Der Abstecher des israelischen Sicherheitsministers, Itamar Ben Gvir, auf den Tempelberg in Jerusalem könne weittragende Folgen haben, schrieb Peter Philipp am 4. Januar im journal21. Und: «Zahlreiche arabische Staaten haben bereits dagegen protestiert, dass Israel die Regeln für die Heiligen Stätten nicht einhalte.»
Warum sind diese 14 Hektar Terrain so essentiell für den Islam und die jüdische Identität? Wie wurde dieses künstliche Plateau zum Brennpunkt des Nahost-Konflikts? Geht es da um Fakten oder nur um Mythen? Das Wörtchen «nur» ist hier allerdings vielleicht nicht angebracht: Mythen sind bisweilen machtvoller als Fakten.
Mohammeds Himmelfahrt
Damit zu den Argumenten beider Seiten – erst der vom Islam geprägten, dann zur israelisch/jüdischen. Für Muslime ist Jerusalem die drittwichtigste religiöse Stätte, gleich nach Mekka und Medina. Dass Jerusalem im Koran nicht erwähnt wird, ist für Gläubige irrelevant – mit «al-aqsa», dieses Wort erwähnt der Koran, sei ganz klar Jerusalem gemeint, argumentieren sie. Besuchte der Prophet denn diese Stadt? Im Koran steht nur, dass Mohammed sich in einer Traumreise bis «al-aqsa» habe versetzen lassen, also bis zur «fernsten Stätte». Von dort – aber da gelangen wir schon in den Bereich der Auslegungen – habe er sich für einen rational nicht fassbaren Zeitraum ins Jenseits versetzen lassen, um dort Zwiesprache zu halten mit Propheten früherer Epochen, auch mit Jesus.
Jerusalem spielte im Denken Mohammeds jahrelang eine wesentliche Rolle – er ging ja anfänglich davon aus, er könne die Juden (die er als Kaufleute in der Handelsstadt Mekka kennengelernt hatte) zu seinem neuen Glauben bekehren. Als er erkannte, dass das nicht möglich war, fokussierte er auf die Juden als geistige/religiöse Gegner. Aus diesem Wandel erklären sich im Koran und in Kommentaren zum Koran die zahlreichen anti-jüdischen Textstellen.
Am rechten Flügel des politischen Spektrums Israels wird bisweilen argumentiert, der Islam habe keinen Anspruch auf den Tempelberg, weil Mohammed ja physisch nie nach Jerusalem gelangt sei. Manche Muslime kontern mit historischen Rück-Verweisen: Jerusalem habe für die Geschichte der Juden während Jahrhunderten geringere Bedeutung gehabt als Hebron mit den Grabstätten von Abraham, Sara, Isaak, Rebekka, Jakob und Lea, das also bis ins 15. oder 16. Jahrhundert v. Chr. zurückreiche, während Jerusalem erst um das Jahr 1000 v. Chr., also unter König David, wichtig geworden sei.
Die jüdischen Ansprüche auf den Tempelberg
Weshalb also, so die Argumentation, verkrallten sich die israelischen Politiker, die Historiker, derart in die Jerusalem-Frage, warum können sie sich nicht mit den Palästinensern darauf einigen, die Kontrolle über die Stadt zu teilen, und zu akzeptieren, dass der «haram ash-sharif» («Das edle Heiligtum») in die Kompetenz der Muslime falle, der Bezirk um die Klagemauer aber in jene der Juden respektive der Israeli?
Wer so argumentiert, vernachlässigt die Macht der Mythen. Eine in jüdischen Kreisen verbreitete Tradition besagt, beispielsweise, dass genau dort, wo jetzt der Felsendom mit seiner goldenen Kuppel steht, die Welt gegründet wurde. An dieser Stelle habe Abraham seinen Sohn Isaak opfern wollen. Gemäss islamischer Überlieferung anderseits startete genau hier Mohammed seine bereits erwähnte Himmelfahrt. Die christlichen Kreuzfahrer, im Wissen über die Bedeutung des Plateaus, machten aus dem Felsendom eine Kirche. Doch als Saladin 1187 die Kreuzfahrer besiegt hatte, liess er das Plateau rituell reinigen und sogar parfümieren.
Unter osmanischer und israelischer Herrschaft
Fazit: Mit der Kontrolle über die 14 Hektaren, die jetzt Tempelberg oder «haram-ash-sharif» genannt werden, wurde quer durch die Jahrhunderte die Macht über die ganze nahöstliche Region, bisweilen auch die Rechtmässigkeit einer allein gültigen Religion, legitimiert. Anderseits versuchten alle Mächte, welche die Region im Verlauf der letzten Jahrhunderte beherrschten, den Ansprüchen der verschiedenen Religionsgemeinschaften hinsichtlich Jerusalems so Rechnung zu tragen, dass unterschwellige Spannungen sich nicht in offene Konflikte entladen konnten (oder sollten).
In den Jahrhunderten der Herrschaft der Osmanen (also etwa während sechs Jahrhunderten) war das 14-Hektar-Plateau mit seinen Bauwerken eine rein muslimische Stätte – Juden war der Zugang verboten. Die britische Mandatsregierung erlaubte 1917 Nicht-Muslimen zu bestimmten Zeiten den Zugang, aber nach den Unruhen im Jahr 1927 durften Juden die Stätte nicht mehr betreten. Nachdem Israel im Sechstage-Krieg (1967) Ost-Jerusalem erobert hatte, sollte der Besuch aller heiligen Stätten für Angehörige aller Religionen möglich werden – dann aber erhielt Jordaniens König die Kompetenz, durch das Instrument einer religiösen Stiftung den Zugang zu regeln, und schliesslich (Details dazu im Journal21-Beitrag von Peter Philipp, 4. Januar) setzte sich die Regel durch, dass Juden das Plateau zwar betreten, dort aber nicht beten dürften.
Und sich immer wieder ändernde Vorschriften beinhalteten, dass Nicht-Muslime in die beiden Bauwerke auf dem Plateau, also den so genannten Felsendom mit seiner goldenen Kuppel und die al-Aqsa-Moschee mit der der silbernen Kuppel, mal eintreten durften, mal wieder nicht. Ich schaffte es mehrmals, den Bezirk zu betreten, aber nie, in die al-Aqsa zu gelangen – sogar dann nicht, als ich einen im Arabischen halbwegs «gültigen» Verbal-Ausweis vorbrachte: Gefragt, ob ich Moslem sei, antwortete ich, ehrlich, auf arabisch: «Ich lese den Koran und versuche, zu verstehen.» Also bist du nicht Moslem, erhielt ich zur Antwort – und der Zugang zur Moschee blieb mir verschlossen (überall sonst in der Welt des Islam wurde die Antwort als ehrliches Bemühen um beidseitiges Verstehen aufgefasst).
Ominöse Erinnerung an Sharons «Spaziergang»
Damit zurück zur Aktualität: Jede israelische Regierung sollte wohl daran interessiert sein, die Spannungen um den Tempelberg/den «haram ash-sharif» nicht anzuheizen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass auch nur symbolische Verletzungen des status quo, selbst Verdachts-Momente, zu folgenschweren Eskalationen führen können. Der «Spaziergang» von Ariel Sharon im Jahr 2000 (Sharon war damals Verteidigungsminister) löste die zweite Intifada, den Gewalt-Widerstand der Palästinenser mit Hunderten von Todesopfern, aus. Wird der Besuch des jetzigen israelischen Ministers für nationale Sicherheit auf dem Tempelberg ähnliche Folgen haben?