Vor einigen Tagen wurde noch bekanntgegeben, Touristen seien weiterhin auf Kuba willkommen. Das für sein gutes Gesundheitssystem bekannte sozialistische Land hat spät reagiert. Was bedeutet die Coronakrise für Kuba, das schon vorher unter Nachschubproblemen litt und stark auf den Tourismus angewiesen ist?
Marianne Pletscher reist seit rund 30 Jahren immer wieder nach Kuba. Sie unterrichtet dort an der internationalen Filmschule und hat viele der grossen Krisen des Landes miterlebt. Genauso lang ist sie mit der kubanischen Dokumentarfilmerin Belkis Vega befreundet. Aus WhatsApp- und Telefongesprächen zwischen den beiden Freundinnen, ergänzt durch Informationen aus vielen Quellen inner- und ausserhalb Kubas, erfahren wir, wie das Land mit dem Covid-19 Virus umgeht und wo die Schwierigkeiten liegen.
Was hat ein Konzert mit Corona zu tun?
13. März: Meine Freundin Belkis wird an einem Festival in Santiago de Cuba für ihr Lebenswerk geehrt. Ein Anlass mit Hunderten von Menschen, die sich nahekommen. Belkis wird von vielen umarmt und geküsst, die Kubaner lieben Körperkontakt. In China hat die Coronakrise den Höhepunkt schon erreicht, in Italien sind schon Hunderte von Menschen gestorben. In der Schweiz wurde soeben die Schliessung der Schulen angeordnet.
Ich frage per WhatsApp besorgt, wie es ihr gehe. Bei uns gäbe es keine öffentlichen Anlässe mehr, ein gemeinsamer Freund habe soeben ein Konzert absagen müssen. Sie schreibt verwundert zurück: „Hier gibt es nur zwei Betroffene, zwei Italiener. Sie sind in Quarantäne. Ich verstehe nicht, was Konzerte mit Corona zu tun haben?“
Ich traue meinen Augen kaum, die Person, die das fragt ist DIE Frau, die den einzigen guten Dokumentarfilm über Aids in Kuba gemacht hat. Sie gehört zu der im Allgemeinen gut informierten Elite. Ich erkläre. Sie will mir immer noch nicht recht glauben. Sie weiss auch noch nicht, was ich später erfahre, dass die kubanische Regierung schon im Januar einen Notfallplan für den Fall einer Pandemie beschlossen hat.
Die Kubaner sind gegenüber uns drei Wochen im Informationsrückstand
16. März: Der Kontakt ist nicht einfach. Wie viele Kubanerinnen und Kubaner der oberen Mittelschicht hat Belkis zwar Internet, aber ihr Modem funktioniert im Moment nicht. WhatsApp ist für sie sehr teuer, sie schaltet sich einmal pro Tag für eine halbe Stunde ein. Sechs Stunden beträgt der Zeitunterschied. Mich erreicht nur eine kurze Nachricht: „Hier ist alles ruhig.“ Bei uns in der Schweiz hingegen wurde soeben der Notstand ausgerufen.
Wie die meisten Kubanerinnen liest Belkis selten Zeitungen und schaut selten Fernsehen. Zeitungen sind kaum erhältlich, das Fernsehen gilt als sehr langweilig. Sie hat also während ihrer Feier verpasst, dass Präsident Diaz-Canel informiert hat, dass die im Januar eingeführten Kontrollmassnahmen an Häfen, Flughäfen und den Küsten des Landes verschärft werden sollen. Das kubanische Gesundheitswesen soll gezielter auf einen möglichen Ausbruch von Covid-19 vorbereitet werden. Bestandteil der Prävention ist auch eine Ende Februar erschienene App, die über das Virus informiert und von der Seite des Gesundheitsministeriums heruntergeladen werden kann. Nur: Die wenigsten Kubaner können sich soviel Internetzeit leisten, dass sie auch Apps herunterladen können.
