Breiter angelegt als der Bildungsroman, von dem wir in der Schweiz das schöne Beispiel des „Grünen Heinrich“ haben, setzten sich die Familienromane das Ziel, die Geschichte einer Familie oder einer Sippe über den Zeitraum von mehreren Generationen hinweg zu verfolgen.
Nicht der individuelle Entwicklungsgang, sondern der gesellschaftliche Wandel, wie er sich in den Individuen widerspiegelt, trat in den Vordergrund. Familienromane waren meist umfangreiche Werke, die in mehreren Bänden nach und nach erschienen. Sie richteten sich an ein Publikum, das Zeit zum Lesen oder zum Vorlesen hatte: an das Bürgertum.
Den wichtigsten Familienroman deutscher Sprache verfasste ein junger Mensch von 25 Jahren aus gutbürgerlichen Verhältnissen und mit ungesicherter beruflicher Zukunft: Thomas Mann. In den „Buddenbrooks“ schilderte er Blüte und Niedergang eines Lübecker Kaufmannsgeschlechts während vier Jahrzehnten, von 1835 bis 1877.
Die Zeit Königin Viktorias und Eduard VII.
Besonderer Beliebtheit scheint sich der Familienroman, den man seiner Länge wegen als „roman fleuve“ bezeichnet hat, in Frankreich erfreut zu haben. Émile Zola schuf gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen ganzen Romanzyklus von nicht weniger als zwanzig Bänden, „Les Rougon-Macquart“, die „Natur- und Sozialgeschichte einer Familie des Second Empire“. Noch immer lesenswert sind „La chronique des Pasquier“ von Georges Duhamel und „Les Thibault“ von Roger Martin du Gard. Beide Romane spielen im Milieu des Pariser Bürgertums; der erste erfasst den Zeitraum von 1889 bis 1931, und der zweite die Zeit unmittelbar vor und während des Ersten Weltkriegs.
Der bekannteste englische Familienroman aus der Zeit der Wende zum 20. Jahrhundert ist John Galsworthys „Forsyte Saga“. Das Werk erfasst den Zeitraum von 1886 bis zum Ersten Weltkrieg, also die Regierungszeit Königin Viktorias und Eduards VII.
England war damals die unbestrittene wirtschaftliche Führungsmacht der Erde. Das Land besass die grösste Flotte und hatte sich seit dem 17. Jahrhundert in Asien und Afrika ein riesiges Kolonialreich geschaffen.
Splendid isolation
Neben dem „Empire“ war es die sogenannte „Industrielle Revolution“, die entscheidend zur wirtschaftlichen Vormachtstellung des Landes beitrug. Das Land verfügte mit seinen grossen Kohle- und Erzvorkommen über die wichtigste Voraussetzung zur Stahlerzeugung, in der England führend wurde. Die politischen Verhältnisse trugen zum wirtschaftlichen Aufschwung bei. England war zwar keine Demokratie, und das allgemeine Wahlrecht wurde erst 1918 eingeführt. Aber Bürgerfreiheit und Selbstverwaltung hatten hier eine geschichtliche Tradition, die den andern europäischen Grossmächten fehlte. Der Demokratisierungsprozess schritt im England des 19. Jahrhunderts denn auch ruhiger voran als in den meisten andern europäischen Ländern.
In aussenpolitischer Hinsicht war die Machtstellung Englands nie gefährdet. Man war auf niemanden angewiesen und erfreute sich einer „splendid isolation“, die den Neid anderer Grossmächte erweckte. In Europa verfolgte die englische Diplomatie die traditionelle „Politik des Gleichgewichts“. Man achtete darauf, dass keine der kontinentalen Mächte eine Vormachtstellung erreichte, die England gefährlich werden konnte. Bis zum Ersten Weltkrieg war diese Aussenpolitik erfolgreich.
Soziale Unterschiede
Die Einkünfte, die Kolonialreich und Industrialisierung abwarfen, waren freilich sehr einseitig und ungerecht verteilt. In wenigen andern europäischen Ländern traten die sozialen Unterschiede so deutlich zutage wie in England.
Am meisten profitierte die schmale Schicht der Aristokratie, welche ihre Einkünfte aus dem Grundbesitz in den Überseehandel investierte. Hinzu traten die Kaufmannsfamilien von London und den anderen grossen Hafenstädten.
