Das Selbstmord-Attentat vom Sonntag in Lahore glich jenem in Brüssel in einem fatalen Aspekt: In der Alltäglichkeit seiner Ausführung, seiner Lokalität und seiner Opfer. Flugpassagiere packen im Parkhaus ihr Gepäck auf einen Trolley und rollen ihn in die Abflughalle des Terminals. Doch die Koffer gehen nicht als Check-in Luggage in die Luft, sondern in einer Detonation, die wahllos Menschen tötet, die Minuten zuvor genau dasselbe Abreiseritual abgespult haben.
In Lahore war die Alltäglichkeit noch grösser. Beim Flughafen-Eingang standen womöglich bewaffnete Polizisten und sollten Sicherheit ausstrahlen. Der Wärter, der beim Parkeingang des Gulshan-e-Iqbal-Parks sass, hatte vermutlich nur die Aufgabe, streunende Hunde daran zu hindern, in das Areal zu schlüpfen und sich dort über Picknick-Resten herzumachen.
Der Täter, womöglich selbst ein Kind
Ich bin einige Male in diesem Park spazieren gegangen, da ich manchmal bei Freunden in der nahen Model Town abstieg. Es ist nicht ein nachmittäglicher Spaziergang, der die meisten Besucher dort an einem Sonntag anzieht. Die Meisten entfliehen für einen langen Augenblick der Enge ihrer ärmlichen Behausungen und versammeln sich dort zum Familienpicknick. Tücher werden auf dem Gras ausgebreitet, die Frauen stellen Schüsseln und Teller bereit, Männer schwatzen und brechen ihr erstes Fladenbrot, die Kinder rennen herum und spielen.
Der Attentäter, womöglich selber noch fast ein Kind, hatte keine Schwierigkeit, sich in der Nähe einer Rutschbahn und Schaukel zu positionieren, bevor er die Rissleine zog und alles um ihn in einer atemraubenden Druckwelle und tosendem Rauch verschwand.
In Pakistan ein Novum
Die erschreckend hohe Zahl von Toten – neunundsechzig - und von Verwundeten – über dreihundert – muss als makabres Indiz herhalten, wie populär ein solch sonntäglicher Parkbesuch ist. Es war zudem Ostersonntag, und selbst für Muslime sind Tod und Auferstehung eines Vorläufers von Mohammed ein besonderer Festtag. Zudem liegt in kurzer Distanz zum Park eine Kirche. Der Sprecher einer Faktion der Tehreek-e-Taliban erklärte Stunden nach dem Attentat, Christen seien das primäre Ziel gewesen.
Aber es ist diese Charakterisierung – das primäre Ziel – die angesichts der vagen Zielbestimmung eines öffentlichen Parks, und dies an einem Festtag, so perfid wirkt. Denn das primäre Ziel ist nicht mehr eine Zielgruppe mit einem hohen Gefährdungspotential oder eine architektonische Struktur mit hohem Symbolwert sein. Nur Panik und Terror bestimmen eine solche Wahl. Europa kennt diese nihilistische Strategie bereits zur Genüge, in Pakistan ist sie ein Novum.
Spontane Aktionen kleiner Gruppen
Bisher bestimmten hier fast immer konkrete politische Zielsetzungen die Wahl der Zielscheiben – Kirchen, militärische Anlagen, öffentliche Gebäude, Politiker. Selbst der Anschlag auf die Schule in Peshawar im Dezember 2014 war Teil des erbarmungslosen Schlagabtausches zwischen pakistanischen Taliban und Armee gewesen, denn die Schule war in erster Linie für Kinder von Militärs bestimmt.
Mit dem Attentat von Lahore hält der ‚Jihad du jour’ auch in Pakistan Einzug. Der Ausdruck stammt aus einem Leitartikel, der ausgerechnet am Morgen des Attentats in der liberalen Tageszeitung Dawn erschienen war. Sie bezeichnete damit – noch bevor die Formulierung später am Tag einen bitteren Beigeschmack erhielt – den Übergang von zentral gesteuerten und ausgewählten Anschlägen zu quasi autonomen und fast spontanen Aktionen kleiner Gruppen, wenn nicht Individuen. Sie mögen ideologisch und technologisch – z.B. Erwerb und Knowhow bei der Herstellung der Sprengsätze – noch von grösseren Netzwerken abhängig sein. In ihrer fast beliebigen Lokalisierung gleichen sie eher dem täglich ändernden Tagesmenü für beliebige Henkersmahlzeiten.
