Nie zuvor in der Geschichte Europas sind so viele Menschen zu Opfern gewalttätiger Herrschaftssysteme und kriegerischer Konflikte geworden wie im 20. Jahrhundert. Nie zuvor hatten so viele Menschen das Bedürfnis, ihr Leben zu erzählen. Viele Autoren solcher Lebensberichte waren Opfer, die in der Emigration überlebten. Sie schrieben, um Zeugnis eines aussergewöhnlichen Schicksals abzulegen und ihre traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten.
Doch nicht nur die Opfer, auch die Täter und die Mitläufer fühlten sich gedrängt, ihre Autobiografien niederzuschreiben. Ihnen ging es darum, ihr Verhalten zu rechtfertigen. Sie verleugneten ihre Beteiligung an den Verbrechen der Diktatoren oder gaben vor, nichts davon gewusst zu haben. Auch beriefen sie sich zu ihrer Entlastung auf den Befehlsnotstand oder erklärten, bloss mitgewirkt zu haben, «um Schlimmeres zu verhüten».
Die Kindheits- und Jugenderinnerungen, die der Historiker Joachim Fest, zwischen 1973 und 1993 Mitherausgeber und Feuilletonchef der «Frankfurter Allgemeinen», verfasst hat, sind keiner dieser beiden Kategorien zuzuordnen. Der Verfasser verzichtet ausdrücklich darauf, sein Buch als «Autobiografie» zu bezeichnen; es gehe ihm bloss darum, schreibt er, Ereignisse seines Lebens, die in Vergessenheit geraten seien, in Erinnerung zu rufen und Gegenwärtiges, das im Begriff sei, ins Vergessen zu entschwinden, «in die Erinnerung zu retten».
Joachim Fest will nicht die Geschichte einer Epoche schreiben, sondern deren «Widerspiegelung in seiner familiären Umgebung» festhalten. Er stützt sich dabei auf sein Gedächtnis, auf schriftliche Quellen und auf die Aussagen von Zeitzeugen. Dabei gibt er sich davon Rechenschaft, dass das Gedächtnis nicht immer zuverlässige Auskünfte liefern kann. «Die Vergangenheit», schreibt er im Vorwort, «ist stets ein imaginäres Museum. Man zeichnet im Nachhinein nicht etwa auf, was man erlebt hat, sondern was die Vergangenheit, die wachsende perspektivische Verschiebung sowie der eigene Formwille im Chaos halbverschütteter Erlebnisse daraus gemacht haben.»
Selbstbefragung nach der NS-Zeit
Die «Erinnerungen» erschienen im Jahre 2006, kurz nach dem Tod des Historikers. Das Buch schloss ein beeindruckendes Lebenswerk ab, das 1973 mit dem Paukenschlag der monumentalen Hitler-Biografie begonnen hatte und zahlreiche Bücher, Essays, Streitschriften und Kommentare zur politischen und kulturellen Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert umfasst. Die «Erinnerungen» sind Fests persönlichstes Werk, ein Buch der nüchternen Selbstergründung, das auf eine Frage zu antworten sucht, die sich nach 1945 Millionen Deutsche stellen mussten: «Wie habe ich mich damals, unter Hitler, verhalten?» Und die vom Autor mit trotzigem Stolz formulierte Feststellung des Obertitels «Ich nicht» lässt bereits die Antwort erahnen: «Anders als die meisten andern.»
Joachim Fest wurde 1926 als Sohn eines Mittelschulrektors und Politikers in Berlin-Karlshorst geboren und wuchs in gutbürgerlichen Verhältnissen auf. Sein Vater war Mitglied der katholischen Zentrumspartei und gehörte einer militanten Organisation an, die dem aufkommenden Nationalsozialismus mit Entschiedenheit entgegentrat. Während die Mutter um der Kinder willen den Nazis mit einer gewissen Nachgiebigkeit begegnete, blieb der Vater kompromisslos. Nach Hitlers Machtergreifung wurde er wegen «öffentlich herabsetzender Reden gegen den Führer» beruflich freigestellt und wenig später aus dem Schuldienst entlassen. In den folgenden Jahren wurde er von der Gestapo überwacht. Der kinderreichen Familie standen schwierige Jahre bevor.