Informiert wird auch, dass im Fall eines Ausbruchs der Krankheit das Zentrum für Tropenmedizin „Pedro Kourí“ (IPK) in Havanna den grössten Beitrag zur Isolation und Behandlung von Corona-Patienten leisten wird. Dort wurden auch die bisherigen Verdachtsfälle behandelt.
Das IPK kann auf grosse Erfahrung bei der Kontrolle von Krankheiten wie Dengue, Zika und Cholera verweisen und gilt als federführend in ganz Lateinamerika.
Ich habe eigene Erfahrungen mit diesem Zentrum. Als vor einigen Jahren einer meiner Schüler erkrankte, wurde er sofort wegen Verdachts auf Dengue isoliert. Das Bed-and-Breakfast, in dem wir mit allen zwölf Studentinnen und Studenten logierten, wurde sofort von einer martialisch aussehenden Gruppe von „fumigadores“ von unten bis oben desinfiziert. Der Student musste zehn Tage in Quarantäne verbleiben, zuerst im Spital und dann in der schuleigenen Krankenstation und verpasste quasi den ganzen Filmkurs. Er war schliesslich nur an einer gewöhnlichen Grippe erkrankt. Solange nur einzelne Fälle betroffen sind, ist Kuba also sicher gut vorbereitet und schnell bereit, Leute zu hospitalisieren und isolieren. Damit hat das Land eine lange Erfahrung.
Solche Isolierungen haben Tradition
Die Kubaner, die ja oft nicht geizen mit Kritik an ihrer Regierung, vertrauen im Grossen und Ganzen ihrem Gesundheitswesen. Sie haben hervorragende Ärzte. Leider fehlen wegen des Embargos der USA, das Präsident Trumpf verschärft hat, oft Medikamente und medizinische Instrumente.
Kuba bekam die Aids-Epidemie besser in den Griff als alle anderen lateinamerikanischen Staaten, von Afrika gar nicht zu reden. Allerdings mit drastischen Mitteln: Ende der 80er Jahre wurden HIV-positiv getestete Menschen in sogenannten Sanatorien isoliert. Ein Aufschrei des Entsetzens ging durch die westliche Presse. Ich konnte damals mit Belkis ein solches Sanatorium besuchen und stellte fest, dass die „Internierten" selbst eine sehr viel differenzierte Meinung über ihren „Gefängnisaufenthalt“ hatten.
Kuba war damals, kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in einer wirtschaftlich so desolaten Lage, dass viele Menschen Hunger litten. Die Bewohner der „Sanatorien“ bekamen genug zu essen. Die Massnahme wurde langsam wieder gelockert, mit begleitetem Ausgang für die positiv getesteten Personen. Nach knapp vier Jahren, als die Menschen nach Ansicht der Gesundheitsbehörden genug informiert und diszipliniert waren, wurden die Sanatorien wieder aufgelöst.
Gemütlich im voll besetzten Restaurant
17. März: Das kubanische Gesundheitsministerium meldet, die Zahl der positiv Getesteten sei auf 21 gestiegen. Es ist der Tag, an dem bei uns in der Schweiz alle Läden, Restaurants und Kinos geschlossen wurden. Belkis hat ihr Festtelefon zum Laufen gebracht und erzählt, sie habe soeben gemütlich in einem Paladar mit einer Freundin aus Spanien gegessen.
Paladares sind Restaurants, die mit einer Maximalzahl von Sitzplätzen privat wirtschaften dürfen. Meist stehen die Stühle sehr eng zusammen, die Menschen berühren sich permanent. So ausgehen kann eine kubanische Person nur, wenn sie von jemandem eingeladen wird, die mit Devisen bezahlt. Der kubanische Peso ist fast nichts wert, und mit Löhnen von 400 Pesos (rund 20 Dollar) kommen die wenigsten über die Runden. Sie arbeiten schwarz, kriegen einen Teil ihres Salärs in Devisen oder bekommen regelmässig von Familienmitgliedern aus dem Ausland Geld geschickt.
