Was ist eine Tatsache? Etwas, das herumliegt und darauf wartet, aufgelesen zu werden, wie ein Stein oder ein verlorener Schraubenzieher? Etwas, das der Biologe unter dem Mikroskop oder der Astronom im Teleskop entdeckt? Ist die Tatsache etwas Hergestelltes, ein Arte-Fakt eben, eine Sache der Tat? Ist eine Tatsache eine Tatsache eine Tatsache – wie Gertrude Steins berühmte Gedichtzeile „Rose is a rose is a rose is a rose“ –, etwas, das ohne Interpretation existiert? Oder ist eine Tatsache vielmehr etwas, das einer Interpretation, einem Diskurs entspringt?
Tatsachen und Theorien
„Just the facts, Ma’am!“ mahnte der fiktive Detektiv Joe Friday seine Zeuginnen in der populären US-Fernsehserie „Dragnet“ aus den 1950er Jahren. Im Genderblick Geübten springt natürlich sogleich der „male bias“ ins Auge, welcher die „typisch weibliche“ Anfälligkeit für Phantasie und Tratsch suggeriert.
Aber Joe Fridays Spruch ist daneben auch eminent philosophisch. Er drückt eine fundamentale Annahme der Neuzeit aus: Es gibt ein klare Trennung zwischen Theorien und Tatsachen. Tatsachen bilden den Rohstoff der Realität. Und Theorien interpretieren und erklären sie, „verpacken“ sie sozusagen. Tatsachen zuerst – dann Theorien. Daraus leitet sich auch die weitverbreitete Ansicht ab, Tatsachen seien unumstösslich, allein Theorien würden sich ändern.
Eine kleine Typologie
Also nochmals: Was ist eine Tatsache? Statt einer Definition stellen wir hier aus dem Stegreif eine kleine Typologie auf. Es gibt wissenschaftliche, mathematische, soziale, kulturelle, historische, politische, wirtschaftliche, juristische, alltägliche Tatsachen. Nachfolgend je ein Beispiel.
- Wissenschaftlich: Die Erde dreht sich um die Sonne.
- Mathematisch: Es gibt keine grösste Primzahl.
- Sozial: Ein Arzt handelt gemäss dem Eid, in erster Linie nicht zu schaden.
- Kulturell: Alle Ethnien haben Begräbnisrituale.
- Historisch: Die erste Tour de France fand 1903 statt.
- Politisch: Jeder auf amerikanischem Boden Geborene hat Anrecht auf die Staatsbürgerschaft.
- Wirtschaftlich: Die britische Währungseinheit ist das Pfund.
- Juristisch: Eine rassistische Äusserung ist eine Straftat.
- Alltäglich: Auf dem Mount Everst liegen Schnee und Eis.
Die Typologie ist unvollständig und sie erweckt den Eindruck einer kunterbunten Assemblage. Tatsachen lassen sich nicht sammeln wie Dinge im Naturhistorischen Museum, sie präsentieren sich eher wie ein Markt, auf dem mit Argumenten gehandelt wird. Tatsachen sind jedenfalls nie isolierte Vorkommnisse, sondern stets Elemente eines argumentativen Wettbewerbs, eines agonalen Spiels, wie man es nennen könnte.
Denken wir etwa an einen Gerichtsprozess. Der Gerichtssaal ist sozusagen das Labor, das dem Zweck dient, juristische Tatsachen zu etablieren. Im Gerichtssaal „spielen“ zwei Parteien, Anklage und Verteidigung. In der Regel findet das Spiel ein Ende. Das abschliessende Verdikt statuiert, was der Fall ist, zum Beispiel: X ist des Mordes schuldig. Man spricht ja im angelsächsischen Common Law auch von Fallrecht. „Der Fall ist ...“ oder „Fakt ist..“ bedeutet immer auch einen Beschluss, den man akzeptiert, und der in diesem Sinne nicht mehr umzustossen ist (es gibt freilich Rekursmöglichkeiten).
