Silvia Bächli zeichnet, meist mit dem Pinsel, in einfachen und klaren Linien und Formen. Trotzdem ist nichts einfach und klar: Ein deutliches Statement zu Grundbedingungen der Kunst – und nicht nur der Kunst.
«Dass eins zum anderen wurde. Welches welches ist?»: Ein rätselhafter Ausstellungstitel. Silvia Bächli, 1956 in Baden geboren, heute in Basel lebend, entnahm ihn einem ebenso schwer zu deutenden Gedicht der amerikanischen Lyrikerin Elizabeth Bishop (1911–1979). Was genau will die Gedichtzeile sagen? Wir haben einen Satz vor uns und eine Frage – und keine Antwort, sicher keine gradlinige Antwort, die uns glauben liesse, wir hätten Durch- und Klarsicht. Vielleicht ist der Titel gerade wegen dieser Unklarheit klar: Ein Wagnis geht ein, wer sich in die blendend weissen Räume des Erweiterungsbaus des Kunstmuseums Winterthur beim Stadthaus begibt. Da ist nichts eindeutig und klar. Silvia Bächli breitet an den Wänden dieser Räume und auf Tischen ihre Papierarbeiten meist der vergangenen paar Jahre aus und zeigt auf einer Tisch-Installation kleine Skulpturen. Sie lässt uns Besucherinnen und Besucher vorerst allein auf der Suche nach einem möglichen Sinn ihres Tuns, bis wir spüren, dass der Ausstellungsbesuch nur zum spannungsreichen Erlebnis werden kann, wenn wir auf das Gesprächsangebot der Künstlerin eintreten, wenn wir den steten Wandel als ein Arbeitsprinzip der Künstlerin erahnen und wenn wir uns die geheimnisvolle Titelfrage «Welches welches ist?» zur eigenen Frage machen.
Unbekannte Erfahrungsräume
Das ist nichts Neues in der bildenden, in der Kunst überhaupt (auch jener früherer Epochen), deren Aufgabe weniger die Antwort ist als vielmehr das Stellen von Fragen. Nur wird dieser Sachverhalt selten mit dieser Radikalität deutlich gemacht, wie das Silvia Bächli tut. Dazu fügt sich ihre Aussage: «Mein Arbeiten ist ein Annähern an etwas, das ich nicht genau kenne und das ich erst im Tun herausfinde.» Das heisst: Nicht nur die Besucherinnen und Besucher betreten Neuland. Die Arbeit auf dem Papier – das wichtigste Tätigkeitsfeld Silvia Bächlis – erschliesst auch der Künstlerin selber unbekannte Erfahrungsräume.
Dabei scheinen die Dinge vorerst einfach zu liegen. Wir sehen Zeichnungen, meist Pinselzeichnungen und selten Ölpastell, auf weissem Papier und häufig in einem Normformat. Viele Zeichnungen bestehen aus mehreren Blättern gleichen Formats. Die Formen sind reduziert auf Wesentliches. Es sind zum Beispiel mit breitem Pinsel langsam über die weisse Fläche gezogene Linien – hier blau, dort dunkelrot. Oder es sind bräunliche Zickzacklinien, die eine Art Netz ergeben. Auf einem Blatt treffen sanft gebogene Linien auf Kantiges. Ein anderes zeigt in Konturen einen Arm und eine Hand. In jüngerer Zeit sind nicht mehr Linien dominierend, sondern mit breitem Pinsel in ruhigem Rhythmus horizontal oder vertikal über die Bildfläche gezogene Farbfelder in kontrastierenden oder sich annähernden Tönen.
Spontaneität und Kontrolle
In seltenen Fällen treten Wörter zu den Formen – zum Beispiel mehrfach das Wort «spring». Englisch oder Deutsch? Oder beides? Deutsch wohl, denn am Ende fügt Silvia Bächli das Fragewort «wohin?» an. Doch es könnte auch «spring – Frühling» gemeint sein. Die formale Eindeutigkeit oder Einfachheit der Zeichnungen kippt, wie hier, immer wieder ins Mehrdeutige. Was klar scheint, ist es nicht. Einer der wenigen Titel eines Blattes lautet «Mantel». Wir können uns kaum vorstellen, warum die Künstlerin diesen Titel gewählt hat. Auf einem andern Blatt glauben wir die Darstellung eines Körpers oder eines Teils davon zu sehen – oder nur die Erinnerung an einen Körper? Vieles verweist auf Organisches, doch auf was genau, erfahren wir nicht. Die Farbfelder können an Landschaften, ans Meer, an den Himmel erinnern. Zugleich stehen sie, mit ihren schönen Farbklängen und ohne Gegenstandsbezug, einfach für sich. Silvia Bächli lässt die Zeichnungen spontan, wenn auch ruhig (das zeigt der fliessende Pinselrhythmus) entstehen, doch auch da ist keine Eindeutigkeit, denn stets behält sie Kontrolle und Übersicht – nicht um die Blätter zu überarbeiten, sondern um sie notfalls auszuscheiden oder um sich ähnlichen Formen erneut zu widmen.