Im Laufe der Zeit bildete sich dort ein Besitzbürgertum heraus, das seine Lebensform nach derjenigen des Adels ausrichtete und sich gegenüber dem Kleinbürgertum der Handwerker und Kleinhändler abgrenzte. Die Arbeiterschaft, die sich als Folge der Industrialisierung rapide vermehrte, wurde erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts politisch aktiv und trat nicht in den Gesichtskreis des Besitzbürgertums.
Sittengemälde des Besitzbürgertums
In dieser Welt spielt John Galsworthys „Forsyte Saga“. Die Haupthandlung des Romans sei hier in aller Kürze nacherzählt. Der Rechtsanwalt Soames Forsyte heiratet die bildschöne Professorentochter Irene Heron, die er liebt und als seinen Besitz betrachtet. Doch Irene hat Soames nie geliebt und verlässt ihn. Während vielen Jahren versucht Soames mit allen Mitteln, seine angetraute Frau zurückzugewinnen, doch sie entzieht sich ihm und heiratet schliesslich, eine familiäre Peinlichkeit sondergleichen, Soames’ Cousin. Soames nimmt sich die Französin Annette, die Kassiererin eines Restaurants in Soho, zur Frau. Er liebt sie zwar nicht, erhofft sich von ihr aber einen Sohn. Sie bringt die Tochter Fleur zur Welt, verlässt aber Soames.
Diese Handlung wird eingebettet in einen dichten und verwinkelten Mikrokosmos von Verwandten und Bekannten, die den Hintergrund der Szene beleben. Ihre Charaktere und Lebensschicksale werden treffsicher skizziert, und es entsteht ein vielstimmiges und glaubwürdiges Sittengemälde des Besitzbürgertums im spätviktorianischen England.
Loyalität
Der Roman beginnt mit einem Familienfest in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Gastgeber ist der alte Jolyon Forsyte, der es im Teehandel zu Reichtum gebracht hat. Das Fest gibt dem Autor Gelegenheit, die wichtigsten Mitglieder der Familie vorzustellen. Es sind dies Geschäftsleute, Börsen- und Immobilienmakler, Anwälte, Persönlichkeiten sehr unterschiedlichen Charakters, die aber alle vermögend und sich ihrer gesellschaftlichen Bedeutung bewusst sind.
„Die Forsytes“, schreibt Galsworthy, „hatten es alle soweit gebracht, dass sie nun als ‚gutsituierte Leute‘, wie man es nennt, eine gewisse Stellung einnahmen.“ Die Familienmitglieder empfinden wenig Sympathie füreinander, belauern und bespitzeln sich gegenseitig und lieben den Klatsch. Aber ihre Loyalität zur Familie steht ausser Frage, und sie tun alles, um zu vermeiden, dass ihr Vermögen schwindet und ihr guter Ruf Schaden nimmt.
Das Hauptbestreben der Forsytes ist darauf gerichtet, ihren Besitz zu vergrössern und ihr Kapital gewinnbringend einzusetzen. In diesem Bestreben fühlen sie sich im Einklang mit einer prosperierenden Nation. Auf welche Weise dieser Profit erwirtschaftet wird und wie viele indische Zwangsarbeiter in den Minen umkommen, kümmert die Forsytes wenig, solange dies zum eigenen und zum nationalen Nutzen geschieht. „Ein Forsyte weiss“, schreibt der Autor, „was sicher ist, und sein Festhalten am Besitz – ganz gleich, ob es sich um Frauen, Häuser, Geld oder Ruf handelt – ist seine Zunftmarke.“
Häuser am Hyde Park oder in Mayfair
Im Lebensstil, den die Forsytes pflegen, widerspiegelt sich die Wohlhabenheit des gehobenen Bürgertums. Körperliche Arbeit ist verpönt. Man trifft sich im Büro in der City, im Club, beim Lunch oder Dinner zu geschäftlichen Gesprächen. Man besitzt Häuser am Hyde Park und in Mayfair, fährt aus in komfortabler Equipage, geht ins Theater und in die Oper, macht Bildungsreisen und Urlaub in Spanien und Italien. Auf die Kleidung wird grösste Sorgfalt verwendet, um der Erscheinung ein Höchstmass an Respektabilität zu verschaffen. Wer gegen die herrschende Mode verstösst, riskiert, zum Aussenseiter zu werden.
