Zum ersten Mal liegt jetzt sein gesamtes Gesamtwerk vor. Der Verleger Michel Slatkine hat vier Jahre lang mit zwanzig Mitarbeitern daran gearbeitet. Das 24-bändige Werk enthält mehrere bisher unveröffentlichte Texte. Enthüllen sie Neues über den grossen Jean-Jacques?
Seit Wochen wird in Genf über Rousseau debattiert und gestritten. Die Stadt gibt sich auch selbstkritisch. Sie erinnert daran, dass sie einst ungnädig mit ihrem Philosophen umging.
Seine wichtigsten Bücher sind am 19. Juni 1762 vor dem Genfer Stadthaus verbrannt worden – auf Anordnung des Genfer Staatsanwalts. Jetzt, genau 250 Jahre später, fand im Hof des Genfer Stadthauses eine Gedenkfeier statt. Ein Schauspieler verlas das damalige Verdikt. Die heutigen Feiern sind auch ein Akt der Wiedergutmachung. Doch die Nachwelt tut sich noch immer schwer, den grossen Genfer zu fassen. Wer ist Rousseau?
Rauchender Kopf
Er ist Subversiver, Anarchist, Sozialist. Er ist Philosoph, Dichter, Politologe, Pädagoge, Enzyklopädist und Psychologe. Er ist Wegbereiter der Französischen Revolution, der modernen Erziehung, der Menschenrechte. Er ist Romantiker, Botaniker und Pantheist, Musiker, Musiklehrer, Opernschreiber, Notenkopierer und Literat. Selbst als Wegbereiter für Kommunismus und Faschismus muss er herhalten. Sogar Chefredaktor ist er, allerdings nur kurz. Sein Magazin „Der Spötter“ erscheint nur einmal.
Seine wichtigste Schaffensperiode dauert nur zwölf Jahre, von 1750 bis 1762. Vorher ist er ein Vagabund, ein Nichtsnutz; nachher ein verbitterter Mann. Doch während diesen zwölf Jahren muss ihm der Kopf geraucht haben. Was er in dieser kurzen Zeit an Ideen, an Gesellschafts- und Erziehungsmodellen produziert, ist phänomenal und hat die Welt verändert.
Man müsse bis auf die Reformationszeit zurückgehen, um einen zu finden, der sich mit Rousseau und Voltaire messen könne. Dies erklärt der Stuttgarter Pädagoge Paul Sakmann - zitiert von Rousseaus Biografen Georg Holmsten.
Jeder schneidet sich ein Stück Rousseau ab
Doch auch 300 Jahre nach seiner Geburt bleibt Rousseau ein Rätsel. Sein Werk ist so breit, so vielschichtig, so genial und verworren, dass es Dutzende Interpretationen zulässt.
Jeder pickt sich aus seinen Büchern, was ihm gerade passt. Fast alle finden bei Rousseau Sätze und Abschnitte, die ihre Ideologie und Lebenshaltung rechtfertigen.
Jetzt sind es die Leute von „Occupy Wallstreet“, die ihn vereinnahmen. Und die Piraten. Alle andern Ideologien und Bewegungen taten es schon früher. Jeder kann sich sein Stück Rousseau abschneiden.
Der Soziologe Arnold Hauser sagt: „Rousseaus Vorgänger waren Reformer, Weltverbesserer. Er ist der erste wirkliche Revolutionär“. Doch das erste Werk des Revolutionärs ist radikal reaktionär. Voltaire spottet nur.
“Die Erde gehört niemandem, die Früchte allen“
In seinem ersten „Discours“ schreibt Rousseau, Wissenschaften und Künste hätten mehr Schaden als Gutes angerichtet, sie seien gefährlich. Er attackiert Verleger, Schriftsteller und Gelehrte, „diese eitlen Phrasendrescher“. „Allmächtiger Gott, gib uns die Unwissenheit, die Unschuld und die Armut zurück“.