Kontrolle, gepaart mit Spontaneität, zeigt sich auch darin, wie Silvia Bächli die einzelnen Arbeiten als sparsam gesetzte Akzente in den Museumsräumen präsentiert. Sie baute als Vorbereitung der Ausstellung in ihrem Atelier ein Modell der Winterthurer Museumsräume.
Es gestattete ihr ein Experimentieren mit Varianten der Präsentation: Sie wollte befragen, wie sich ein Blatt zu verschiedenen Nachbarschaften verhält, welche Kombinationen zu welchen Klänge führen und wie sich die Formate gegenseitig beeinflussen. Das Ergebnis: Die hellen Räume leben von einer Atmosphäre der Offenheit und Freiheit und von einem musikalisch anmutenden Rhythmus.
Als Besucherin oder Besucher nimmt man beim Durchwandern der insgesamt neun Räume nicht ein rationales, auf Berechnungen basierendes Konzept wahr, sondern ein ruhiges Fliessen der Farben und Formen. Das mag auch daher rühren, dass Silvia Bächli die Pinselzeichnungen aus einer kontrollierten und gleichzeitig von Emotionen zeugenden Körperbewegung heraus fliessen lässt. Diesen Eindruck erwecken vor allem jene grossen Zeichnungen, die sich über mehrere Blätter erstrecken, aber auch die mit «Farbfeld» betitelten, teils monochromen, teils zweifarbigen Arbeiten.
Ein Blick zurück
Im Jahr 2004 erschien bei Lars Müller die Publikation «Lidschlag – How It Looks» mit über 200 zwischen 1983 und 2003 entstandenen kleinformatigen Zeichnungen Silvia Bächlis. Der mittlere Raum des Winterthurer Museumsarchitektur präsentiert 20 davon, aus jedem Jahr eine: Ein retrospektives Element innerhalb einer Ausstellung, die nicht als Retrospektive gedacht ist, sondern von den Räumen her konzipiert scheint. Dieser mittlere Raum öffnet einen Blick ins Formenrepertoire der Künstlern, deren Arbeit der vergangenen vier Jahrzehnte nicht von radikalen Sprüngen gekennzeichnet ist, sondern von bedächtigem und wohl überlegtem Voranschreiten – bis hin zu den 13 zwischen 2019 und 2023 entstandenen, in nuancenreicher Farbskala mit Gouache bemalten und in Winterthur erstmals gezeigten Gipsskulpturen. Ihre Entstehungsgeschichte liest sich wie eine hübsche Anekdote: In einem Gewerberaum musste, damit er besser als Atelier diene, eine Gipswand entfernt werden. Silvia Bächlis Partner, der Künstler Eric Hattan, erledigte das mit dem Vorschlaghammer – und Silvia Bächli baute aus den von Zufällen geprägten kleinen Bruchstücken an Steinmannli erinnernde Skulpturen auf und fügte sie auf Augenhöhe zu einer Tischinstallation.
Silvia Bächli greift, wenn sie über ihre Arbeiten spricht, nicht zur grossen Metaphorik und zu Überhöhungen ihres Tuns. Sie bleibt im Technischen und schildert, wie es zu einzelnen Zeichnungen, zur Auswahl der Blätter und schliesslich zu ihrem Arrangement in den Museumsräumen und zu bestimmten Nachbarschaften und gegenseitigem Beeinflussen der Zeichnungen kommt. Dass es damit – für die Künstlerin, aber auch für die Besucherinnen und Besucher – sein Bewenden hat, ist nicht anzunehmen. Dass es keine direkt benennbare politischen Inhalte und keine Appelle gibt, bedeutet aber nicht, dass es das im Hintergrund nicht gibt. Nur: Es braucht Geduld und Einfühlung, um Silvia Bächlis Kunst als ein auch über den Museumsraum hinausgreifendes Statement zu erleben – als ein Bekenntnis zu Offenheit, Mehrdeutigkeit, Sowohl-als-auch und zu einem steten Fluss des Denkens.
Silvia Bächli (*1956) wuchs in Baden auf. Diplom als Primarlehrerin. Ausbildung zur Zeichenlehrerin an der Schule für Gestaltung Basel. Seit 1981 regelmässige Teilnahme an Einzel- und Gruppenausstellungen zum Beispiel in Basel, Aarau, Bonn, Paris, München, Wien, New York. Neben Basel wird Paris ab 1985 zweiter Wohn- und Arbeitsort. 1992−2006 Professur an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe. 2018 Atelierstipendium Landis & Gyr London, 2003 Prix Meret Oppenheim. Zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen u. a. in Basel, Aarau, Kassel, Porto, Paris, St. Gallen, Berlin, Baden. Silvia Bächli vertrat 2009 die Schweiz an der Biennale von Venedig..
Kunstmuseum Winterthur beim Stadthaus: «Dass eins zum andern wurde. Welches welches ist?». Kuratiert von Konrad Bitterli und David Schmidhauser. Bis 18.08.2024. Publikation mit einem Text von Konrad Bitterli. 35 Franken.