Noch sitzt Belkis also in einem Restaurant mit viel Körperkontakt. Doch jetzt sind die Menschen offenbar besser informiert. Es hat sich herumgesprochen, dass das Virus sich auch in Kuba ausbreiten könnte.
Belkis meldet noch am gleichen Abend lange Schlangen in den Einkaufszentren. Vieles fehlte schon vorher, der Nachschub stockt. Wie bei uns beginnt jetzt auch die Angst der Kleinunternehmer. Kuba lebt stark vom Tourismus. Noch kommen Touristen am Flughafen an, aber bedeutend weniger. Das Ministerium für Tourismus meldet, dass Touristen nach wie vor willkommen seien, aber vor allem Flüge aus Italien und Kanada ausblieben. Die privaten Vermieter bekommen es mit der Angst zu tun. Ihre in den letzten Jahren sorgfältig hergerichteten Kleinwohnungen und Zimmer bleiben leer. Sie verlangen wenigstens Steuererlasse für diese schwierige Zeit – von Kompensationen wie bei uns kann keine Rede sein.
Kuba hilft international
18. März: Stolz verkündet die kubanische Regierung, dass die Passagiere des Kreuzfahrtschiffs MS Braemar mit 5 Covid-19 Infizierten noch an diesem Tag vom Flughafen José Marti aus nach Hause fliegen konnten. Kuba hatte das Schiff nach einer längeren Odyssee im Hafen von Mariel ankern lassen, als dieses andernorts wegen des Virus an Bord keinen Hafen fand.
Jetzt wird auch bekannt, dass Kuba ärztliche Hilfe ins Ausland schicken wird, vor allem nach Venezuela, Nicaragua, Surinam und, auf Verlangen der Lombardei, auch nach Norditalien. Den Kontakt hat die Freundschaftsgesellschaft Italien-Kuba hergestellt. Ärzte hat das Land genug, kamen doch erst vor kurzem Hunderte von kubanischen Ärzten aus Brasilien und Bolivien zurück, weil sie dort aus politischen Gründen nicht mehr erwünscht waren. Die „Weisskittelarmee Kubas“ gewährt solidarische Hilfe in vielen, nicht nur sozialistischen Ländern. Sie hat dem Staat auch immer reichlich Devisen eingebracht, was dieser dringend benötigt.
Auch in der Ebola-Krise halfen kubanische Ärzte in Westafrika. Kuba schickte mehr als 460 Ärzte und Pflegekräfte nach Sierre Leone, Liberia und Guinea. 165 davon arbeiteten direkt im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation WHO. Einer von ihnen, der sich infiziert hatte, wurde später in Genf behandelt und geheilt.
Jetzt werden auch die Kubaner informiert
19. März: WhatsApp von Belkis: Die Nachbarschaftsgruppen werden jetzt von den Familienärzten informiert, wie sie sich verhalten sollen. Auch das Fernsehen informiert jetzt. Hände waschen und Abstand halten gehört dazu. In den Apotheken wird Hydrochlorid zur Desinfektion verkauft. In den sozialen Medien wird verlangt, dass die Schulen geschlossen werden. Diese Nachrichten erreichen aber nur eine kleine Gruppe, die überhaupt über Internet verfügt.
Viele, die sich melden, sind kubanische Stars im Exil, die Zugang zu besseren Informationen haben. Doch ich erlebe zum ersten Mal, dass die Regierung von Gruppen aus der Zivilgesellschaft zum Handeln aufgefordert wird. Der erste Infizierte, ein italienischer Tourist, ist gestorben. Belkis erzählt von ellenlangen Schlangen überall: vor den lokalen Läden, die Waren in kubanischer Währung verkaufen, und vor den Devisen-Supermärkten für Nahrungsmittel. Von zwei Meter Abstand keine Spur, die Schlangen würden ja bis ins Meer reichen!
