Alte Männer an der Macht. Keine neuen Ideen. Korruptes Land. Sesselkleber. Plutokratie, Kleptokratie, Abzocker und Verzocker, ohnmächtiges Volk, keine Chance auf Besserung.
Seit zwanzig, dreissig Jahren hören wir diese Kritik. Das Land hat seinen Glanz verloren, es ist blutleer, es humpelt durch Europa. Und die Politik ist ohnmächtig – oder will ohnmächtig bleiben, denn die Politiker leben ganz gut damit.
Jetzt ist ein Neuer an der Macht, ein stürmischer 39-jähriger Sozialdemokrat, ein „Verschrotter“, wie er sich nennt. Jetzt soll alles anders werden. Das linksliberale italienische Wochenmagazin „L’Espresso“ zeigt ihn auf einem Pferd – wie einst Napoléon beim Überqueren des grossen Sankt Bernhards. Matteo Renzi, der Napoléon Italiens?
Wenn nur Dienstjahre zählen…
Er hat ein junges Team zusammengestellt. Keine alten Männer, die schon seit 30 Jahren in der Politik reich werden – jene, die schon sieben Mal Minister waren. Das Durchschnittsalter von Renzis Kabinett beträgt 47 Jahre – die jüngste italienische Regierung. Zwei weibliche Kabinettsmitglieder sind erst 33 Jahre alt.
Und ausgerechnet jene, die jahrelang die Lethargie des Landes beklagten, beklagen jetzt, dass die Neuen unerfahren sind. Gut, sind sie nicht schon vom italienischen Politgeschäft verdorben. Gut auch, haben sie andere Ideen als die alten Männer der Rechten, der Linken und der Mitte. Wenn nur Dienstjahre zählen, kommt nie Neues zustande.
Die schwangere Ministerin
Etwas machohaft weisen einige darauf hin, dass eine Ministerin, die 33-jährige Marianna Madia, im achten Monat schwanger ist. Als ob eine schwangere Frau nicht denken könnte. Sie wird an gleich vielen Kabinettssitzungen teilnehmen können, wie die alten Männer, die verhindert waren, weil sie 14 Nebenjobs nachgingen und 27 Verwaltungsratsmandate innehatten.
Nicht alle sind Novizen. Das wichtigste Ministerium, das Wirtschaftsministerium, führt ein Mann mit jahrelanger Erfahrung: Pier Carlo Padoan war Professor an sechs Universitäten und Chefökonom der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Trotz seinen 64 Jahren stapft er nicht in alten Pfaden. Schon provoziert er und verlangt eine Abkehr von der rigorosen Sparpolitik.
„Wenn wir scheitern, bin ich schuld“
Renzi stürmt an die Macht wie ein Berauschter. Und er setzt die Latte hoch: „Wenn wir scheitern, dann ist nur einer schuld: ich“, sagt er. Er überschüttet das Land mit Optimismus, verbreitet Aufbruchstimmung, strahlt Zuversicht aus, nährt Hoffnungen, dass es endlich, endlich besser geht.
Die erfahrenen Männer, die in den letzten zwanzig Jahren an der Macht waren – vor allem Berlusconi –, waren zwar erfahren, doch erreicht haben sie nichts. Das stolze Italien schlitterte immer mehr ins Verderben. Das Volk wurde belogen. „Italien geht es gut, Italien geht es immer besser“, repetierte der damalige Wirtschaftsminister Tremonti wie eine ätzende Gebetsmühle. Zahlen, die das Gegenteil bewiesen, hielten er und Berlusconi zurück. Tremonti geht als traurige Gestalt in die Geschichte ein.
„Non ho l’età“
Das Politpersonal kümmerte sich längst nicht mehr um die Bedürfnisse des Volkes: es kümmerte sich einzig um sich selbst – und sackte die höchsten Diäten in Europa ein – inklusive grotesker Vergünstigungen. Selbst Fussballspiele dürfen die Herren Abgeordneten gratis besuchen.
