Tödliche Feindschaft ist eine Extremform menschlichen Verhaltens. Die abrahamitischen Religionen thematisieren das Phänomen, um es einzuhegen – und werden dennoch missbraucht, um Feindschaft zu schüren. Es braucht Selbstzivilisierung, um das Destruktive zu zähmen.
Mit der Geschichte von Kain und Abel erzählt die Bibel den Mythos vom ersten Mord. Die beiden Söhne des Ur-Paares Adam und Eva geraten in einen tödlich endenden Streit. Kain ist sesshafter Ackerbauer, sein jüngerer Bruder Abel ein nomadischer Viehzüchter. Sie verkörpern damit zwei unterschiedliche frühzeitliche Lebensformen. Wie in allen Urgeschichte-Stoffen des Buchs Genesis wird kein bestimmtes einzelnes Vorkommnis dargestellt, sondern ein Grundmuster menschlichen Daseins und kultureller Konflikte.
Der Bruderstreit entzündet sich nicht etwa an einem Kampf um Lebensgrundlagen oder Macht. Vielmehr geht es darum, wessen Opfer von Gott «gnädig angesehen» wird – also um Anerkennung. Kains Opfer gilt nicht als akzeptiert. Er sieht sich zurückgesetzt und erschlägt im Zorn seinen Bruder.
Die Geschichte kommt auch im Koran vor. Sie steht unmittelbar vor dem Tötungsverbot, das da lautet: «Einen Menschen zu töten, ohne dass dieser einen Mord oder eine Gewalttat im Lande begangen hat, ist als ob die Menschheit insgesamt getötet würde. Doch einem Menschen das Leben zu erhalten, ist genauso, als ob die ganze Menschheit gerettet wird.» (Sure 5)
Kain und Abel heissen im Islam Qabil und Habil. Trotz einiger Unterschiede zum Bibeltext geht es auch hier um die Eindämmung der menschlichen Neigung zu Hass und Feindschaft. Doch trotz der humanen Leitlinien ihrer heiligen Schriften erweisen sich die abrahamitischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – historisch hinsichtlich ihrer Friedensfähigkeit als bestenfalls ambivalent. Zwar bringen sie immer wieder Einzelpersonen und Bewegungen hervor, die mit ihrem Widerstand gegen das Prinzip Feindschaft Ernst machen. Genauso aber werden die Religionen auf allen Seiten instrumentalisiert, um Feindschaften zu schüren. Und es macht den Anschein, als sei kaum ein Mindset so geeignet für eine solche Instrumentalisierung wie das der Religion.
Ein Verschwinden der Religionen – immerhin einst Programmpunkt von Teilen der Aufklärung und der kommunistischen Weltrevolution – ist nicht zu erwarten. Vielmehr sind sie in vielen Weltregionen sogar zunehmend vital. Wo aber das Religiöse an Einfluss verliert, ist es leicht ersetzbar durch oder kombinierbar mit Identifikationsgrössen wie Nation, Klasse, Kultur, Rasse oder Gender. Was immer die Menschen entzweien kann in Wir und Sie, lässt sich für den Antrieb zu Hass und Feindschaft verwenden.
Offensichtlich sind praktisch alle Gesellschaften für derartige Manipulationen anfällig. Sozialer Stress, wirtschaftliche Not und fehlende Anerkennung bereiten den Boden für kollektive Exzesse der Feindschaft. Es braucht nur einen skrupellosen Akteur, der ein Narrativ vom Typus «die Juden sind unser Unglück» in Umlauf bringt. Statt der Juden können da die Muslime, die Palästinenser, der Westen, die USA, die Weissen oder die Männer stehen. Jedes Kollektiv kann zum Feindbild gemacht werden. Die dazu dienenden Begründungen lassen sich aus Bruchstücken von Historien sowie aus Vorurteilen, Schuldzuweisungen und Verschwörungserzählungen nach Bedarf kompilieren.
Zur Wahrheit über das Phänomen Feindschaft gehört auch, dass Individuen eine Neigung zur Ablehnung von Andersartigen haben. Bleibt diese Disposition zivilisatorisch gezähmt, so wirkt sie sich vielleicht bloss in einem distinktiven Distanzverhalten aus. Wird sie aber entfesselt und in grossem Massstab durch bestätigendes soziales Echo bestärkt, so kann sie gesellschaftliche Erdbeben auslösen und artet schlimmstenfalls aus zum radikalen Zivilisationsbruch.
Zurzeit erschüttern uns gleich mehrere solche Brüche: der Terror-Exzess der Hamas und der ihn feiernde weltweite Beifall, die unterschiedslos rabiaten Vernichtungspläne führender Figuren auf israelischer Seite, der seit zwanzig Monaten tobende verbrecherische Krieg Russlands gegen die Ukraine. Das Entsetzen über diese Eruptionen der Destruktivität sollte aber nicht den Blick dafür verstellen, dass im Prinzip Feindschaft für viele Menschen eine gefährliche Anziehungskraft verborgen ist. Nur durch permanente Anstrengungen zur Zivilisierung und Selbsterziehung lässt sich diese negative psychische Disposition in Schach halten.