Im zweiten „Discours“ geht es revolutionär zu. „Es verstösst gegen das Gesetz der Natur, dass eine Handvoll Menschen im Überfluss erstickt, während es der ausgehungerten Menge am Notwendigsten fehlt.“ Rousseau kritisiert das Eigentum. „Der erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab und auf den Gedanken kam zu sagen, „dies gehört mir“ und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Elend und Schrecken wären dem Menschengeschlecht erspart geblieben, wenn jemand die Pfähle ausgerissen und seinen Mitmenschen zugerufen hätte, „hütet euch, den Betrügern Glauben zu schenken“, wenn ihr vergesst, dass zwar die Früchte allen, aber die Erde niemandem gehört.“
“Der Mensch wird selbstsüchtig und böse“
Zeigt er sich da nicht als Romantiker, als Anti-Aufklärer, als Naivling? Was auf den ersten Blick so wirkt, ist der Versuch, die Anfänge des Kapitalismus aufzuzeigen.
Rousseau will erklären, weshalb der Mensch egoistisch geworden ist. Im Naturzustand sei er das nicht, sondern ein friedlich lebendes Wesen. Auch als sich die Menschen zu einer „Hirtengesellschaft“ zusammentaten, lebten sie glücklich unter Gleichen. Doch dann wollten die Ersten Eigentum erwerben. So entstanden Ungleichheit und Konkurrenz. Der Mensch wurde selbstsüchtig und böse. Die Folge waren Kriege und Gewalt.
Rousseau ist nicht so naiv zu glauben, man könne das Rad zurückdrehen. Die beiden „Discours“ sind eine Kritik an der entstehenden „Bourgeoisie“. Zum Schutz der Besitzenden werde eine politische Ordnung geschaffen, die vor allem den Besitzenden nützt.
Ist Gerechtigkeit möglich?
Rousseau hat gelitten darunter, dass man ihn als weltfremden Träumer bezeichnete. An diesem Ruf ist er nicht unschuldig. In seinem Erziehungsroman „Emile“ verlangt er, dass Kinder keine Bücher lesen und nur auf dem Land erzogen werden sollten.
Es gehört zu den Seltsamkeiten, dass Rousseau, der in seiner Kindheit nur von Büchern lebte, sie jetzt als schädlich brandmarkt. Ebenso seltsam ist, dass der Super-Intellektuelle Zeit seines Lebens die Intellektuellen hasst.
Rousseau betrachtet die Gelehrten, die Wissenschaftler und Künstler als Wegbereiter des Fortschritts, einer zügellosen Entwicklung, des Egoismus und damit des Zerfalls.
Ist in dieser Konkurrenzgesellschaft denn Gerechtigkeit und Gleichheit überhaupt möglich? In seinem „Gesellschaftsvertrag“, dem „Contrat social“, entwirft er ein utopisches Staatsgebilde, an das er selbst nicht glaubt. Alle Bürger müssten dazu gebracht werden, auf das Wohl aller hinzuarbeiten. Ein Gesetzgeber solle entsprechende Gesetze vorschlagen, die von allen akzeptiert würden. Jeder verzichtet auf seinen egoistischen Eigenwillen und hat nur das allgemeine öffentliche Wohl im Sinn.
Kein Demokrat im heutigen Sinn
Mit unserer Demokratie hat das wenig zu tun. „Rousseau kann meines Erachtens nicht der Theoretiker der Demokratie der modernen Industriegesellschaft sein und er wollte es auch gar nicht“, schreibt Iring Fetscher, einer der besten Rousseau-Kenner.
Rousseau befürwortet die sogenannte Identitätsdemokratie. Regierte und Regierende sind identisch. Bürgerinnen und Bürger müssen sich freiwillig dem Gemeinwillen unterwerfen. Diese Forderung hat Rousseau den Vorwurf eingetragen, er ebne den Weg für Diktatoren.
Im Gegensatz zur „Identitätsdemokratie* steht unsere heutige Konkurrenzdemokratie. In offenen Auseinandersetzungen sollen per Mehrheitsbeschluss Entscheidungen herbeigeführt werden.
