Dem holländischen Historiker Johan Huizinga verdanken wir das vielleicht schönste Buch, welches die europäische Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Es trägt den Titel „Herbst des Mittelalters“ und beschäftigt sich mit den Lebens- und Denkformen im Burgund des 15. Jahrhunderts.
Mentalitätsgeschichte
Die Kultur des burgundischen Adels erlebte damals eine Hochblüte von seltener Ausstrahlungskraft, und es bedurfte der rohen Gewalt der Eidgenossen, um ihren Niedergang einzuleiten. Johan Huizinga war musisch vielseitig begabt und verstand es, seine Einsichten stilistisch wirkungsvoll zu präsentieren. Auch ging er methodisch in origineller Weise vor. Fünfzig Jahre bevor französische Historiker von Mentalitätsgeschichte sprachen, suchte er auf Grund eingehenden Quellenstudiums zu erfassen, welche Vorstellungen die gebildete Elite des Spätmittelalters mit wichtigen Lebensthemen wie der Liebe, der Religion und dem Tod verband.
Der „Herbst des Mittelalters“ erschien im Jahre 1919, zur selben Zeit wie Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“. In beiden Werken geht es um das Thema des kulturellen Niedergangs, und beide Bücher zeigen, dass ein solches Thema nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs gleichsam in der Luft lag. Doch hier hört die Übereinstimmung bereits auf. Oswald Spengler schloss vom Allgemeinen auf das Besondere und glaubte, im Prinzip der Morphologie ein geschichtsphilosophisches Grundmuster entdeckt zu haben, dass sich auf die verschiedensten Weltkulturen anwenden liess. Johan Huizinga dagegen ging vom Einzelfall der burgundischen Kultur aus, in deren schriftlichen Zeugnissen er Merkmale eines kulturellen Niedergangs wahrnahm. Aus seinen Erkenntnissen eine Geschichtsphilosophie zu machen, lag ihm fern.
Stilles Zwiegespräch nit Jacob Burckhard
Noch ein anderer Vergleich, nämlich derjenige zwischen Jacob Burckhardts „Kultur der Renaissance in Italien“ und Johan Huizingas „Herbst des Mittelalters“ drängt sich auf. Burckhardt, den Huizinga sehr bewunderte, war musisch ähnlich begabt, und auch er verstand es, seine Erkenntnisse anschaulich zu machen. Der Schweizer stellte ähnliche Fragen an die Geschichte wie der Holländer, befasste sich aber nicht mit dem Niedergang, sondern mit dem Aufstieg einer Kultur. Während Huizinga bei der Kultur des Burgunds auf Anzeichen der Ermattung und des Verfalls achtete, konzentrierte sich Burckhardt in seiner „Kultur der Renaissance in Italien“ auf den Ausdruck kultureller Vitalität, und er schilderte die Renaissance umso glanzvoller, als er vom Niedergang seiner eigenen Epoche überzeugt war.
Johan Huizinga wurde 1872 in Groningen geboren; sein Vater lehrte an der dortigen Universität Naturwissenschaften. Der Sohn zeigte früh ein ausgeprägtes Interesse für Sprachwissenschaft und Geschichte, studierte in Groningen und Leipzig und schloss mit einer Dissertation zur altindischen Literaturgeschichte ab. Im Jahre 1903 habilitierte sich Huizinga für das Fach der altindischen Kulturgeschichte, wandte sich dann aber ganz der europäischen Geschichte zu. An der Universität Groningen lehrte er während zehn Jahren allgemeine und niederländische Geschichte und wurde dann an die Universität Leiden, die bedeutendste Hochschule des Landes, berufen. Hier schrieb er während des Ersten Weltkriegs das Buch, das ihn weltberühmt machte.
Aufstieg des Faschismus
Daneben verfasste er während der Zwischenkriegszeit mehrere weitere Werke, von denen einige noch immer im Handel erhältlich sind. Seine Erasmus-Biografie sollte man heutigen Europa Politikern als Pflichtlektüre vorschreiben; es könnte dazu beitragen, das Projekt EU mit kultureller Substanz zu erfüllen.
