Im Oktober des Jahres 1894 entdeckt eine Putzfrau, die in Diensten der französischen Gegenspionage steht, im Papierkorb der deutschen Botschaft ein merkwürdiges Schriftstück. Der Papierstreifen enthält geheime militärische Informationen. Auf Grund eines graphologischen Gutachtens wird der dem französischen Generalstab zugeteilte Hauptmann Dreyfus, ein Jude, der Spionage für Deutschland beschuldigt. Dreyfus wird zu lebenslänglicher Haft auf einer Sträflingsinsel in Französisch-Guayana verurteilt. Im Januar 1895 wird er im Innenhof der Pariser Ecole militaire degradiert und aus der Armee ausgestossen.
Die Antisemiten verhehlen nicht ihre Befriedigung. Im Verwandten- und Freundeskreis ist man jedoch von der Unschuld des Hauptmanns überzeugt und setzt sich für eine Revision des Urteils ein. Im Januar 1898 tritt der damals angesehenste französische Schriftsteller, Emile Zola, in einem flammenden Zeitungsartikel mit dem Titel „J’accuse“ für die Unschuld von Dreyfus ein. Zolas Text hat die grösste Wirkung, und in ganz Frankreich kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen „Dreyfusards“ und „Antidreyfusards“. Eine neue Überprüfung der Untersuchungsakten ergibt, dass das Verfahren gegen Dreyfus unseriös und unredlich geführt worden ist. Ein Jahr später reduziert ein Militärgericht die Strafe von Dreyfus und macht mildernde Umstände geltend. Die „Dreyfusards“ lassen nicht locker. Endlich, im Juli des Jahres 1906, wird ein von den Leiden der Haft gezeichneter Hauptmann Dreyfus rehabilitiert. Er wird zum Bataillonskommandanten befördert und erhält im selben Kasernenhof, in dem er degradiert worden ist, den Orden der Légion d’honneur. Der Zeremonie wohnt, von der Geschichte vergessen, ein Colonel Picquart bei - die einzige Militärperson, die Dreyfus über alle die Jahre beigestanden ist und die jenen Mut bewiesen hat, der auch beim Militär nicht eben häufig ist: Zivilcourage.
Man muss diese Geschichte kennen, um die Bedeutung des Buches zu verstehen, das Julien Benda unter dem Titel La trahison des clercs 1927 veröffentlicht hat. Der Verfasser, 1867 in Paris geboren, stammte aus einer voll assimilierten jüdischen Familie des vermögenden Bürgertums. Er studierte Mathematik und Geschichte und verfolgte die Dreyfus-Affäre als Sympathisant des unschuldigen Hauptmanns mit grösster Aufmerksamkeit. Nach dem Ersten Weltkrieg verfasste er neben dem genannten Buch noch eine Reihe kulturpoltischer Schriften, die Zustimmung oder Widerspruch ernteten, heute aber vergessen sind. Julien Benda erlebte und überlebte noch den Zweiten Weltkrieg und die deutsche Besetzung; er starb 1956.
Der Titel von La Trahison des clercs ist verschieden übersetzt worden. Der Begriff „clerc“ stammt aus dem Mittelalter und bezeichnete damals den kirchlich geschulten Gelehrten, dessen klassische Bildung ihm gestattete, sich zu Gegenwartsfragen ein Urteil zu bilden, das über dem Hader der Parteien stand. Die vollständige deutsche Übersetzung von Bendas Werk erschien erst 1978 und trägt den etwas unscharfen Titel Der Verrat der Intellektuellen.
Die Intellektuellen und die Leidenschaften
Julien Benda unterscheidet drei Leidenschaften, die das politische Leben seiner Zeit bestimmen: die Leidenschaften der Rasse, der Klasse und des Nationalismus. Während in früheren Jahrhunderten, stellt er fest, diese politischen Leidenschaften nur eine beschränkte Wirkung gehabt hätten, erreichten sie nun dank der Presse und modernen Kommunikationsmitteln ein breites Publikum und erhielten eine starke emotionale Resonanz.