Renzi setzte mit seinem ersten Auftritt im Senat ein Zeichen. Frech spielte er auf das Alter der ehrwürdigen Senatoren an. Verschmitzt zitierte er den 1964er-Jahr-Schlager von Gigliola Cinquetti „Non ho l’età per amarti“. (Ich habe nicht das Alter, um dich zu lieben.) Nein, er hat nicht das Alter, um in dieser Altherrenrunde zu reden – und sie zu lieben schon gar nicht. Renzi fügte bei: „Ich hoffe, es ist das letzte Mal, dass ich in diesem Senat an einer Vertrauensabstimmung teilnehmen werde“. Der Grund: Er will den Senat, die zweite italienische Kammer, ganz einfach abschaffen. Nicht alle Senatoren, einige auf Lebzeiten gewählt, reagieren mit Begeisterung.
Die Hände in den Hosentaschen
Während seiner 70-minüten Programmrede steckte Renzi immer wieder die Hände in die Hosentaschen. Ein Sakrileg? „Ein Ausserirdischer mit den Händen in den Hosentaschen“, titelte die Römer Zeitung „La Repubblica“. Und „La Nazione“ fragte: Verstossen Hände in den Hosentaschen gegen das Protokoll des Senats? Nonverbale Kommunikation ist wichtiger als verbale.
Nachdem er die Vertrauensabstimmung im Senat gewonnen hatte, rief Obama aus Washington an. Er beglückwünschte Renzi zu seinem Reformeifer. Und Tony Blair hat ihn längst schon geadelt.
„Basta mit der alten Politik“, ist Renzis Credo. Er kommuniziert per Twitter, „ideologisches Geschwätz“ hasst er. „Ich bin ein Pragmatiker“. Er will eine Steuerreform durchpeitschen. Vor allem die kleineren und mittleren Unternehmen sollen steuerlich entlastet werden. Der Bürokratie erklärt er den Krieg. Eine Justizreform soll Ordnung in den aufgeblasenen Justizapparat bringen. „In Italien gibt es mehr Anwälte als Maurer“.
Eine Lehrerin verdient 1200 Euro
Er will Milliarden in das Bildungssystem investieren. Die Schulhäuser zerfallen, während des Unterrichts tropft es von der Decke, die Lehrer darben. Eleonore R., eine Primarlehrerin in einem umbrischen Städtchen verdient 1‘214 Euro pro Monat. Sie unterrichtet in einer Klasse mit 32 Schülern. Renzi will jede Woche eine Schule besuchen und Sanierungsmassnahmen präsentieren. Am vergangenen Mittwoch war er schon in Treviso. Renzis Frau, Agnese, ist Mittelschullehrerin.
Vor allem will Renzi eine Wahlrechtsreform durchbringen. Die politische Lethargie, die Italien dominiert, ist auch darauf zurückzuführen, dass sich die beiden Kammern gegenseitig lähmen. Mit der Abschaffung des Senats sollen stabilere politische Verhältnisse und eine schlagkräftige Regierung geschaffen werden. Der Senat soll durch eine Kammer mit Bürgermeistern und den Präsidenten der 20 italienischen Regionen ersetzt werden.
„Nicht auf EU-Linie“
Als erstes liessen Renzi und seine Getreuen durchblicken, dass sie die schmerzhafte Sparpolitik aufweichen wollen. „Wir sind nicht auf der gleichen Linie wie die EU“, sagt Unterstaatssekretär Graziano Delrio. Solche Aussagen tun der italienischen Seele gut. Immer mehr Italiener kritisieren, sie seien am Gängelband von Brüssel und von „la Merkel“.
„Europa ist nicht die Mutter unserer Probleme“, ruft Renzi. Er will jetzt in Brüssel eine Aufweichung der Maastricht-Kriterien erreichen. Am 17. März trifft er „la Merkel“. Doch allzu viel Öl ins Feuer möchte er doch nicht giessen. „Die Gesundung der öffentlichen Finanzen schulden wir unseren Kindern und nicht ‚der Merkel‘ oder Draghi“.