Man speist an erlesener Tafel, trinkt Champagner und Portwein, ertüchtigt sich beim Reiten, beim Cricket oder Tennis. Man sammelt Gemälde, Porzellan, Nippsachen, nicht immer mit Kennerschaft, aber im Bewusstsein des Marktwerts. „Wie jeder Forsyte weiss“, schreibt Galsworthy, „ist Schund, der sich verkauft, durchaus kein Schund – keineswegs.“
Angst vor Skandalen
Der Widerspruch zwischen Sein und Schein geht wie ein Riss durch diese spätviktorianische Gesellschaft. Ihre Mitglieder empfinden zwar Gefühle und Leidenschaften, aber sie zeigen diese nicht. Man verstösst zwar gegen die geltende Moral, aber der Verstoss darf keinesfalls bekannt werden, und die Angst vor dem Skandal ist allgegenwärtig.
Man geht in die Gottesdienste der anglikanischen Kirche, ist aber nicht gläubig. Man liest die „Times“ und ist konservativ, zeigt sich aber an Politik nur insofern interessiert, als sie den Status quo sichert. Der soziale Wandel wird von diesem Bürgertum kaum wahrgenommen. Zwar zeigen sich gegen die Jahrhundertwende Anzeichen, dass die zwei Hauptsäulen des britischen Reichtums, „Empire“ und industrielle Überlegenheit, nicht unerschütterlich sind.
Der Krieg gegen die Buren in Südafrika (1899-1902) macht deutlich, dass der Unterhalt des „Empires“ dem Mutterland schwerere Opfer abverlangt als vorhergesehen. Auch hat die Industrialisierung ein riesiges Proletariat erzeugt, was innenpolitische und soziale Reformen unumgänglich macht. Von allem dem merken die Forsytes wenig. Als Soames eines Abends im Londoner West End auf eine jubelnde Volksmenge trifft, die einen Erfolg im Burenkrieg feiert, ist er entsetzt.
"Demokratie - sie stank, war scheusslich"
„Er war verblüfft“, schreibt Galsworthy, „erschöpft, beleidigt. Dieser Volksstrom kam von überall her, als hätten sich Schleusen geöffnet und Wasser fliessen lassen, von deren Existenz er wohl gehört, aber an die er nie geglaubt hatte. Dies also war die Bevölkerung, die unübersehbar lebendige Negation von Lebensart und Forsyteismus. Dies also war – Demokratie! Sie stank, gellte, war scheusslich!“
Der Verfasser der „Forsyte Saga“ kannte sich im spätvikorianischen Besitzbürgertum aus, denn er gehörte selbst dazu. Als Sohn eines angesehenen Grossgrundbesitzers und Geschäftsmanns studierte Galsworthy Jurisprudenz und wurde Anwalt, übte aber diesen Beruf nicht aus. In den Geschäften seines Vaters und um sich kulturell zu bilden, unternahm er weite Reisen. Die „Forsyte Saga“ wurde zwischen 1906 und 1921 niedergeschrieben. Im Jahre 1932, ein Jahr vor seinem Tod, erhielt Galsworthy, der auch als Theaterautor erfolgreich war, den Nobelpreis.
Materialismus, Snobismus, Ahnungslosigkeit
Die „Forsyte Saga“ ist ein kritisches, aber auch zutiefst menschliches Buch. Der Autor erkennt die Schwächen der bürgerlichen Oberschicht, ihren Materialismus, ihren Snobismus, und ihre politische Ahnungslosigkeit; zugleich nimmt er am Leiden und Versagen seiner Figuren in einer Weise Anteil, wie dies in der modernen Belletristik selten geworden ist.
Seinen grössten Erfolg hatte das Werk 1967 in einer Verfilmung durch das britische Fernsehen, die in den USA und in der Sowjetunion sowie in vierzig weiteren Ländern gezeigt wurde; man schätzt dass sich eine rekordverdächtige Zahl von über hundert Millionen Menschen den Film angesehen hat. Auf heutige Leser, falls es sie noch gibt, mag das Werk altväterisch und etwas verstaubt wirken. Aber die Personenbeschreibungen, die Dialoge und die mit der Subtilität englischer Aquarellkunst hingetupften Landschaftsbeschreibungen verraten noch immer die Hand des Meisters.