Wir können überall zuschlagen
Für die Leitartikler in Karachi kündigt sich damit bereits die vierte Phase des Terrorkriegs in Pakistan an – eine Ankündigung, die bereits Stunden später Realität wurde. Zwar erwähnte das Bekennerschreiben neben den Christen auch den Standort Lahore als Zielscheibe, denn die zweitgrösste Stadt Pakistans ist auch die politische Hochburg der Familie von Premierminister Nawaz Sharif. Aber noch ominöser war die Drohung, die bei der Wahl des Gulshan-e-Iqbal-Parks zum Ausdruck kam. Sie lautete im Klartext: Wir können überall zuschlagen.
Die ersten drei Terrorwellen zeichneten sich laut Dawn durch eine immer grössere Gewaltwirkung auf die Zivilgesellschaft aus. Die ersten beiden – der afghanische Jihad, die kaschmirische Untergrundbewegung – wurden noch substanziell vom pakistanischen Militärgeheimdienst orchestriert. Bei der dritten, jener der Kaida, entwand sich der Untergrund seinen Zieh-Eltern. Er machte vielmehr diese zur Zielscheibe, sichtbar etwa bei den Attentatsversuchen gegen den Präsidenten-General Pervez Musharraf.
Versuchter Sturm auf das Parlament
Mit der vierten radikalisiert und verselbständigt sich die islamistische Bewegung nun noch weiter. Sie ist dafür nicht einmal auf logistische und ideologische Inputs des mittelöstlichen IS angewiesen. Die Netzwerke sind in Pakistan bereits so weit ausgelegt, dass sie multipolar und autonom nebeneinander zu laufen beginnen. Nichts brachte diesen Tatbestand drastischer zum Ausdruck als die Ereignisse am gleichen Sonntagnachmittag in der Hauptstadt Islamabad.
Dort kam es zu einer Grossdemonstration, mit dem Versuch eines Sturms auf das Parlament, gegen den sogar Armee-Einheiten aufgeboten werden mussten. Es gab keine Hinweise, dass die beiden Ereignisse koordiniert waren. Denn hier war die Zielscheibe noch deutlich der pakistanische Staat. Er wird von den Islamisten angeklagt, mit der Hinrichtung eines Attentäters die Staatreligion und ihre Scharia-Gesetzgebung verraten zu haben.
Ein Begräbnis, das einem Volksauflauf gleicht
Der emotionale Fokus der Proteste war Mumtaz Qadri, der Leibwächter, der vor drei Jahren Salman Taseer, den damaligen Gouverneur der Provinz Panjab ermordet hatte. Taseers Sündenfall: Er hatte die Blasphemie-Gesetze kritisiert, die einer armen Christin die Todesstrafe eingetragen hatten. Aber es war Qadri, nicht Taseer, der zum Märtyrer wurde.
Als er vor zwei Wochen hingerichtet wurde, kam es zu einem Begräbnis, das eher einem Volksauflauf glich. Salman Taseers Sohn Aatish schrieb in einem Op Ed-Artikel der New York Times, eine ähnlich grosse Menschenmenge habe Pakistan bisher nur bei Staatsbegräbnissen wie jenem für Benazir Bhutto gesehen.
Radikalisierte Gesellschaft
Aatish, Schriftsteller und indischer Bürger – seine Mutter ist die bekannte Journalistin Tavleen Singh – wies damit auf einen wunden Punkt hin: Die verschiedenen Wellen des immer weitere Kreise ziehenden bewaffneten Islamismus in Pakistan haben nicht nur zehntausende zivile Opfer gefordert. Sie haben auch weite Teile der pakistanischen Gesellschaft im Sinn der religiösen Fanatiker radikalisiert. Die junge Malala Yusafzai, von der Regierung grossspurig zur Nationalheldin emporstilisiert, darf ihre Heimat nicht mehr betreten. Die Attentate von Brüssel und Lahore mögen sich in bestimmten Aspekten ähnlich sein. In diesem, entscheidenden Punkt sind sie es nicht.