Normative Macht des Faktischen
Ich habe die Analogie des Gerichtsfalles aufgrund der historischen Plausibilität gewählt, wurde doch der Begriff des Faktums zuerst – im Kontext der Rechtsprechung – auf menschliche Handlungen und erst danach auf Naturprozesse angewendet. Die Historikerin Barbara J. Shapiro zeigt in ihrer ausgezeichneten Studie „A Culture of Fact“, wie der Begriff aus dem juristischen Diskurs des 17. Jahrhunderts allmählich in andere Bereiche der Kultur, zumal in die zeitgenössische Naturwissenschaft, diffundierte.
Die Analogie ist noch aus einem anderen Grund plausibel. Wir sprechen von der „normativen Macht des Faktischen“, von „Sachzwängen“. Diese Macht, die Fakten oder Sachen ausüben können, beruht nicht auf irgendeiner mysteriösen Kraft in ihnen, sondern darauf, dass wir gewisse Regeln und Normen als unumstösslich und „zwingend“ akzeptieren. Ich kann einer Regel folgen wollen. Es handelt sich also beim Zwang der Fakten, paradox formuliert, um die Freiheit, sich zu unterwerfen. Mit Fakten gibt man der Welt sozusagen eine Verfassung.
Ist eine Tatsache eine beschlossene Sache?
Der Beschlusscharakter der Tatsache sorgt nun allerdings für Irritation und Konfusion. Zunächst einmal widerspricht er unserer gängigen Vorstellung, wonach eine Tatsache nicht davon abhängt, was wir über sie beschliessen. Dass eine rassistische Äusserung eine Straftat oder das Pfund die britische Währung ist, haben Menschen irgendeinmal beschlossen, aber sie haben nicht beschlossen, dass die Erde sich um die Sonne dreht oder Ebola durch ein Virus übetragen wird. Sie haben dies entdeckt.
Die Situation ist allerdings, wie meist, komplizierter. An der Textur einer Tatsache wirken Kultur, Gesellschaft und Geschichte mit. Die Rotation der Erde um die Sonne hat eine lange und gewundene Geschichte in der mittelalterlichen Astronomie und Naturphilosophie hinter sich; ebenso wie das Ebolavirus eine rezente Geschichte in Medizin, Mikrobiologie, Epidemiologie und afrikanischer Politik.
Zwar stimmen Wissenschafter nicht nach expliziten formalen Prozeduren ab, welche Tatsachen als glaubwürdig gelten, aber sie erhalten die Zustimmung der Natur ja nicht auf eine direkte Weise, sondern über den Weg des wissenschaftlichen Verhandelns mit andern Wissenschaftern, mit besonderen „Tribunalen“ wie Zeitschriftenpanels und Forschungsagenturen. Dieses spezifische agonale Spiel kennt Regeln, die ziemlich unumstösslich sind, aber auch andere, die sich im Laufe des Forschungsprozesses verändern. Entsprechend verändert sich auch der Charakter einer wissenschaftlichen Tatsache.
Soziale Konstruiertheit
Wenn nun aber Tatsachen nicht einfach den Felsengrund der Realität bilden, an dem wir unsere Meinungen überprüfen, sondern etwas, das unsere Meinungen selber auch mitgestalten – wie können sie dann als neutrale Instanzen in einem agonalen Spiel fungieren? Gibt es nicht ebenso viele Tatsachenarten wie es solche Spiele gibt, von denen wir oben neun aufgelistet haben? Also können Tatsachen einen Meinungsstreit gar nicht entscheiden. Es gibt nicht nur einen Pluralismus der Meinungen, sondern auch einen Pluralismus der Tatsachen.
An diesem Punkt ist etwas dran, aber es ist wichtig zu erkennen, was genau. Bekanntlich haben in den letzten drei Dekaden Wissenschaftssoziologen, -historiker und -philosophen – Vertreter der sogenannten „Science Studies“ – viel gelehrte Sorgfalt darauf verwendet, die Grenze zwischen Tatsachen und Meinungen zu verwischen. Bei beiden handle es sich im Grunde um „soziale Konstruktionen“. Der Begriff wurde in den 1990er Jahren ähnlich inflationär verwendet wie sein heutiger Nachkomme, das „Postfaktische“. Und beide erzeugen fast nur Konfusionen. Ich beschränke mich hier auf eine davon.