Wassermangel als Hauptproblem
Zwei Meter Abstand halten würde allenfalls in den vornehmeren Quartieren gehen, aber in den engen Gassen Alt-Havannas kommen sich die Menschen oft auch unfreiwillig sehr nah. Noch schlimmer, so sagt Belkis, sei der Wassermangel. Es habe schon längere Zeit nicht mehr geregnet, die Wassertanks auf den Dächern sind fast leer. Schon zum zweiten Mal in Folge hätten sie jetzt den ganzen Tag kein Wasser gehabt. Wie bitte, sollen die Menschen sich da die Hände waschen? Aber wenigstens Seife habe sie noch gefunden. Und gehamstert, wie alle andern.
Die Regierungszeitung Granma schreibt: „Der kubanische Staat hat noch keine Grenzschliessungen beschlossen, aber es wurde eine sorgfältige Überwachung für alle Flugpassagiere festgelegt, insbesondere für diejenigen, die aus gefährdeten Ländern kommen. Die Aussage kommt von Dr. Francisco Durán, Direktor für Hygiene und Epidemiologie des Gesundheitsministeriums.
Endlich keine Grossanlässe mehr
20. März: Aus der Parteizeitung Granma erfahre ich, dass jetzt alle Grossanlässe verboten werden – rund drei Wochen nachdem das in der Schweiz der Fall war. Nicht als sinnvoll erachtet die Regierung die Schliessung von Schulen und Universitäten. Kubanische Kulturschaffende aus dem Ausland weisen im Netz dringend darauf hin, dass das jetzt nötig sei. Die Regierung erwidert, es gäbe noch keinen einzigen Covid-19-Fall in den Schulen.
Der Zeitunterschied von sechs Stunden macht es uns nicht einfach, aber Belkis und ich schaffen es, mit Festnetz zu telefonieren. Wir verstehen nur die Hälfte, die Linie ist schlecht. Belkis findet zwar auch, dass die Schulen schliessen sollten, aber was dann?
Computerunterricht wie in der Schweiz sei keine Option, viele zu wenige Menschen hätten einen Computer oder Netz. Das Netz sei auch zu schwach und viele Leute könnten sich Internet gar nicht leisten. Sie erzählt, dass im Fernsehen erklärt wurde, wie man sich selbst Masken bastle. Die Kubaner nennen sie Nasobucos, weil sie Nase und Mund zudecken.
Der Ankunftsplan des Flughafens in Havanna zeigt immer noch viele ankommende Flüge, vor allem aus Kanada, während die Flughäfen in Europa praktisch geschlossen sind. Einige Flugzeuge kommen allerdings vor allem, um Touristen abzuholen. Bei allen ankommenden Passagieren soll die Temperatur gemessen werden. Ob das nützt?
Kubanische Medien propagieren ein selbst hergestelltes Medikament, Interferon alfa-2b. Es soll zu den rund 30 Medikamenten gehören, die Peking zur Bekämpfung von Covid-19-Patientinnen einsetzt. Die Vereinigung Schweiz-Kuba bittet den Bundesrat in einem offenen Brief, den Einsatz dieses Medikaments zu prüfen. Jetzt will ich es aus medizinischer Sicht genauer wissen.
Auch die Schweiz hilft mit
Ich telefoniere mit Raffaele Malinverni, Infektiologe und Vorstandsmitglied von Medi-Cuba Schweiz, einer Organisation, die Kuba regelmässig mit Kursen, Know-how, Medikamenten und medizinischem Material hilft. Dr. Malinverni war bis vor einem Jahr Chefarzt im Spital Neuenburg. Seit einem Jahr ist er pensioniert, aber im Moment hilft er seinem Nachfolger und betreut im Ambulatorium alle Patienten mit Viruserkrankungen ausser Corona. Schliesslich gibt es noch andere Kranke, die Hilfe von Spezialisten benötigen. Dr. Malinverni ist sehr skeptisch, ob das Temperaturmessen von ankommenden Passagieren reicht, um alle Corona-Fälle zu erfassen.
