungen von radikalen Rechtsextremisten Aufwind, Angriffe auf Ausländer haben zugenommen (vgl. dazu dann den Artikel in Journal21 vom 12. Juni).
Mehr Unterstützung für die PiS
„Bis jetzt hat uns hier die Regierung noch keine grossen Verbesserungen gebracht. Mal schauen, wie das in Zukunft aussieht, es wird halt immer viel versprochen, na und dann...“ Der drahtige Mitfünfziger mit dem ich in Cieszaczyn Wielki in seinem Garten spontan ein Gespräch angefangen habe, verwirft theatralisch die Hände. Er ist Lokomotivführer bei der staatlichen PKP Cargo und ist froh um seinen Job. Die Leute hier in der Region seien halt meist nicht auf Rosen gebetet, die Löhne oft sehr niedrig. Eine Enkelin verdiene in einem Supermarkt in der nahen Provinzstadt Jaroslaw nur gerade 1500 Zloty.
Nicht verwunderlich, dass der grosse Wahlschlager der PiS - 500 Zloty Zulage pro Kind - gut ankommt. Für das erste Kind gibt es das Geld nur für geringe Einkommen, für jedes weitere Kind erhalten alle 500 Zloty. Seit April läuft mit einigen Anlaufschwierigkeiten die Umsetzung. Gut 2 ½ Millionen Haushalte können davon profitieren. In letzter Zeit sind auch - wohl nicht ganz zufällig - die Unterstützungswerte für die PiS erneut angestiegen. In Umfragen in der zweiten Maihälfte bewegten sie sich um die 37 Prozent, so viel wie bei den Parlamentswahlen im letzten Oktober. Damit lagen sie weit vor allen andern Parteien. Allerdings wurde die Regierung negativer bewertet. Die Gegner hatten in einer Umfrage mit gut einem Drittel sogar etwas mehr Rückhalt als die Anhänger. Fast 30 Prozent waren in dieser Frage gleichgültig.
Misstrauen gegen Politiker und Parteien
Wie geht es weiter? Die Polarisierung wird mit grosser Wahrscheinlichkeit noch zunehmen. Das PiS-Lager dürfte bei den zentralen rechtsstaatlichen Konfliktpunkten kaum nachgeben und seine Macht mit zweifelhaften Methoden weiter ausbauen, z. B. mit Einflussnahme auf das Gerichtswesen und mehr Personalwechseln auch auf unteren Stufen. Nur wenn der Preis zu hoch wird, beispielsweise durch Massenproteste und Streiks, ist ein Strategiewechsel wahrscheinlich. Denn für Kaczynski, den unbestrittenen Chef, ist die Erfüllung seiner „Mission“ das wichtigste: ein souveräner starker Staat, der auf der polnisch-nationalen (katholischen) Kultur aufbaut. Bei kleineren Problemen kann er auch die Regierung umbilden, ohne als einfacher Abgeordneter Verantwortung übernehmen zu müssen.
Ob er allerdings die nächsten Wahlen nochmals gewinnen kann, ist ungewiss. Das hängt von verschiedenen Faktoren ab: von der Entwicklung der Wirtschaftslage, wie weit er seine vollmundigen Wahlversprechen umsetzen kann, insbesondere die kostspielige Rentenreform und die steuerliche Entlastung unterer Einkommen, wie weit er Affären und Skandale in seinen Reihen verhindern kann und es mit dem starken Staat nicht übertreibt. Denn die Polen sind zwar aufgrund ihrer Geschichte sehr nationsgläubig, aber wenig staatsgläubig, und haben generell ein hohes Misstrauen gegen Politiker und Parteien.
Schwache Oppostion
Last but not least spielt die Entwicklung der Opposition eine wichtige Rolle. Das KOD ist zwar einiges populärer als die PiS, aber sie ist eine soziale Bewegung und keine Partei. Die Oppositionsparteien hingegen sind eher schwach aufgestellt und leiden an internen Konflikten. Sie arbeiten nicht besonders gut zusammenzusammen, sind in ihren politischen Orientierungen auch sehr unterschiedlich. Es wird sicher nicht einfach werden, eine attraktive politische Alternative zur geschlossen auftretenden PiS zu entwickeln.