Dreizehn Minuten könnten reichen, um im Nahen Osten eine neue Welle der Gewalt auszulösen. Solches wird jedenfalls von skeptischen Beobachtern und Politikern befürchtet, nachdem Dienstag früh der israelische «Minister für nationale Sicherheit» dem Tempelberg in der Jerusalemer Altstadt einen dreizehnminütigen Besuch abstattete.
Der Minister, Itamar Ben-Gvir, gilt als einer der radikalsten Nationalisten in der neuen Regierung Benjamin Netanjahus, nachdem er früher der «Kach»-Partei des (inzwischen ermordeten) Gründers der «Jewish Defence League», Meir Kahane, angehört hatte. Er ist heute einer der umstrittensten Verfechter des rechtsnationalistischen Kurses dieser neuen Regierung und lässt keine Gelegenheit aus, die maximalistischen Forderungen der israelischen Rechten zu propagieren.
Weite Kreise der Gewalt
Nachdem ihm die Planung neuer jüdischer Siedlungen in den 1967 eroberten palästinensischen Gebieten westlich des Jordan offenbar nicht mehr genügte, verlegte er sich auf das Thema «Heilige Stätten»: Der Besuch auf dem Tempelberg wurde seine jüngste Aktion, obwohl der Streit zwischen Israelis und Palästinensern um ihre Heiligen Stätten auf dem Tempelberg in der Vergangenheit immer wieder weite Kreise der Gewalt nach sich gezogen hatte. Etwa, als der damalige Oppositionsführer (und spätere Ministerpräsident) Ariel Scharon im September 2000 das Gelände auf dem Tempelberg besuchte wenig später die zweite «Intifada» ausbrach, der zweite Aufstand der Palästinenser in den besetzten Gebieten, bei dem Tausende von Angriffen und Überfällen gezählt wurden.
Der Zusammenhang zwischen Tempelberg und Intifada wurde später zwar von israelischen Sicherheitskreisen bestritten, inzwischen hat man aber neue Gewalttaten und bewaffnete Auseinandersetzungen erlebt, bei denen es eindeutig in erster Linie um die Rolle des Tempelberges ging. Zum Beispiel, als die im Gazastreifen herrschende islamistische «Hamas» und noch radikalere Gruppen ihre Raketenangriffe auf Ziele in Israel intensiviert hatten, um gegen die Politik Israels im 1967 eroberten und 1980 annektierten arabischen Ostteil der Stadt zu protestieren. Israel konterte solchen Beschuss – der bis in die Randgebiete Jerusalems reichte – in der Regel mit Luftangriffen auf Ziele im Gazastreifen und es bedurfte meist der Vermittlung Ägyptens und anderer Parteien, um wenigstens eine begrenzte Waffenruhe wiederherzustellen.
Friedliches Miteinander
Ähnliches könnte sich nun wiederholen, warnten Beobachter, vor allem nachdem die Hamas mit neuer Gewalt gedroht hatte. Bisher allerdings blieben dies offenbar leere Drohungen – abgesehen von einer im Gazastreifen abgeschossenen Rakete, die es aber nicht einmal über die Demarkationslinie hinweg bis nach Israel hinein schaffte. Israelische Kritiker des «ministre provocateur» bleiben angesichts der massiven Propaganda vonseiten der neuen Regierung Netanjahus aber vorsichtig, dass es nicht bei dem knapp viertelstündigen Rundgang des angeblichen Sicherheitsministers auf dem Tempelberg bleiben werde: So haben verschiedene Abgeordnete der Regierungskoalition in Reden und Interviews davon gesprochen, dass «Israels Besatzung permanent» sei, und Netanjahu hat offenbar vor, weitere Teile der besetzten Gebiete zu annektieren. Ausserdem verbreitet der Premier die These, dass die Juden in der Vergangenheit von den Arabern aus ihrer Heimat vertrieben worden seien und die «angeblich» besetzten Gebiete ja doch Teil der jüdischen Heimat seien.
Eine These, die selbst von jüdischen Historikern bestritten wird: Im Gegenteil habe es nach der Herrschaft der Römer im Heiligen Land unter arabischer Herrschaft durchaus ein gutes Miteinander mit diesen gegeben. Ähnlich widersprüchlich ist, was über die Heiligen Stätten verbreitet wird. Der Tempelberg ist der Ort, auf dem einst die jüdischen Tempel standen: der Salomonische Tempel, der von den Neubabyloniern 586 v. Chr. zerstört wurde, und der Zweite Tempel, der im Jahre 70 n. Chr. von den Römern zerstört wurde. Nach der Zerstörung des ersten Tempels wurde ein Grossteil der jüdischen Bevölkerung in die babylonische Gefangenschaft geschickt, nach der Zerstörung des zweiten Tempels setzte – unter römischer Regie – die Verteilung der Juden über weite Teile der Welt ein. Knapp 600 Jahre später wurden auf dem Gelände der Felsendom und die al-Aqsa-Moschee errichtet – das drittwichtigste Heiligtum des Islam. Vom Zweiten Tempel blieb nur die Westmauer übrig, die sogenannte Klagemauer, an der seitdem religiöse Juden beten. Sie gilt als wichtigstes Heiligtum des Judentums.
Folgen grosser Tragweite
Als Israel im Sechstagekrieg 1967 auch Ostjerusalem eroberte, einigte man sich mit Jordanien, dass dieses als Schutzmacht für die Heiligen Stätten der Muslime auf dem Tempelberg fungieren und die Stätten selbst von einer muslimischen Stiftung, dem Waqf, verwaltet werden sollen. Um Problemen aus dem Weg zu gehen, wurde der Zugang zum Tempelberg begrenzt. Auf grossen Schildern wurden Besucher darauf hingewiesen, dass es sich hier um Heilige Stätten (des Islam) handle und der Zutritt in erster Linie für Muslime gestattet sei. Angehörige anderer Religionen dürften keine religiösen Gegenstände oder Symbole mitbringen und auf dem Gelände auch nicht beten.
Andere Religionen wurden dabei nicht genannt, also durften auch Juden auf das Gelände kommen. Vorausgesetzt, sie konnten sich mit einem ausländischen Dokument ausweisen. Israelische Staatsangehörige wurden – je nach politischer Spannung – nicht immer zugelassen. ReIigiöse Juden gleich welcher Staatsangehörigkeit hatten allerdings ohnehin ein Problem: Da man nicht mehr wusste, wo einst das «Allerheiligste» der beiden Tempel sich befunden hatte, erlaubte die jüdische Religion den Zutritt auf das Gelände nicht, denn man hätte ja versehentlich solch einen verbotenen Raum betreten können. Die Schilder waren im Sommer ausgetauscht worden, inzwischen sind aber die alten Hinweistafeln wieder da.
Der Abstecher des Sicherheitsministers auf den Tempelberg könnte schliesslich aber noch ganz andere Folgen von grosser Tragweite haben: Zahlreiche arabische Staaten haben bereits dagegen protestiert, dass Israel die Regeln für die Heiligen Stätten nicht einhalte. Unter anderem hat sich Jordanien in diesem Sinne beschwert. Gravierender könnte allerdings der Protest der Staaten ausfallen, die in den letzten Jahren Verträge mit Israel geschlossen haben. Sie könnten versucht sein, ihre Verträge für nichtig zu erklären. Die Vereinigten Arabischen Emirate könnten dabei den Anfang machen: Netanjahu wollte dorthin offiziell zu einem Besuch reisen, man munkelt aber in Israel, die Reise sei verschoben – aus «technischen Gründen».