Glaubwürdigkeit als Ressource
Sofern wir eine Tatsache als Element eines agonalen Spiels betrachten, ist sie trivialerweise „sozial konstruiert“. Das bedeutet nicht, dass sie dadurch weniger verlässlich oder gar eine Fiktion wäre. Im Gegenteil. Ist ein Haus nicht gerade deshalb robust, weil es gut konstruiert ist? Entscheidend ist „die Güte“ der Konstruiertheit.
Tatsachen stehen und fallen mit der Glaubwürdigkeit jener, die sie etablieren. Die Wissenschaft handelt wie die Finanzwirtschaft mit glaubwürdigen Produkten. Entzieht man diese Glaubwürdigkeit, bleibt kein Produkt übrig: keine stabile Währung bzw. keine robuste Faktenbasis. Tatsachen sind nicht nur ein unentbehrliches erkenntnistheoretisches Gut, sondern ebenso ein soziales.
Wenn wir also sagen, es sei eine wissenschaftliche Tatsache, dass Klimaerwärmung anthropogene Ursachen habe oder kein Zusammenhang zwischen Impfen und Autismus bestehe, dann bedeutet dies, dass wir einer Teilgruppe unserer Gesellschaft, hier den Klimaforschern bzw. Mikrobiologen, mehr vertrauen als Spindoktoren von US-Präsidenten oder Forschern im Dienst von Interessenverbänden.
Multiexpertismus
Und hier kommen wir zum Kernpunkt. Die gesamte Ökologie des Wissens verändert sich. Wir leben nicht nur in einem Zeitalter des Multikulturalismus, sondern auch des Multiexpertismus. Und in dieser neuen Ökologie ist Wissenschaft einfach eine von vielen Wissensformen. Entsprechend „gleichgestellt“ werden wissenschaftliche Tatsachen behandelt. Wikipedia und Google geben jedem das Gefühl, Experte zu sein. Die Leichtigkeit, mit der man sich heute „sein“ Wissen holen kann, verleitet zum Fehlschluss, man könne auch nach eigenem Belieben sein Weltbild auf der Basis „seiner“ Fakten konstruieren.
Die Redeweise von der Konstruiertheit der Tatsache verliert hier definitiv ihren unschuldigen Charakter und trägt zu dem bei, was in der Psychologie als „kognitive Verzerrung“ bekannt ist: Statt seine Meinung im Licht widersprechender Evidenzen zu revidieren, „konstruiert“ man sich nun einfach die zur Meinung passende Evidenz. Nichts hält mehr an zum Fabulieren als der Informationsüberfluss in den neuen Medien.
Für eine politische Erkenntnistheorie
Dieser Überfluss kann zur Überdüngung der Meinungsvielfalt führen. Sie ist gut, aber sie bedeutet nicht „Anything goes“. In gewissen Fragen gilt der Primat der Wissenschaft, ja, muss er durchgesetzt werden, vor allem in Zeiten, da gewisse Politiker ihre anti-wissenschaftliche Haltung wie eine Narrenplakette auf der Brust tragen. Der postfaktische Smog verbreitete sich in den neuen Medien. Denn nichts anderes bedeutet das Wort des Jahres 2016. Oxford Dictionaries definiert es wie folgt: „Umstände, in denen objektive Tatsachen bei der Bildung der öffentlichen Meinung weniger Einfluss haben als Appelle an Emotion und persönliche Meinung.“
Ein Müsterchen gefällig? Der Republikaner James Inhofe hielt im amerikanischen Senat einen Schneeball in der Hand. Dass er existiere, sei ein Argument gegen die Klimaerwärmung. – Hier erhält der Appell „Just the facts, Senator!“ eine dezidiert politische Konnotation. Er wird zum Kampfruf gegen Faktenverdreher, Meinungsfrisierer, Demagogen, Regierungsschranzen oder Dämlacke jeglicher Observanz. Ihre Zahl wächst. Ein postfaktisches Faktum?