Ausser Warentransporten müssten alle Flüge sofort gestoppt werden, meint er, es sei schon sehr spät. Was die Nasobucos betrifft, zweifelt er, das nütze wenig, sie hätten aber vermutlich einen psychologischen Effekt. Was das propagierte Interferon alpha-2b betrifft, ist er sehr skeptisch. Interferon helfe zwar bei Infekten, aber vor allem bei chronischen wie Hepatitis C, und nicht bei akuten. Zudem habe es üble Nebenwirkungen und könne in einer ersten Phase die Krankheit verstärken. Das Medikament sei viel zu wenig erforscht, um eingesetzt zu werden. Das bestätigt auch die WHO, wie ich später recherchiere.
Der kubanische Biotechspezialist Dr. Herrera Martinez sieht das anders: Interferon helfe, Komplikationen zu verhindern. Das kubanische Gesundheitsministerium hatte den Gebrauch von Interferon schon bei der Bekämpfung von Dengue erlaubt (Quelle: Regierungszeitung Granma). Darauf angesprochen antwortet Dr. Malinverni: „Wie ich gesehen habe, wurde Interferon in einer inhalierten Form (in China) eingesetzt. Dazu gibt es allerdings keine Daten.“
Sehr zufrieden ist Dr. Malinveri, dass MediCuba-Suisse, zusammen mit dem kubanischen Gesundheitsministerium, verschiedenen anderen kubanischen Partnerinstituten und MediCuba-Europa, erst kürzlich zwei Laboratorien zur Diagnostik der molekularen mikrobiologischen Diagnostik in Villa Clara und Santiago de Cuba eröffnen konnte.
Diese Laboratorien sind weit weg von Havanna und können eine hohe Anzahl von mikrobiologischen Erregern diagnostizieren, darunter auch das Coronavirus. Ein drittes in Havanna, das das Instituto de Medicina Tropical IPK entlasten soll, steht kurz vor der Vollendung. Es sind jetzt sieben Tage vergangen, seitdem der erste Patient in Kuba positiv getestet wurde.
Zu diesem Zeitpunkt gibt es 25 bestätigte und 716 vermutete Fälle in Kuba. Die schwer Erkrankten werden im Institut für Tropenmedizin behandelt, bis es ihnen gut genug geht, um entlassen zu werden.
Andere positiv getestete Personen sind zu Hause in Quarantäne. Das kubanische Gesundheitsministerium meldet, es sei noch keine einzige Person infiziert, die im Gesundheitswesen arbeitet. Ob genügend Atemschutzmasken im Land sind, lässt sich nicht erfahren.
Cybercuba, eine regimekritische Internetplattform, die von Spanien aus arbeitet, meldet, Medizinstudenten hätten demonstriert, weil sie ohne wirksamen Schutz ihre Arbeit machen müssten. Das Bild, das die Zeitung dazu veröffentlicht, scheint mir eher von einer 1.-Mai-Feier oder Ähnlichem zu stammen, lässt sich doch im Hintergrund „Viva Fidel“ auf Transparenten lesen. Fake News sind in der kubanischen Opposition sehr verbreitet. Sie müssen, wie auch die Nachrichten der Regierung, immer mit Vorsicht gelesen werden.
Sollte Kuba restriktivere Massnahmen ergreifen, ist nicht mit grosser Opposition zu rechnen. Die Kubaner trauen dem Gesundheitssystem, sie lassen in Notfällen auch autoritäre Massnahmen über sich ergehen, wenn sie den Sinn einsehen.
Ich habe mehrmals erlebt, wie schnell bei Hurrikanen das Militär übernimmt und Evakuierungen durchsetzt. Die Leute werden aufgefordert, ihre unsicheren Häuser zu verlassen bzw. in ihren sicheren Wohnungen zu bleiben. Das tönt oft unsympathisch für uns, aber das Ergebnis ist, dass Kuba in der Regel wenig bis keine Hurrikantoten aufweist, ganz anders als etwa Puerto Rico.
