Jessica Hottinger: «Daddy»
«Ich habe erst nicht gewusst, was ich Ihnen allen, die ihn gekannt und geliebt haben, über Daddy erzählen soll. Ich schätze, ich kann nur eine weitere Facette über jene Persönlichkeit beitragen, die Mommy «the Great Man» nannte.
Daddy kam in Basel zur Welt. Seine deutsche und elsässische Mutter, die wir Kinder Nona nannten, hatte ihre erste grosse Liebe im 1. Weltkrieg verloren und einen Assistenten ihres Vaters geheiratet. Hotti war aber auch Schweizer, d.h. er kam aus einem neutralen Land, was für Nona wichtig war. Daddy überliess es seiner Schwester Ursula, für ihn zu sprechen, und er sprach nur, wenn er sicher war, dass er einen richtigen Satz sagen konnte. Baby Talk war nichts für ihn.
Obwohl Hotti Schweizer war und natürlich auch Nona und ihre Kinder es waren, gingen sie Hottis Arbeit wegen nach Deutschland.
1926 geboren, erfuhr Daddy wie alle anderen Kinder seiner Generation bald die Folgen der Politik und des Dritten Reiches. Die Familie musste Deutschland 1933 überstürzt verlassen und zurück in Basel, musste er erst Schweizer Deutsch lernen. In der Schule haben sie ihn seines deutschen Akzents wegen gehänselt und so lerne er nie richtig Schweizer Deutsch.
Daddy pflegte zu sagen, dass die Kinder während des Krieges so viele Äpfel essen durften, wie sie mochten, und so stand denn im Keller am Petersplatz ein grosser Korb Äpfel, aus dem sie sich bedienen konnten. Später mochte er Äpfel nicht mehr so gern.
Nona und Hotti vertrugen sich nicht und trennten sich, was seinerzeit ein echter Skandal und für die Kinder schwierig war. Daddy war bereits etwas anders mit dieser deutschen Mutter, die sehr intellektuell war, vergessen Sie nicht, sie hatte in Chemie doktoriert. Nona sorgte dafür, dass auf allerlei Art Geld gespart werden konnte. Es gab zum Beispiel kein frisches A4-Papier, um darauf zu schreiben, also mussten die Kinder die Rückseite von Rechnungen benutzen, die nichts kosteten.
Als Daddy an der Universität Zürich studierte. pflegte er jeweils in einem leeren Hörsaal zu schlafen, statt ein Bahnbillet nach Hause zu kaufen. Seinem Spareifer sollte er treu bleiben, sehr zum Kummer von uns Kindern damals. Nona war auf gewisse Weise praktisch veranlagt und wollte, dass jedes ihrer Kinder einen anderen Beruf lernte. Arnold sollte Taxifahrer werden. Vielleicht hat er deswegen nie Auto fahren gelernt…
Es gab noch andere Dinge, die Daddy nicht tun konnte, was wir Kinder sehr lustig fanden. Er konnte nicht singen und in der Armee sagte ihm ein Offizier, er solle einfach so tun, als ob er singen würde. Das bedeutete aber auch, dass er sehr zu seiner Erleichterung nicht als «Offiziersmaterial» galt.
Nachdem er jung doktoriert hatte, ging Daddy nach Chicago, um zu forschen. Dort traf er meine Mutter, eine gebildete, irisch-katholische Krankenschwester. Daddy pflegte zu sagen, dass sie die einzige Person war, die er verstand, weil sie nicht Slang sprach. Sie hatte Ihr amerikanisches Englisch in Klosterschulen gelernt. Mommy hat erzählt, dass sie Daddy bei Rendez-vous jeweils in der Ecke eines Raumes entdeckte, den Kopf in eine Zeitung vergraben…schon damals also gab es diese extreme Fokussierung.