Im Bekanntenkreis und unter den Nachbarn im Wohnquartier gab es, wie der Autor berichtet, zu Beginn der dreissiger Jahre nur wenige erklärte Nationalsozialisten. Der Übergang zur Diktatur und die gleich nach Hitlers Machtantritt einsetzenden Verstösse gegen Recht und Gesetz wurden mit erstaunlicher Indifferenz hingenommen. Erst nach den innen- und aussenpolitischen Erfolgen des Regimes, nach dem wirtschaftlichen Aufschwung und dem «Anschluss» Österreichs, stieg die Zahl der Überläufer an. Es verbreitete sich jenes Klima der Unsicherheit und des gegenseitigen Misstrauens, wie es für Diktaturen typisch ist. Überall gab es Denunzianten, und der Vater musste seine Kinder dazu ermahnen, über politische Gespräche, wie sie in der Familie geführt wurden, gegen aussen Stillschweigen zu bewahren.
Das Auseinanderfallen der bürgerlichen Welt
Joachim Fests «Erinnerungen» geben einen eindrücklichen Bericht über die Verführbarkeit des Menschen. Sie zeigen, wie «ordentliche Bürger», die durch das blosse Bekenntnis zur Ideologie einer Einheitspartei Zugang zur Macht erhalten, bereit sind, diese Macht skrupellos einzusetzen. «Es war beängstigend zu bemerken», schreibt der Verfasser, «wie das so lange stabile soziale Gefüge Karlshorsts nach kurzem Innehalten auseinanderfiel. Unversehens ergaben sich Feindschaften, die zwar durchwegs ideologische Begründungen erhielten, in Wirklichkeit aber nichts als dem Neid, der Bosheit sowie der natürlichen Gemeinheit Auslauf verschafften.»
Der Sohn berichtet, wie sein Vater zum Mittelpunkt eines «Geheimbundes» wurde, dessen Mitglieder, nach Herkommen und Charakter ganz verschieden, in ihrer Gegnerschaft zum Regime übereinstimmten. Man traf sich regelmässig, tauschte Informationen aus, hörte heimlich die «Feindsender» BBC und Radio Beromünster. Fest ist ein Meister in der Darstellung von Persönlichkeiten, und es gelingen ihm eine Reihe von Porträts aus dem Freundeskreis seiner Familie, die sich dem Leser einprägen.
Joachim Fests Kindheit verlief kaum anders als diejenige eines Schweizers aus ähnlichen bürgerlichen Verhältnissen zur damaligen Zeit. Die elterliche Erziehung achtete mit milder Strenge auf Anstand, Ehrlichkeit und Fleiss; man unternahm nach dem sonntäglichen Kirchgang Ausflüge in die nähere Umgebung; man verbrachte die Sommerferien auf dem Land. Und man las dieselben Bücher: den Robinson von Daniel Defoe, die Bildgeschichten von Wilhelm Busch, die Romane von Karl May.
Gymnasiast, Flakhelfer, Kriegsgefangener
Im Jahre 1937 trat Joachim Fest in das Leibniz-Gymnasium zu Berlin ein. Er war ein begabter Schüler und erinnert sich in seinem Lebensbericht an «glückliche Jahre». Allerdings scheint er die väterlichen Ermahnungen zur Vorsicht nicht immer befolgt zu haben. Dass der junge Mann eine Hitler-Karikatur ins Schülerpult ritzte, um seinen politischen Widerstand zu dokumentieren, hätte leicht fatale Folgen haben können. Es blieb jedoch bei der Entlassung aus dem Gymnasium und der Einweisung in ein katholisches Internat in Freiburg im Breisgau. In Freiburg konnte er das Friedrich-Gymnasium besuchen, das seinen Neigungen für Alte Sprachen, Literatur und Geschichte entgegenkam. Fests Schilderung der Lehrerpersönlichkeiten lässt zuweilen noch sehr an Heinrich Manns «Professor Unrat» denken, und es entsteht der Eindruck, Gespräche mit Freunden seiner Familie und Mitschülern seien für die Bildung des jungen Mannes wichtiger gewesen als der Unterricht im Gymnasium.
Im Alter von 15 Jahren wurden alle Schüler von Joachims Klasse in Friedrichshafen als Flakhelfer eingesetzt. Der Unterricht ging notdürftig weiter, und Fest berichtet anschaulich, wie die deutsche Literatur, wie Schiller, Goethe und Büchner unter dem Einfluss eines begabten Lehrers zu einem Zufluchtsort werden konnte, wo er die Kraft sammelte, um durchzuhalten. Zu dieser Zeit verdichteten sich auch die Gerüchte über Judenverfolgung und Massenmorde zur traurigen Gewissheit. «Und wer sich umtat», schreibt Fest, «und einiges Misstrauen gegen die Machthaber aufbrachte, stiess auf immer neue Hinweise über Massenmorde in Russland, Polen und anderswo.»