Doch Johan Huizinga war immer auch zeitgeschichtlich interessiert. Der Erste Weltkrieg hatte die neutralen Niederlande zwar verschont, doch man hatte mit Entsetzen den brutalen deutschen Einmarsch ins neutrale Belgien verfolgt. Die Mehrheit der Bevölkerung, auch Huizinga, stellte sich gesinnungsmässig auf die Seite der Westmächte. Nach Kriegsende verfolgte der Historiker mit Besorgnis den Aufstieg des Faschismus und Nationalsozialismus in Italien, Spanien und Deutschland.
Öffentliche Bücherverbrennung
Überall in Europa hatte Huizinga prominente Freunde, die seine Besorgnis teilten: die Historiker Henri Pirenne und Friedrich Meinecke in Belgien und Deutschland, den Philosophen Ortega y Gasset in Spanien. In mehreren kulturkritischen Schriften suchte er dem Übel auf die Spur zu kommen, das von der Errungenschaft der liberalen Demokratie in die Abgründe der nationalistischen Diktaturen führte. Die wichtigste und verbreitetste dieser Schriften erschien 1935 unter dem Titel: „In de schadowen van morgen“ und wurde vom Basler Geschichtsprofessor Werner Kaegi sogleich ins Deutsche übertragen. Die Übersetzung konnte unter dem Titel „Im Schatten von Morgen“ noch im selben Jahr im Gotthelf-Verlag in Bern und Leipzig herauskommen. Dann aber tauchte der Name Johan Huizinga auf den Listen des „unerwünschten und schädlichen Schrifttums“ der Nationalsozialisten auf, und seine Bücher wurden öffentlich verbrannt.
„Im Schatten von Morgen“ beginnt mit einer Zeitdiagnose. „Wir leben in einer besessenen Welt“, schreibt Huizinga. „Und wir wissen es. Es käme für niemanden unerwartet, wenn der Wahnsinn eines Tages plötzlich ausbräche in einer Raserei, aus der diese arme europäische Menschheit zurücksänke, stumpf und irr, indes die Motoren noch surren und die Fahnen noch flattern, der Geist aber ist entwichen“. Dann gibt der Historiker eine Definition seines Kulturbegriffs. „Kultur als gerichtete Haltung einer Gemeinschaft liegt vor“, schreibt er, „wenn die Beherrschung von Natur auf materiellem, moralischem und geistigem Gebiet einen Zustand aufrecht erhält, der höher und besser ist, als es die gegebenen natürlichen Verhältnisse mit sich bringen.“ Der Autor stellt fest, dass die „Beherrschung der Natur“ auf den Gebieten der Wissenschaften und der Technik in rapidem Fortschritt begriffen sei. Zugleich weist er auf die Ambivalenz des Fortschrittsbegriffs hin. Es sei offensichtlich, schreibt er, dass die geistigen und ethischen Kräfte, welche den Fortschritt verantwortungsbewusst lenken sollten, dieser Entwicklung hinterher hinkten. Die Dynamik werde zum Wert an sich, der Wille zur Verherrlichung des Seins und des Lebens sei wichtiger geworden, als der Wille zur Wahrheitsfindung und kritischen Selbsterkenntnis.
Gegen die Lebensphilosophie
Hier wendet sich Huizinga gegen die sogenannte Lebensphilosophie“, wie sie im damaligen Deutschland vom Juristen Carl Schmitt und dem Soziologen Hans Freyer wirkungsvoll vertreten wurde. Diese beiden Denker und ihre Gefolgsleute sympathisierten mit nationalsozialistischen und faschistischen Ideologen, die im Streben nach Macht und Vormacht nicht nur ein Mittel der Politik, sondern die eigentliche Essenz des Politischen sahen. Nicht im geistigen Austausch und in der Suche nach dem Konsens glaubten die Lebensphilosophen den Sinn des Lebens sehen zu müssen, sondern im Kampf, in der Intensität der Tat, im Mythos. „Die Kultur, die heute den Ton angeben will“, schreibt Huizinga, „sieht nicht allein von der Vernunft ab, sondern auch vom Intelligiblen, und dies zugunsten des Unvernünftigen, der Triebe und Instinkte.“ Zudem führe die „Lebensphilosophie“, dazu, die Interessen des Staates absolut zu setzen, den Staat aus der Bindung an sittliche Normen herauszulösen und die Verantwortung an charismatische Führergestalten abzutreten. Am Beispiel der Rassenlehre macht der Historiker deutlich, wie das Fach der wissenschaftlichen Anthropologie von irrationalen und romantischen Vorstellungen unterwandert worden sei, die darauf abzielten, aus der Reinheit des Blutes eine Bürgertugend zu machen.