Davon hält Rousseau nichts – auch nicht von politischen Parteien oder Interessenverbänden. Diese dürfe es nicht geben. Sie seien auch nicht nötig, denn alle Bürger würden ja am gleichen Strick ziehen. Wer es nicht tut, muss auf den richtigen Weg gebracht werden. Also: zum Glück gezwungen werden. Also: erzogen werden, umerzogen. Da heulen Rousseau-Kritiker auf. Das Wort „Erziehungsdiktatur“ fällt.
Da laut Rousseau Volk und Regierung identisch sind, hat das Volk die grösste Macht. Eine Repräsentativ-Demokratie, also der Parlamentarismus, lehnt er ab. Vielleicht auch deshalb, weil er ahnt, dass Parlamentarier nicht nur Gutes im Sinne haben könnten. Dachte Rousseau schon an Schmiergelder, schwarze Kassen und Lobbys?
Rousseau gibt zu, dass sein Modell nur für Kleinst-Staaten gelten könnte. Das Volk müsste aus gleichgesinnten, sozial gleichstehenden Menschen bestehen, aus „einem Volk von Göttern“.
“Anspruchsvoller Freiheitsbegriff“
Er weiss, dass sein lokales Demokratie-Modell in einer komplexen, globalisierten, arbeitsteiligen Gesellschaft keine Chance hat. Wie würden multinationale Konzerne mit der von Rousseau geforderten Identitäts-Demokratie zusammenpassen?
Auch wenn sein Demokratie-Modell utopisch ist: Er hat als Erster die Tür zur Demokratie weit aufgestossen. Die Freiheit des Individuums ist für ihn das höchste Gut. Und vor allem: Nicht ein König oder ein Aristokrat sollen über die Menschen entscheiden, sondern die Menschen selbst.
„Kein politischer Philosoph hat einen anspruchsvolleren Freiheitsbegriff als Rousseau“, schreibt der deutsche Philosophieprofessor Wolfgang Kersting, „und keiner hat der politischen Welt auch mit der Aufgabe der Freiheitsbewahrung eine drückendere Hypothek aufgebürdet.“
Rousseau selbst ist überzeugt, dass Monarchie und Aristokratie überwunden werden. „Ich halte es für unmöglich, dass die großen europäischen Monarchien sich noch lange halten werden, sie alle haben ihre Glanzzeit hinter sich, und jeder Staat, der geglänzt hat, ist im Niedergang.“
Er spürt, dass auch im Frankreich von Ludwig XV. und seiner Pompadour die Revolution in der Luft liegt. Sie kam dann 1789, 13 Jahre nach seinem Tod. Dass alles so schnell geht, hat er wohl nicht geahnt. Er glaubt auch nicht an eine baldige, echte Republik. Und vor allem ahnte er nicht, dass während des jakobinischen Terrors Tausende in seinem Namen abgeschlachtet werden, weil sie sich nicht dem „Gemeinwillen“ unterwerfen.
Gegner der Globalisierung?
300 Jahre nach seiner Geburt werden manche Postulate Rousseaus neu und kontradiktorisch diskutiert.
Sind grosse Staatsgebilde sinnvoll? Rousseau ist der Ansicht, dass es überschaubare politische Strukturen braucht. Nur so können die demokratischen Rechte und Pflichten der Bürger fruchtbar ausgeübt werden. Nur so auch könnten die Menschen friedlich zusammenleben. Rousseau wäre sicher ein Gegner der Globalisierung, der anonymen Wirtschaftsproduktion gewesen. Doch es ist wohl gewagt, wenn Rousseaus Ansichten heute als Aufruf zur Re-Nationalisierung und als Absage an die EU gedeutet werden.
Für Bürokraten in grossen Staatsgebilden hat er ein schlechtes Wort übrig: „Ein Mann, den der Staat für sein Nichtstun besoldet, unterscheidet sich durch gar nichts von dem Strassenräuber, der auf Kosten der Reisenden lebt“.
Rousseau selbst bezeichnet seinen Erziehungsroman „Emile“ als sein wichtigstes Werk. Es ist ein Wendepunkt in der Pädagogik. Pestalozzi wird das Buch später loben. Manche bezeichnen es als „Schlüsselwerk unserer Zivilisation“. Viele verstehen es auch als Aufruf zur antiautoritären Erziehung.
