Die alte Leier von einer israelisch-amerikanischen Verschwörung war ein verzweifelter Versuch des Präsidenten, den zerrütteten Zustand seines Landes zu erklären, über das er mehr und mehr die Kontrolle verliert.
Inspiration aus Tunesien und Ägypten
In Jemen, einem Land mit 25 Millionen Einwohnern auf einer Fläche 13 mal grösser als die der Schweiz, regiert Saleh seit 32 Jahren. Drei Viertel der Bevölkerung sind unter 30 Jahre alt, die Hälfte kann lesen und schreiben. Proteste gegen die Zentralregierung, sogar bewaffnete Aufstände, gehören im 1990 vereinigten Jemen zur Tagesordnung, doch blieben sie meist lokal beschränkt.
Seit Januar fordern Demonstranten mehr Demokratie, der Protest breitet sich zunehmend aus und bringt die Regierung in Bedrängnis. Vor wenigen Tagen überreichte eine Allianz aus Oppositionspolitikern, Stammesvertretern und Religionsgelehrten dem Präsidenten einen konkreten Vorschlag, wie sein Abgang bis Ende Jahr geregelt werden soll. Wie hat diese Protestwelle begonnen und wieso konnten sie sich diesmal auf das ganze Land ausbreiten?
Am 30. Dezember 2010 hatte Salehs Partei „Allgemeiner Volkskongress“ (GPC) eine Resolution verabschiedet, welche es dem Präsidenten erlauben sollte, sich nach Ablauf seines jetzigen Mandats 2013 ohne Begrenzung für jeweils weitere vier Jahre wählen zu lassen. Über die notwendige Verfassungsänderung sollte zusammen mit den geplanten Parlamentswahlen im April abgestimmt werden. Dagegen riefen oppositionelle Parteien Anfang Januar zu Protesten auf.
Freilassung einer jungen Aktivistin erzwungen
Mitte Januar vereinte sich der Aufruhr um die politischen Manöver der Regierung mit der Unterstützung der tunesischen Revolution: Am 17. Januar, drei Tage nach Ben Alis Flucht, marschierten Hunderte von Protestierenden als Ausdruck ihrer Solidarisierung mit dem tunesischen Volk zur tunesischen Botschaft. Ein Marsch zur ägyptischen Botschaft in Sanaa Ende Januar endete in Auseinandersetzungen mit Ordnungshütern, erste Verletzte wurden gemeldet.
Am 23. Januar wurde die junge Aktivistin Tawakul Karman, eine der unerschrockensten Stimmen für Pressefreiheit in Jemen, festgenommen. Jetzt gaben Kundgebungen zur Freilassung der Menschenrechtlerin den Anlass, nach dem Ende des Regimes zu rufen, was gerade auch Frauen mobilisierte.
Als die junge Frau vier Tage später wieder freikam, stellte sie sich noch gleichen Tages an die Spitze eines Aufmarsches von angeblich 10'000 Oppositionellen und jungen Aktivisten, darunter zahlreiche Studenten, die in der Hauptstadt den Rücktritt des Präsidenten und ein Ende der Korruption verlangten. Gleichzeitig kam es in Sanaa zu einer Gegendemonstration zur Unterstützung Präsident Salehs.
Claqueure der Regierung blockieren den Tahrir-Platz
Der Februar begann mit Konzessionen der Regierung. Präsident Saleh kündigte am 2. Februar an, er werde am Ende seiner Amtszeit 2013 nicht ein weiteres Mal kandidieren. Die Demonstranten blieben unbeeindruckt, sie führten ihre Proteste weiter.