Daddy ging Mommy in Genua abholen, wo sie per Schiff aus Amerika ankam, und sie fuhren zusammen im Zug nach Basel, wo sie dann heirateten. Die Frischvermählten zügelten in den Libanon, wo mein Vater dank eines Stipendiums gesprochenes Arabisch lernen wollte. Mommy arbeitete auch nach meiner Geburt noch als Krankenschwester im Spital der American University in Beirut. Daddy schrieb als Freier seine ersten Artikel für die NZZ, als US-Marineinfanteristen in der libanesischen Hauptstadt landeten.
Während der Suez-Krise zogen sie nach Kairo und mein Vater übersetzte für Leute, die in Europa um Asyl nachsuchten. Als die beiden genug gespart hatten, fuhr Mommy per Schiff in die Staaten, um mich ihren Eltern vorzustellen und Daddy reiste auf der Arabischen Halbinsel umher. Diese Reisen sollten ihm das Material für sein erstes Buch über den Nahen Osten liefern. Es war das erste von 13 Werken.
Der NZZ war viel daran gelegen, diesen jungen Mann zum Journalisten auszubilden und Daddy machte ein Stage auf der Redaktion in Zürich, aber er hatte nicht viel Erfolg: «Er rückte stets den Nahen Osten auf die Frontseite.» So schickten ihn denn das Schweizer Radio und die NZZ mit einem Tonband nach Beirut, mit der bekannten Unterweisung: «Schicken Sie uns Ihre Depeschen per Post, senden Sie nur ein Telegramm im Falle einer Revolution.» Mein Bruder Julian kam damals in Zürich auf die Welt, und blieb noch einige Zeit bei Nona, bis meine Eltern überzeugt waren, dass es sicher genug war, ihn zusammen mit einer Sekretärin der Schweizer Botschaft nach Beirut fliegen zu lassen.
Daddy spielte aber nach wie vor mit dem Gedanken einer akademischen Karriere und es zog ihn an die UCLA in Los Angeles. Er blieb aber nicht für die vereinbarte Zeit, er vermisste den Nahen Osten zu sehr. Informationen über die Region zu finden war damals schwierig und so schrieb er denn an die NZZ, ob sie ihm nicht eine Stelle hätten. Daddy hat vor ein paar Jahren gesagt, er hätte damals Los Angeles nicht verlassen, wenn es 1960 bereits das Internet gegeben hätte. So zog denn die Familie erneut nach Beirut, als Sylvia gerade 21 Tage alt war.
Daddys Interesse am Nahen Osten hatte seine Hochs und Tiefs…1966 fragte er die NZZ, ob er nicht nach Italien gehen könne, denn Römer Korrespondent zu werden, war eine seiner unerfüllten Ambitionen. Die Zeitung bot ihm statt Rom Madrid an, wo Franco, wie die Weisen der NZZ prophezeiten, bald jeden Tag das Zeitliche segnen könnte.
1967, nach dem Sechs-Tage-Krieg, zogen wir nach Madrid. Doch die Folgen des Krieges bedeuteten, dass Daddys Interesse am Nahen Osten erneut wuchs und so reiste er unermüdlich in die Region, «nie 21 Tage in Folge zu Hause», wie Mommy zu sagen pflegte. Sie muss sich gelegentlich einsam gefühlt haben, als sie uns drei Kinder grosszog.
Ich würde aber sagen, dass Daddy, wenn er zu Hause war, sehr präsent war. Er verliess die Wohnung nicht und arbeitete den ganzen Tag. Wir mussten ruhig sein und keinen Lärm machen, weil Daddy arbeitete oder am Radio BBC hörte. Es war amüsant zu erfahren, dass die Kinder hier in der Schweiz dieselbe Erfahrung machten wie wir. Ihnen wurde gesagt, das Maul zu halten und Radio zu hören, weil Arnold Hottinger sprach.