„Emile“ fordert eine Erziehung ohne Zwang. „Gebt die Erziehung dem Kind zurück“. Durch Erfahrung müssten die Kinder lernen, nicht durch Vorschriften. Etwa so: Da schlägt ein Knabe mit dem Ball die Fensterscheibe seines Zimmers ein. Der Erzieher tadelt ihn nicht. Im Winter wird es kalt im Zimmer. Der Knabe friert, er merkt aus Erfahrung, dass er keine Scheibe einschlagen soll.
Gegen Fortschrittsgläubigkeit
Aktuell sind heute auch Rousseaus Warnungen vor den Konsequenzen einer ökonomisch-industriellen Überhitzung. Er wäre wohl ein Kritiker der Überindustrialisierung in den grossen Ballungszentren. Sicher hätte er ökologisch ausgewogene, umweltfreundliche Produktionsmethoden, die im Gleichgewicht zur Natur stehen, befürwortet. Er war ein Anhänger dessen, was wir heute kleine Öko-Systeme nennen. Das Wort „Nachhaltigkeit“ hätte sicher zu seinem Wortschatz gehört. Vor allem aber kritisiert er Gier, Ausbeutung, zügelloses Wachstum und Fortschrittsgläubigkeit.
Der sogenannte Fortschritt auf technisch-kulturellem Gebiet bringe den Menschen nur Unheil und Zerfall. Doch dieser Fortschritt sei nicht mehr zu bremsen. Die Geschichte der Menschheit sei eine Geschichte des Zerfalls. Rousseau ist stets ein Pessimist.
Dieser Pessimismus wächst mit dem Alter. Mit 50 Jahren beginnt er seine Lebensbeichte zu schreiben, die „Confessions“. Darin breitet er sein Gefühlsleben offen aus. Er listet seine Fehler auf; viel Intimes kommt zur Sprache. Das Bild, das er von sich zeichnet, ist nicht das Bild eines selbstbewussten Philosophie-Stars. Er beschreibt sich als kränkelnder, oft unsicherer und immer suchender Einzelgänger. Die „Confessions“ wurden ihm als Exhibitionismus ausgelegt. In erster Linie sind sie eine Beichte. Er will seine Gefühle und Fehler offen legen und die Leser um Verzeihung bitten.
Keine Freunde mehr
Auch Alltägliches beschreibt er. Er liebt es, beim Essen zu lesen. „Ich verschlang abwechselnd eine Seite und einen Bissen. Es ist, wie wenn mein Buch mit mir speiste.“
Er beschreibt auch die „unglaublichen Schwierigkeiten, in meinem Kopf meine Gedanken zu ordnen“. Das äussert sich auch in seiner „écriture de cochon“, seiner Schrift. „Meine Manuskripte sind durchgestrichen, hingeschmiert, mit vielen Einschüben, unlesbar. Sie bezeugen die Mühe, die sich mich gekostet haben“.
Er wird immer verbitterter und reizbarer. „Mein Ohrensausen hat mich seit dreissig Jahren nicht eine Minute verlassen.“ Er verliert seine Freunde. „Sobald ich einen Namen hatte, hatte ich keine Freunde mehr“.
Gegen Schluss seines Lebens sagt er: „Ich habe für diese Welt nichts mehr zu hoffen, noch zu fürchten. Ich erwarte von den Menschen nichts mehr als Beleidigungen, Lügen und Verrat."
„Ich habe den Menschen die Wahrheit gesagt. Sie haben sie schlecht aufgenommen. Jetzt sage ich nichts mehr“.
Lesen Sie die früheren Artikel unserer Rousseau-Serie
„Ich bin ein Prinz aber auch ein Schuft“
Rousseau und Genf: “Ich war in Genf ein Verrückter, ein Atheist, ein Rasender, ein wildes Tier“
Rousseau und die Frauen: „Mein erhitzes Blut verlangt nach Frauen“
Im Tal der "Grünen Fee": Von nun an geht's bergab
Seine Kirche ist die Natur. Rousseau und der Katholizismus
Rousseaus Werk und Philosophie: Der Subversive, der Revolutionär, der Utopist