Als am 11. Februar in Ägypten Hosni Mubarak zurücktrat, lösten Sicherheitskräfte Manifestationen auf dem Tahrir-Platz in Sanaa zur Feier der ägyptischen Revolution auf. Wie in vielen arabischen Städten gibt es auch in Sanaa einen ‚Befreiungsplatz’, im Unterschied zu Kairo wird dieser allerdings seither von regierungsfreundlichen Demonstranten mit Zelten blockiert. Es wird gemunkelt, dass sie für ihr Ausharren von der Regierung mindestens teilweise mit Essen, Geld und Qat (stimulierende Blätter der gleichnamigen Pflanze) belohnt werden.
Spaltung unter den Stämmen
Ab Mitte Februar fanden auch in der südlichen Stadt Aden grosse Kundgebungen gegen die Regierung statt. Bei Zusammenstössen mit Polizeikräften und Anhängern des Regimes fanden 10 Menschen in Aden den Tod, zwei weitere starben in der Industriestadt Tais, auch in al-Mukalla kam es jetzt zu Krawallen. Die Proteste hatten sich auf alle grossen Städte des Landes ausgebreitet.
Der Tod der Demonstranten veranlasste die parlamentarischen Oppositionsparteien, sich mit der Protestbewegung zu solidarisieren. Sechs Oppositionsparteien halten zusammen die 57 der 301 Sitze im Parlament, welche nicht von der Regierungspartei Salehs besetzt sind. Unter dem Decknamen „Treffen der vereinigten Oppositionsparteien“ (JMP) erklärten sie am 19. Februar, ein Dialog mit einer Regierung, die mit Gewalt gegen muslimische Bürger vorginge, sei ausgeschlossen. Aus der Regierungspartei sind bis jetzt zehn Abgeordnete aus Protest über das gegen Demonstranten ausgetreten.
Inzwischen hat die Protestwelle die Stammesebene erreicht: Am 26. Februar entzogen Vertreter von zwei der bedeutendsten Stämme, der Haschid und Bakil, der Regierung ihre Unterstützung. Mehrere Brüder des Ahmar-Clans, der einflussreichsten Familie innerhalb der Haschid Stammesföderation, sprachen sich gegen Präsident Saleh aus. Die Loyalität wird in Jemen oft über die Stammeszugehörigkeit bestimmt. Doch die Stämme sind nicht homogen, sie vereinen kleinere Clans und Familien, deren Interessen mit der Stammeszugehörigkeit rivalisieren.
Demokratische Öffnung oder Abspaltung des Südens?
Zwar hat das Saleh-Regime noch längst nicht alle Unterstützung verloren. Dennoch ist die Spaltung der Stämme von zentraler Bedeutung, denn die Regierung in Sanaa hatte nie ein Gewaltmonopol im ganzen Staat. Zur Ausübung der Staatsmacht war sie immer auf die Zustimmung der Stämme angewiesen. Diese sehen in der Regierung nicht mehr als eine Vertretung ihrer Interessen und lassen sich ihre Loyalität bezahlen: Präsident Saleh wie auch der oppositionelle Al-Ahmar-Clan sollen dieser Tage andere Stammesführer mit Geld umwerben.
Der Protest gegen die Herrschaft Salehs wurde ursprünglich von jungen Aktivisten getragen, von den Revolutionen in Tunesien und Ägypten inspiriert, und im Namen der Demokratisierung geführt. Je mehr dieses Lager an Anhängern gewann, desto mehr vermischten sich mit der ursprünglichen Forderung der Demokratisierung lokale Beschwerden. Wenn bei Demonstrationen in südlichen Landesteilen die Flagge des ehemaligen Südjemens geschwenkt wird, ist nicht mehr klar, ob die Demonstrierenden die Öffnung des Systems oder die Abspaltung vom Norden fordern.
Mit dem Ruf nach Demokratisierung fordern immer mehr Gruppen in erster Linie den Sturz der Regierung. Ob sich ihre Interessen aber noch überschneiden werden, selbst wenn sie dieses Ziel erreichen sollten, ist nicht absehbar.
Tobias Meier ist Arabist, er hat Studien- und Arbeitsaufenthalte in Jemen verbracht.