Im Jahre 1944 meldete sich Joachim Fest freiwillig zur Luftwaffe, um der Einberufung in eine Einheit der Waffen-SS zu entgehen. Er wurde in den letzten Monaten des Krieges mit seiner Einheit am Niederrhein eingesetzt. Als er bei der Nachricht vom Tod seines Bruders an der Ostfront offene Kritik an den nationalsozialistischen Machthabern übte, entkam er dem Kriegsgericht nur dank der Fürsprache eines ihm freundlich gesinnten militärischen Vorgesetzten. Im März des Jahres 1945 geriet er bei Remagen in amerikanische Kriegsgefangenschaft und wurde während zwei Jahren in einem Lager in Frankreich festgehalten.
Am Schluss seiner «Erinnerungen» berichtet Joachim Fest von der Rückkehr nach Deutschland, vom Wiedersehen mit seiner Familie und von seinem Vater, den man noch zum Kriegsdienst eingezogen hatte und der völlig entkräftet und geistig gebrochen aus russischer Gefangenschaft zurückkehrte. «Es war ein entbehrungsreiches Leben», schreibt der Sohn über den Vater, «das er nach vielversprechendem Beginn im vollen Bewusstsein der Folgen gewählt hatte, ja es war sogar der Verzicht auf jegliche Zukunft.» Und eine gewisse Bitterkeit ist unüberhörbar, wenn er fortfährt: «Ich habe mich oft gefragt, wer von den vielen Heldenrhetoren der Gegenwart, die sich auf den Tribünen der Gedenkveranstaltungen tummeln, wohl wie er entschieden hätte.» Wer dächte bei diesen Worten nicht unwillkürlich an Günter Grass, der sich zur selben Zeit, da Fests «Erinnerungen» erschienen, darum bemühte, der deutschen Öffentlichkeit zu erklären, warum er seinen Eintritt in die Waffen-SS während Jahrzehnten verheimlicht hatte?
Glänzender als Hitler es verdient hat
Ich erinnere mich genau, mit welcher Spannung ich 1973, als Fests Hitler-Biografie erschien, das Werk von über tausend Seiten Umfang verschlang. Zuvor hatte ich das Buch des Berner Historikers Walther Hofer zur «Entfesselung des Zweiten Weltkrieges» gelesen, eine Sammlung kommentierter Quellendokumente zum Nationalsozialismus. In Fests Buch verband sich eine umfassende Kenntnis der Quellen mit einer meisterhaften Kunst der Darstellung. Die Biografie war glänzend formuliert, so glänzend, dass der Joachim Fest nahestehende konservativ-liberale Historiker Golo Mann fand, solche Erzählkunst habe ein Hitler eigentlich nicht verdient.
In der Schweiz begegnete man dem Werk zuerst mit Zurückhaltung. Fest war «nur» Journalist und kein Hochschulprofessor, und manche Historiker neigten dazu, in einer gewissen gelehrten Umständlichkeit der Sprache das Merkmal sorgfältiger Forschungsarbeit zu sehen und guten Stil als «literarisch» oder «populärwissenschaftlich» zu bezeichnen. Heute wird Fests Werk auch von Spezialisten des Fachs als bedeutende Leistung anerkannt. Es nimmt in der langen Reihe von Hitler-Biografien, die 1952 mit dem Werk des englischen Historikers Alan Bullock begann, einen wichtigen Platz ein.
Seit der Lektüre der Hitler-Biografie habe ich die Kommentare und Essays Joachim Fests im Feuilleton der FAZ aufmerksam verfolgt. Eine weitere Biografie, die Joachim Fest einem engen Gefolgsmann Hitlers, Albert Speer, widmete, vermochte mich weniger zu überzeugen. Speer war unter Hitler Rüstungsminister und verschuldete den Tod von Millionen von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen, die schuften mussten, um den Krieg in Gang zu halten. Im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess wusste er sich geschickt zu verteidigen und kam mit zwanzig Jahren Haft davon. Die Autobiografie, die er nach der Entlassung publizierte, ist ein Musterbeispiel kluger und verlogener Apologetik. Vom Holocaust ist kaum die Rede; Gerüchte über die Vernichtungslager, schreibt Speer, habe er zwar gehört, es aber unterlassen – und nur darin bestehe sein Fehler – ihnen nachzugehen.