Beim letzten Hurrikan, den ich in Havanna erlebt habe, verbrachte ich mit Belkis, ihrer Mutter und Tante vier Tage im Haus. Rechtzeitig waren wir aufgefordert worden, die Badewanne mit Wasser zu füllen, uns genügend Kerzen zu beschaffen und uns soweit wie möglich mit Nahrungsmitteln zu versorgen sowie gar nie das Haus zu verlassen. Die einzige, die sich nicht ans Verbot hielt, war ich. Ich rannte mit der Kamera begeistert nach draussen und es ging nicht lange, bis mich die Polizei ultimativ zurückschickte. Wäre ich nicht Ausländerin gewesen, hätten sie mich gleich verhaftet, meinte Belkis.
Der Präsident persönlich informiert
Belkis ruft an: Präsident Miguel Díaz-Canel ist persönlich in der „Mesa Redonda“, dem „runden Tisch“ des staatlichen Fernsehens aufgetreten. Aufgrund globaler Alarmsignale sei es jetzt nötig, striktere Massnahmen zu ergreifen. Zwar könne man noch nicht von einer exponentiellen Ausbreitung des Virus sprechen, sagt er, aber er gibt zu bedenken, dass die tatsächliche Zahl der infizierten Personen bis zu zehnmal höher liegen dürfte als die bisher 21 gemeldeten.
Ich schaue mir die Sendung im Netz an: Der Präsident wirkt so ruhig und staatsmännisch wie Giuseppe Conte in Italien oder Alain Berset in der Schweiz. Die Zeit der langen emotionalen Reden von Fidel Castro ist endgültig vorbei. Belkis findet jetzt das Fernsehen nicht mehr langweilig, sondern sehr informativ.
21. März: Belkis schreibt: Alle Taxichauffeure, die Touristen fahren, müssen Nasobucos tragen. Alle Hotelangestellten werden getestet. Über Unterstützung für Menschen, die ihre Arbeit verlieren, wird diskutiert. Nur noch Restaurants, die Sitzplätze im Abstand von zwei Metern anbieten können, dürfen geöffnet bleiben. Nachtklubs, Bars, Kinos, Theater und Campingplätze werden geschlossen. Private Zimmervermieter dürfen keine neuen Gäste mehr aufnehmen. Die Supermärkte bleiben geöffnet und müssen am Eingang Desinfektionsmittel ausgebeben. 151 Fabriken stellen Atemschutzmasken her. Touristen sollen wenn nötig in Hotels unterkommen, wo eine bessere Gesundheitsüberwachung möglich ist. Selbständigerwerbende, die sogenannten „Cuentapropistas“, müssen vorläufig keine Steuern bezahlen. Privatpersonen und Betriebe können mit Hilfskrediten rechnen. Das ist doch erstaunlich für ein Land mit planwirtschaftlicher Tradition, in dem die Selbständigkeit bis vor kurzem sehr ungern gesehen wurde. Es sind geringe Leistungen, wenn man sie mit den Milliarden vergleicht, die unsere Regierung der Wirtschaft anbietet, aber für Kuba ist es ein Quantensprung.
Die italienischen Zeitungen melden die Ankunft von 53 Ärztinnen und Krankenpflegern aus Kuba in der Lombardei, dem Epizentrum der Pandemie in Italien. Es soll sich um Spezialisten handeln, die schon in Afrika gegen das Ebolavirus gekämpft haben.
Sie werden von den Italienern begeistert empfangen und werden im Spital von Crema arbeiten. Gleichzeitig gibt China bekannt, dass es Atemschutzmasken und Beatmungsgeräte nach Kuba schicken wird. Die Solidarität zwischen den verschiedenen politischen Systemen scheint besser zu klappen als die Solidarität innerhalb der EU.