Der Schluss von Huizingas Buch gibt geringen Anlass zur Zuversicht. Der Historiker weiss zwar, dass Prognosen immer Elemente des Unvorhersehbaren und Zufälligen enthalten; dennoch ist er davon überzeugt, dass sich die europäische Kultur in einem Prozess der zunehmenden „Barbarisierung“ befindet. Auch die modernen Leistungen auf wissenschaftlichem und technischem Gebiet, stellt er fest, könnten den Menschen vor dieser Barbarisierung nicht bewahren. Das Radio, der Film und die Werbung trügen sogar dazu bei, den fatalen Prozess zu beschleunigen und die kritische Urteilskraft des Individuums zu schwächen. Auf die politische Entwicklung in Deutschland anspielend, schreibt Huizinga: „Barbarisierung tritt ein, wenn in einer alten Kultur, die sich im Lauf von vielen Jahrhunderten zu Klarheit und Sauberkeit von Denken und Begriff erhoben hat, das Magische und Phantastische in einem Qualm von heissen Trieben aufsteigt und den Begriff verdunkelt. Wenn der Mythos den Logos verdrängt!“
Kraft zur Erneuerung
Mit Spengler verbindet Huizinga, dass er nicht politisch, als Verteidiger der Demokratie, sondern philosophisch, als Moralist, argumentiert. Doch wehrt er sich mit Entschiedenheit gegen den Fatalismus von Spenglers Untergangsphilosophie. Die abendländische Kultur, stellt er fest, habe schon im Übergang von der Antike zum Feudalismus und vom Feudalismus zum Kapitalismus ihre Kraft zur inneren Erneuerung bewiesen, und Ähnliches sei noch immer möglich. Allerdings sei nun eine tiefgreifende „inwendige Läuterung“, eine Katharsis, vonnöten. Diese könne nicht durch einen Staat, ein Volk, eine Rasse oder eine Klasse verordnet und durchgesetzt werden, sie müsse vielmehr aus der Besinnung des Individuums hervorgehen. Wie er sich diese Besinnung vorstellt, vermag Huizinga nicht näher auszuführen. Und der pathetische Appell an die Jugend, mit dem der Historiker sein Buch beschliesst, tönt wie der fromme Wunsch eines alten Mannes, der seine Hoffnung längst verloren hat. „Diesem jungen Geschlecht“ schreibt er, „stellt sich die Aufgabe, diese Welt von neuem zu beherrschen, so, wie sie beherrscht sein will, sie nicht untergehen zu lassen in ihrem Übermut und ihrer Betörung, sie wieder zu durchdringen mit Geist.“
Im Mai 1940 fielen die Heere Hitler-Deutschlands in den Niederlanden ein. Das Land wurde besetzt, die Universitäten wurden gleichgeschaltet. Auch in Holland gab es Mitläufer und Kollaborateure. Johan Huizinga, Bürger einer alten Kaufmannsrepublik und Nachfahr von mennonitischen Täufern, verbarg und verleugnete seine Gesinnung nicht. In einem Brief schrieb er damals: „Wenn es denn nun darauf ankommen soll, unsere Universität und die Freiheit der Wissenschaft in den Niederlanden zu verteidigen, dann müssen wir dafür alles opfern, unser Gut, unsere Freiheit und selbst unser Leben.“ Im Jahre 1942 wurde Huizinga verhaftet und als Geisel in ein Lager überführt. Nach dreimonatiger Haft wurde er entlassen. Die Rückkehr nach Leiden wurde ihm verwehrt, und er liess sich in der Nähe von Arnhem nieder. Das Ende des Krieges erlebte er nicht mehr. Er verstarb am 1. Februar 1945.