Joachim Fest traf mit Speer nach dessen Haftentlassung und während seiner Arbeit an der Hitler-Biografie mehrmals zusammen und übernahm das beschönigende Bild eines unpolitischen Technokraten, das dieser von sich entwarf. Wie sehr Fest von Speer fasziniert war, zeigte sich, als der Historiker den Kriegsverbrecher zur Vernissage seiner Hitlerbiografie einlud, zu der auch der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki und seine Frau geladen waren. Die ungeheuerliche Geschichte, wie sich der gut gelaunte Massenmörder Speer vorstellte und den knapp Hitlers Schergen entronnenen Juden in ein munteres Apéro-Geplauder zu ziehen suchte, kann man in Marcel Reich-Ranickis Memoiren nachlesen.
Historikerstreit um Singularität des Nationalsozialismus
Eine zwiespältige Rolle spielte Joachim Fest 1986 in jener Auseinandersetzung, die unter dem Namen «Historikerstreit» in die deutsche Geistesgeschichte eingegangen ist. Der konservative Berliner Historiker Ernst Nolte hatte in einem Artikel, den Fest in der FAZ abdrucken liess, die Verbrechen Hitlers und Stalins in einen engen Zusammenhang gestellt. Der Frankfurter Philosoph Habermas reagierte auf Noltes Ausführungen mit scharfer Kritik. Er warf dem Historiker vor, die Singularität des Nationalsozialismus auf unzulässige Weise zu relativieren. Dadurch, dass er die kommunistischen Menschheitsverbrechen als Vorläufer der nationalsozialistischen darstelle, strebe Nolte eine gefährliche Revision des Geschichtsbildes an, welche einer neuen Form des traditionellen Nationalismus Vorschub leiste. Die Replik von Habermas hatte eine heftige Auseinandersetzung zwischen «linken» und «rechten» Historikern zur Folge, die während Monaten andauerte und deren Geschichte sich in Hans-Ulrich Wehlers Buch «Die Entsorgung der der deutschen Vergangenheit?» nachlesen lässt.
Auch Joachim Fest mischte sich ein, nahm mit aller Beredsamkeit, die ihm zur Verfügung stand, für Nolte Partei und warf Habermas eine Form «akademischer Legasthenie» vor, die darin bestehe, «die Dinge erst zurechtzurücken, um sie dann attackieren zu können». Als Schweizer Historiker der Annäherung der Standpunkte und einem Konsens zuneigend, folgte ich dieser Debatte, an der sich namhafte deutsche Historiker beteiligten, mit einer Mischung von Erstaunen und Bewunderung, und zuweilen mochte es scheinen, als ginge es den professoralen Kampfhähnen mehr um persönliche Profilierung als um die Klärung eines Problems.
Immer hat Joachim Fest mich interessiert, aber nicht immer war ich seiner Meinung. Die hohe Wertschätzung, die der Historiker den Hitler-Attentätern vom 20. Juli 1944 zollt, kann ich nicht teilen. Gewiss war ihre Tat ein wichtiges Signal gegen aussen, und ihr Mut verdient Respekt. Aber die Mehrzahl der Männer im Umkreis von Graf Stauffenberg leisteten mit Überzeugung den Führereid, begrüssten die Siege über Polen und Frankreich und blieben einer national-konservativen Geisteshaltung verhaftet, von der kein Weg in die Bundesrepublik der Nachkriegszeit führte.
Auch dem Essay, in dem Fest mit grossem intellektuellem Aufwand den Schriftsteller Ernst Jünger als Chronisten der «inneren Emigration» unter Hitler rühmt, kann ich nicht beistimmen. Für mich bleibt Jünger der pathetische Nationalist des Ersten Weltkriegs, der 1940 begeistert am Frankreichfeldzug teilnahm und der als Besatzungsoffizier in Paris auf den geselligen Umgang mit rechtsradikalen und antisemitischen Repräsentanten des Pétain-Regimes nicht verzichten mochte.
Gegen den 68-er Radikalismus
Spannend nachzulesen sind noch immer Joachim Fests Kommentare und Aufsätze zum kulturellen Zeitgeschehen in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, von den Anfängen der Studentenbewegung bis zu den Mordanschlägen der «Roten Armee Fraktion». In jüngster Zeit sind in der Presse zahlreiche Artikel erschienen, die sich durchwegs positiv über den befreienden kulturellen Wandel äusserten, den die «Mai-Revolution» in Deutschland und in der Schweiz auslösten.