„Der Totengräber der Linken“
Doch Renzis Euphorie stösst da und dort auf Skepsis. „Niemand hat einen Zauberstab, um die italienischen Probleme zu lösen“, erklärte Ignazio Visco, der Chef der italienischen Zentralbank. Den grossen Worten müssen jetzt grosse Taten folgen. Und da wird es schwierig.
Eine Frage hat Renzi bisher immer noch nicht beantwortet: Woher stammen die Milliarden, die er einsetzen will, um das Land wieder flott zu machen? Noch mehr Schulden machen à la Ronald Reagan?
Um grundlegende und schmerzhafte Reformen durchzubringen, braucht er die Unterstützung anderer Parteien: jener aus der politischen Mitte und der rechten Mitte. Und: Er muss auf seine eigenen Parteikollegen zählen können. Kann er das?
Viele Sozialdemokraten werfen Renzi Verrat vor. Er sei der „Totengräber der Linken“. Der sozialdemokratische „Partito Democratico“ (PD) würde nach Tony Blairs Vorbild „blairisiert“ und verwässert. Die Linke sei tot, jetzt herrsche der „Renzismus“. Renzi, sagen die Kritiker, verbinde viel mit Berlusconi, mit dem er seit Wochen flirtet. Auch Renzi gehe es nicht um Italien, sondern nur um sich selbst.
Spaltet sich die Linke?
Tatsächlich bezeichnet sich Renzi selten als Linker. Er war auch keiner: er stammt ursprünglich aus einer lauen christdemokratischen Rumpfpartei. Der linke „Partito Democratico“ müsse umgetauft werden, witzelt einer. Aus PD werde jetzt PdR, il „Partito di Renzi“.
Renzi denkt daran, die Linke so zu reformieren, wie es auf der rechten Seite Angelino Alfano getan hat. Er hatte sich im vergangenen Dezember von Berlusconi losgesagt und eine eigene Mitte-Rechts-Partei gegründet. Sie unterstützt die neue Regierung. Alfano ist Innenminister.
Den Gewerkschaften läuft es kalt über den Rücken, wenn sie Renzi hören. Der neue Regierungschef fand es bisher nicht nötig, mit den Arbeitnehmervertretern Kontakt aufzunehmen. Er bezeichnet das als „überflüssige Liturgie“. Das könnte sich rächen. An den Gewerkschaften sind schon manche gescheitert.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich die italienische Linke, die eine wechselvolle Geschichte hinter sich hat, wieder einmal spaltet und neu formiert. Das wäre gar nicht in Renzis Sinn. Ohne eine geschlossene eigene Partei würde er es schwer haben.
Nicht nur von linker Seite lauern Gefahren. Das Parteienbündnis, auf das sich Renzis Regierung stützt, ist fragil. Noch halten die Mitte-Parteien sowie der Nuovo Centrodestra von Angelino Alfano zu ihm. Doch wie lange?
Plötzlich könnte Renzi von unerwarteter Seite Zulauf haben. Beppe Grillos oppositionelle „5 Sterne-Bewegung“ droht die Spaltung. Vier Senatoren hatten dafür plädiert, Renzi nicht gleich die Tür zuzuschlagen und mit ihm zu verhandeln. Grillo schmiss sie aus der Partei raus. Andere „5 Sterne“-Abgeordnete könnten die Bewegung verlassen. Sie haben das diktatorische Geheul ihres Chefs zunehmend satt. Renzis Partito Democratico rollt ihnen den roten Teppich aus. Doch auch wenn einige Grillini zu Renzi stossen sollten, seine Mehrheit bleibt zerbrechlich.
Auch wenn er im Moment eine Mehrheit hat: immer lauert Berlusconi. Sollte Renzi zusammenbrechen, wird der 78-Jährige sagen: Seht, die Linke bringt es nicht. Bei Neuwahlen hätte Berlusconi wieder eine Chance.
Renzi hat den Mund voll genommen. Die Euphorie könnte schon bald zum Cauchemar werden. Schon in den nächsten Wochen muss er konkrete Ergebnisse vorweise. Dazu hat er sich verpflichtet. Kann er das nicht, muss Italiens Napoléon schon bald wieder vom Pferd steigen. Er wäre dann ein Kaiser ohne Kleider.