Als besonders ausgeprägt und beunruhigend erscheint Benda die nationalistische Leidenschaft, wie sie sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt habe. In früheren Zeiten hätten sich Intellektuelle wie Erasmus, Kant oder Goethe über die Politik und deren machtpolitische Interessen gestellt, oder sie seien, wie Voltaire und Zola, den politischen Leidenschaften mit kritischem Widerspruch begegnet. Dagegen sei es geradezu ein Merkmal der Moderne, dass der geistige Mensch seine Distanz und Unabhängigkeit gegenüber den politischen Leidenschaften aufgebe. Statt als Wahrer der universellen Werte von Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit und Vernunft aufzutreten, sei der Intellektuelle in die Rolle des Parteigängers und Interessenvertreters geschlüpft. Er begehe dadurch Verrat an den überzeitlichen Werten, die zu verkörpern eigentlich seine vornehmste Aufgabe sein sollte. „Der moderne ‚clerc’“, schreibt Benda, „überlässt es nicht länger dem Laien, in die politische Arena hinabzusteigen. Er hat sich eine staatsbürgerliche Gesinnung zugelegt und lässt sie voll durchschlagen; er ist stolz auf diese Gesinnung, und sein Schrifttum strotzt von Verachtung für den, der sich ins künstlerische oder wissenschaftliche Schaffen zurückzieht und an den Leidenschaften der Polis kein Interesse findet“.
Konservative Rechte im Blickfeld
Bendas Kritik richtet sich im besonderen gegen die konservative Rechte, die vehement für die Verurteilung von Dreyfus eingetreten war und sich zur militanten politischen Bewegung der Action française zusammengeschlossen hatte. Die Action française stand dem italienischen Faschismus nahe und vertrat neben nationalistischem auch antisemitisches Gedankengut. Es sind zwei Schriftsteller, die Bendas Kritik besonders herausfordern: Charles Maurras, der den harten Kern der monarchistischen Reaktion um sich scharte, und der glühende Nationalist Maurice Barrès, dessen Romane vor dem Ersten Weltkrieg ein breites Publikum fanden. Beide Schriftsteller stellten ihre literarische Begabung rückhaltlos in den Dienst des politischen Kampfes und waren, nach Benda, bereit, die humanen Werte von Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit und Vernunft in den Dienst einer Partei oder Ideologie zu stellen und auf dem Altar der politischen Leidenschaften zu opfern.
Bendas Kritik beschränkt sich im Übrigen nicht auf die franzö-sischen Verhältnisse. Er wendet sich auch gegen einen Imperialisten wie Rudyard Kipling, einen Nationalisten wie Gabriele d’Annunzio oder gegen den deutschen Historiker Heinrich von Treitschke, dem er zu Recht vorwirft, das Gebot der wissenschaftlichen Objektivität dem Ziel der nationalen Einigung Deutschlands unterworfen zu haben.
Die Rolle der katholischen Rechten
Auch die katholische Kirche, der die meisten Mitglieder der Action française nahe standen, verschont Benda nicht. Auch sie verleugnet, seiner Meinung nach, ihren geistigen und humanen Auftrag, indem sie in die politische Arena herabsteigt. „Es ist ein bemerkenswertes Schauspiel zu sehen“, schreibt Benda, „wie Männer, die jahrhundertelang ihre Mitmenschen zumindest auf theoretischer Ebene dazu angehalten haben, Empfindungen gegenseitiger Verschiedenheit abzubauen und sich statt dessen in der allesvereinenden göttlichen Essenz zu begreifen, jetzt drangehen, diese Mitmenschen – je nach Standort der Kanzel – für ihre ‚Treue zum französischen Volksgeist’, für die ‚eherne Festigkeit ihres Deutschtums’ oder ‚das Feuer ihres italienischen Nationalgefühls’ zu loben. Was dächte wohl jener, der durch den Mund des Apostels verkünden liess: ‚Da ist nicht Grieche, Jude, Skythe, sondern alles und in allen Christus.’“
Auf dem linken Auge nicht blind
Julien Benda befasst sich vor allem mit den Schriftstellern und Gelehrten, die sich zu Propagandisten des Nationalismus machten. Aber seine Kritik richtet sich auch gegen jene Intellektuellen, die sich für die politische Leidenschaft des Klassenkampfes einsetzen. Im Kommunismus sieht er eine Ideologie, die in ihrer doktrinären Erklärung des Geschichtsverlaufs den humanen Prinzipien der Freiheit und Wahrheit zuwiderhandelt und den kritischen Geist knechtet. Im besonderen wendet sich Benda gegen den „Linksfaschisten“ Georges Sorel, der in seinen 1906 erschienenen Reflexions sur la violence marxistisches und rassistisch-nationalistisches Ideengut zu einem äusserst explosiven Gemisch politischen Denkens vereinigte.