Verfasser dieser Texte waren oft Zeitgenossen, die damals in wilden Demonstrationen gegen die «kapitalistische Gesellschaft» protestierten und dann den «langen Marsch durch die Institutionen» antraten, der in Wahrheit oft recht kurz war und sie in gehobene Positionen ebendieser «kapitalistischen Gesellschaft» aufsteigen liess. Zu sehr in Vergessenheit geriet dabei, dass der Studentenprotest nicht selten eine von militanter Gewaltbereitschaft begleitete Radikalisierung erfuhr, die den demokratischen Rechtsstaat und sein Bildungswesen grundsätzlich in Frage stellte.
Da gab es doch damals Professoren, die den traditionellen Bildungskanon als bürgerlich radikal ablehnten und behaupteten, die Lektüre der Boulevardpresse trage mehr zur Bildung bei als die Lektüre von Goethes «Faust». Es gab universitäre Berufungsverfahren, in denen das Bekenntnis zu Marx dem Kandidaten bessere Chancen eröffnete als eine erfolgreich abgeschlossene Habilitation. Und es gab Intellektuelle, welche freimütig gestanden, auf die Kaufhausbrände und Attentate der RAF mit «klammheimlicher Sympathie» zu reagieren.
Solchen Auswüchsen radikaler Sinnesart trat Joachim Fest mit Entschiedenheit entgegen. Er richtete sich dabei nicht grundsätzlich gegen die Gesellschaftskritik der Studentenbewegung. Die Studenten, stellte er 1968 in einem politischen Kommentar fest, hätten mit ihren Protesten ihren «legitimen Mitsprachewillen» angemeldet und viel dazu beigetragen, das «muffige Selbstbewusstsein der Machtträger» zu erschüttern und die «Antiquiertheit der bestehenden Strukturen» sichtbar zu machen. Was Fest an den Studenten jedoch kritisierte, war, dass sie kein realisierbares Konzept vorlegten, abstrakten Denkmodellen und utopischen Visionen verhaftet blieben und glaubten, ihre Vorstellungen vom gesellschaftlichen Wandel ausserhalb der bestehenden demokratischen Institutionen verwirklichen zu können.
Mit zunehmender Radikalisierung der Protestbewegung verschärfte sich auch Fests Kritik. Er warf nun den Studenten vor, unpolitisch und unhistorisch zu denken. Die Schuld am fehlenden Realitätssinn der protestierenden Jugend, schrieb Fest 1977 in einem Aufsatz unter dem Titel «Abschied von der Geschichte», trage die Geschichtswissenschaft. Sie habe sich ins Spezialistentum zurückgezogen und habe es versäumt, die grossen, in die Gegenwart hineinwirkenden Zusammenhänge sichtbar zu machen. «Vielmehr hat die Geschichtswissenschaft», schreibt Fest, «die Öffentlichkeit aus ihrer Vorstellung verabschiedet und gibt sich selbstvergessen ihren akademischen Lüsten und Glasperlenspielen hin.»
Kurz vor seinem Tod hielt Joachim Fest zu Ehren des Schweizer Historikers Herbert Lüthy, dessen siebenbändige Werkausgabe eben erschienen war, an der Universität Zürich eine Gastvorlesung. Der Referent berief sich auf einen Essay des Schweizers über Hitler, der 1953 unter dem Titel «Der Führer persönlich» in der Zeitschrift «Der Monat» erschienen war. Dieser Aufsatz, so Fest, habe ihn dazu ermutigt, seine Hitler-Biografie in Angriff zu nehmen. Besonders beeindruckt hätten ihn Lüthys Unvoreingenommenheit und seine Unabhängigkeit gegenüber vorgefassten Meinungen und Ideologien. «Am stärksten hat mich von früh auf», schreibt Fest über Herbert Lüthy, «die in seinen Arbeiten stets beispielhaft vorgeführte Zurückweisung aller Theorie-Systeme beeindruckt, die den Betrachter so unschwer daran hindern, gleichsam ins Herz der Dinge zu gelangen.»
Die Zürcher Rede war die letzte grössere Arbeit des Historikers und Publizisten Joachim Fest. Sie ist 2007 in den Sammelband «Bürgerlichkeit als Lebensform», aufgenommen worden, der, zusammen mit den «Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend» das Lebenswerk eines bedeutenden Journalisten und Historikers abrundet.