Die Touristen werden ausgeflogen
Jetzt gibt Kuba die Schliessung der Flughäfen für Touristen bekannt. Die rund 60’000 noch anwesenden Touristen sollen in Gruppen von 13’000 aus dem Land geschleust werden. Ab Dienstag, den 24. März dürfen keine Ausländer mehr einreisen. Innerhalb einer Woche hat Kuba die drei Wochen Rückstand zu unserm Informationsstand aufgeholt und die Massnahmen gleichen sich mehr und mehr den unsern an. Wie viele Menschen wirklich infiziert sind weiss niemand, genauso wenig wie bei uns.
Doch auf Facebook lädt ein empörter Kubaner an diesem Tag das Bild des Marktes Quatro Caminos in Havanna herunter: Von 2 Metern Abstand keine Spur. Nur Einkaufen ist wichtig, solange es noch Waren gibt.
Fast jeder Kubaner und jede Kubanerin haben Familienangehörige im Ausland. Einige sind Dissidenten, die meisten sind Wirtschaftsflüchtlinge und leben in Florida. Auch von da kommen nicht nur gute Nachrichten. Belkis Schwester, studierte Mathematikerin und in Orlando (Florida) als Uber-Chauffeuse tätig, hat keine Kunden mehr. Vom versprochenen Geld der US-Regierung hat sie noch nichts gesehen. Immerhin, Paolino, ein alter Freund von mir, der sich in Miami vom Ingenieur zum Krankenpfleger umgeschult hat, schreibt auf Facebook: „Ich habe jetzt den sichersten Job der Welt. Nur etwas anstrengend ist er im Moment.“ Bis Ende Februar haben Hunderttausende von Kubanern monatlich Rimessen nach Hause geschickt. Sie machen neben dem Tourismus einen grossen Teil des Volkseinkommens aus. Beide Quellen drohen jetzt zu versiegen.
Kuba kann sich nicht selbst versorgen, das ist historisch bedingt. Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion war die Insel von Moskau abhängig (Öl gegen Zucker), später lange Zeit von Venezuela (Öl gegen Ärzte). Der Grossteil der Wirtschaft ist immer noch planwirtschaftlich organisiert, viele grosse Hotels und andere Grossbetriebe sind in Joint Ventures organisiert, bei denen der Staat eine Mehrheit von 51% hält. Schon vor der Pandemie drohte eine Versorgungskrise. Die einstmals berühmten Bodegas, in denen Grundnahrungsmittel fast zum Nulltarif mit Rationierungsbüchlein, der berühmten Libretta, gekauft werden konnten, funktionieren schon lange nicht mehr so gut wie zu Sowjetzeiten. Viele benützen sie gar nicht mehr. Das könnte sich jetzt wieder ändern.
22. März: Jetzt wissen es alle, auch diejenigen, die medial nicht so gut vernetzt sind: Ab dem 24. März ist das Land für internationale Besucher geschlossen. Kubaner, die noch einreisen, müssen sich 14 Tage in Quarantäne begeben. Die Fluggesellschaft Edelweiss, mit der viele Schweizerinnen und Schweizer die Ferien in Kuba verbringen, wird am 23.3. und am 30.3. noch gestrandete Touristen zurückholen und letzte Kubaner ins Land fliegen. Das öffentliche Leben auf der Insel soll weiter reduziert werden. Fast alle Massnahmen sind jetzt dieselben wie bei uns. Nur die Schulen sollen nicht geschlossen werden, weil sonst die Jugendlichen und Kinder nur auf der Strasse rumhängen würden. Das ist in der Tat so und wird im Netz beklagt. Auf Facebook wird jetzt die Regierung praktisch nicht mehr kritisiert. Kritisiert werden die Jugendlichen, die sich nach wie vor in Banden draussen herumtreiben. Die Menschen fordern sich gegenseitig auf, zuhause zu bleiben.
Wie weiter?