Julien Benda wirft den Intellektuellen nicht nur vor, sich in den Dienst politischer Leidenschaften zu stellen und diese zu schüren. Er tadelt auch die Neigung, den politischen Kampf, losgelöst von moralischen und rechtlichen Überlegungen, als Wert an sich zu bezeichnen. Hier richtet sich seine Kritik im besonderen gegen Nietzsche, dessen Werk einem Kult der Heldenverehrung und der Vergötzung von Härte und Rücksichtslosigkeit Vorschub geleistet habe. „Und in der Tat“, schreibt Benda, „der moderne ‚clerc’ lehrt die Menschen, der Krieg besitze moralischen Wert an sich und müsse ohne Frage nach dem Nutzen geführt werden.“
Die Bilanz, die Benda am Schluss seines Buches zieht, ist vor-pessimistisch. Er verkennt nicht echte Fortschritte, die bei der Zivilisierung der menschlichen Gesellschaft, etwa in der Medizin und im Sozialwesen, gemacht worden sind. Zugleich ist er davon überzeugt, dass eine Menschheit, deren Intellektuelle ihre humanen Ideale verleugneten, keine Zukunft hat. „Eine solche Menschheit“, schreibt Benda zwölf Jahre vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, „treibt dem totalsten und perfektioniertesten Krieg entgegen, den die Welt je erlebt hat, gleichviel, ob er nun unter Nationen oder Klassen stattfinden wird.“ Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam es zu einer Neuauflage von Bendas Buch, und der Autor hielt in einem ausführlichen Vorwort an seiner Kritik fest. Diese war durch die europäische Katastrophe eher bestätigt als widerlegt worden; auch verschärfte der Autor nun, angesichts des drohenden Kalten Krieges, seine Kritik am Kommunismus.
Es ist Julien Bendas Verdienst, frühzeitig erkannt zu haben, welche Bedrohung von der reaktionären Rechten und der marxistischen Linken im 20. Jahrhundert für die Demokratie und die politische Ethik überhaupt ausging. Auch ist an der Lauterkeit seiner Gesinnung nicht zu zweifeln.
Am Ende bleiben auch Zweifel
Dennoch macht der Verrat der Intellektuellen einen zwiespältigen Eindruck. Einerseits schloss der Autor das politische Handeln des Intellektuellen keineswegs aus, solange es den ideellen Werten von Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit und Vernunft verpflichtet blieb; gerade deshalb bewunderte er Voltaire und Zola. Zugleich entsteht bei der Lektüre des Buches der Eindruck, Benda rede dem Rückzug des Politikers in den Elfenbeinturm das Wort; und dies ist ihm denn auch von den politisch engagierten Schriftstellern der nächsten Generation wie Malraux und Sartre immer wieder vorgeworfen worden.
Und wie steht es heute in der Schweiz? Selten haben die politischen Leidenschaften so gewütet wie in unserer Zeit, und am Stoff für eine literarische Bearbeitung fehlt es wahrlich nicht. Aber unsere Schriftsteller, so scheint es wenigstens, schweigen und erkunden ihre privaten Befindlichkeiten. Da möchte man sich manchmal doch wünschen, dass sich einer von ihnen erhöbe und uns mit einem kräftigen „J’accuse“ in Erinnerung riefe, dass nur eine Politik, die Julien Bendas Idealen verpflichtet ist, wirklich glaubwürdig bleibt.
Urs Bitterli