Wie ich mich erinnere, wurde Daddy damals am Schweizer Radio und Fernsehen so bekannt, dass sich die Leute der NZZ ärgerten, schon wieder Hottinger am Fernsehen…So tat denn Daddy, was er konnte und arbeitete noch mehr, um sicherzustellen, dass die NZZ von ihm stets genügend Beiträge erhielt. Zwischen Vorträgen konnte er auch Zeit mit seiner Mutter in Basel oder dem Fotografen Ernst Scheidegger in Zürich verbringen.
Man könnte prahlen, dass Daddy seinerzeit von Portugal bis Iran berichtet hat, auch über das ganze Mittelmeer mit Ausnahme von Frankreich, Griechenland und Italien.
Nachdem wir drei Kinder Madrid in Richtung Schweiz verlassen hatten, wurde Nicosia bis zur Pensionierung Mittelpunkt des Schaffens meines Vaters. Am liebsten hätte er sich in der Türkei niedergelassen, aber für einmal folgte er dem Wunsch meiner Mutter und kehrte nach Madrid zurück.
Nach dem Tod meiner Mutter 2003 war ich überrascht, dass Daddy nicht allein leben konnte. Er vergass zu essen, schlief untertags und wollte sich nicht um seine kranke Hüfte kümmern…Ingrid (Hörsch) konnte ihm alles geben, was er brauchte, Liebe und Fürsorge und einen Grund zu leben.
Er entdeckte das Journal21 und gab sich Mühe, die Kollegen nicht mit Artikeln zu überlasten. Er sagte, dass er Mühe gehabt habe zu entscheiden, was er jeden zweiten Tag schreiben wollte. Um den vergangenen Oktober herum bekannte er, dass ihm das Schreiben und die Ideen dafür nicht mehr so leichtfielen, aber er machte weiter.
Einmal, als Daddy und ich bei seiner Hausärztin waren, sagte er ihr: «Ich will kein Gemüse sein, Ich möchte sterben, wenn ich nicht mehr arbeiten kann; es wäre dann, als ob ich ein alter Mann bin und ich will kein alter Mann sein.» Er war damals 91.
Mommy sagte, dass Daddy sich als ewigen Studenten sah, als wäre er noch 25-jährig. Als er zum Beispiel einst fand, dass Hotels in Barcelona zu teuer waren, übernachtete er auf einer Parkbank. Am nächsten Tag taten ihm wenig überraschend seine Beine weh und er räumte ein, dass das vielleicht nicht die beste Idee gewesen war, um Geld zu sparen…
Daddy hielt nicht viel von Verallgemeinerungen und wollte verstehen, wie die Dinge funktionierten, sowohl in der Politik wie in der mechanischen Welt; er liebte es, Sachen im Haus zu reparieren. Seine bevorzugte Methode war der Einsatz von grünem Draht. Als Ingrid einen Becher für ihr Frühstücksei wünschte, probierte er verschiedene Dinge aus und entdeckte schliesslich den Deckel einer Flasche Tomatenjus. Es war nicht seine Sache, einfach in einen Laden zu gehen und einen Eierbecher zu kaufen.
Daddy litt während seines letzten Lebensjahres an Herzschwäche. Er wollte um jeden Preis weiterleben, zusammen mit Ingrid, und weiterarbeiten. Doch es sollte nicht sein, die Operation, von der er gehofft hatte, sie würde es ihm ermöglichen, verlief nicht nach Plan und seine letzten vier Monate waren hart.
Zu meiner Überraschung war Daddy, wie Julian gesagt hat, ein guter Patient, der tat, was man ihm sagte. Er war dankbar und dankte seinem Pflegepersonal. Seine letzten Worte, zu David, waren auf Englisch: «Danke, danke für deinen Besuch.» Diese vier Monate erlaubten es, uns auf seinen Tod vorzubereiten und ich bin dankbar dafür, dass ich diese Zeit hatte und dass ich seine Tochter war. Wir können uns unsere Eltern nicht aussuchen, aber meine Eltern zu haben, hat sich gelohnt.»
(Übersetzung: Ignaz Staub)