Wenn wir in der Schweiz von wirtschaftlicher Katastrophe reden, ist die Corona-Pandemie für Kuba ein Supergau. Auch Kuba wird kaum ohne Rezession, wenn nicht Schlimmerem, davonkommen. Ich denke an die Leute, die jetzt schon nicht genug zu essen haben. Während sich Belkis mit ihren in Spanien verdienten Euros inzwischen mit Nahrungsmitteln für Wochen eingedeckt und sich als Mitglied einer Risikogruppe selbst isoliert hat, gibt es Leute, die keine solchen Ressourcen haben und die fast nicht anders können, als sich zu nahe zu kommen. Maria zum Beispiel: Ich habe sie kennengelernt, als eine Gruppe meiner Studentinnen vor zwei Jahren einen Film mit ihr gedreht hat. Sie gehört zur einer Hochrisikogruppe, ist fünfundsiebzig und hatte kürzlich eine Herzoperation. Sie wohnt in einem Solar, einem dieser engen, zu Kleinwohnungen umfunktionierten ehemaligen Herrenhäuser mit miserablen hygienischen Anlagen. Sie wird auf die grosse Solidarität der anderen Hausbewohnerinnen zählen können, denn Nachbarschaftshilfe müssen die Kubanerinnen nicht neu erfinden wie wir, die war schon immer da. Aber die Vorgabe „zwei Meter Abstand und ständiges Händewaschen“ wird sie nicht erfüllen können. Solche wie Maria gibt es Tausende, Kuba hat dank seinem guten Gesundheitswesen auch eine sehr alte Bevölkerung. Über zwei Millionen Menschen sind über sechzig Jahre alt, 15 Prozent davon leben allein. Altersheime gibt es nur wenige.
Belkis konnte inzwischen ihr Modem flicken lassen und schreibt:
„Was wird aus uns werden, wenn der Nachschub nicht mehr klappt? Wird unser Gesundheitswesen das Virus im Zaum halten können? Die Regierung hat vielleicht zu spät reagiert, aber sie verhält sich jetzt vorbildlich. Sie bezieht alle arbeitenden Menschen ein, nicht nur die staatlichen Angestellten. Dies zeigt, dass sie die bisherigen sozioökonomischen Veränderungen in der Gesellschaft und Wirtschaft ernst nimmt. Das wird das System stärken. Wenn aber Covid-19 auch bei uns so viele menschliche Opfer fordert wie in Italien, dann wird das Volk der Regierung nicht mehr vertrauen. Niemand weiss, was dann passiert.“
Ich habe Kuba anfangs der neunziger Jahre während der „periodo especial“ der Sonderperiode in Friedenszeiten erlebt, als sich die Sowjetunion praktisch von einem Tag auf den andern auflöste und Kubas Wirtschaft total am Boden lag, als das Bruttoinlandprodukt innert dreier Jahre um über ein Drittel schrumpfte, zeitweise Hunger herrschte und Stromausfälle von zwölf Stunden pro Tag die Regel waren.
Wir haben damals in der Filmschule zum Frühstück kalte Spaghetti gegessen, weil es kein Brot mehr gab. Aber die Kurse fanden trotz allen Schwierigkeiten statt. Kubaner und Kubanerinnen kennen ein Wort für das, was wir „sich durchmischeln“ nennen: „inventar“, erfinden. Sie werden auch diesmal als Individuen etwas erfinden, um zu überleben. Der Staat scheint besser organisiert zu sein als damals, er hat bisher auch auf repressive Massnahmen verzichtet. Das gibt Hoffnung. Weniger Hoffnung gibt eine Schätzung von Experten, die ich inzwischen erfahren habe, ohne dass ich die Quelle nennen darf: sie rechnen mit bis zu 20’000 Fällen.
Und noch ein Nachtrag zum Thema Körperkontakt: Meine Freundin Norma berichtet auf Facebook mit einem Video vom neunundneunzigsten Geburtstag ihrer Mutter. Alle tanzen und singen und halten sich an den Händen, auch die Neunundneunzigjährige macht mit ... Soll ich mich jetzt aufregen, oder soll ich es als Metapher für die Überlebenskunst der Kubaner anschauen? Am besten wohl das Letztere.