Kaum ein Tag, an dem nicht irgendein Rundfunk- und/oder Fernsehsender oder eine Zeitung das Ergebnis der gerade neuesten demoskopischen Umfrage bekanntgibt. Ob Forsa, Dimap, Infratest, Allensbach oder Forschungsgruppe Wahlen – sie alle haben gut zu tun. Schliesslich befindet sich Deutschland in einem Superwahljahr mit insgesamt sechs Landtagswahlen (von denen mit Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz bereits zwei hinter uns liegen), 2 Kommunalwahlen und – sozusagen als Höhepunkt – die Entscheidung über einen neuen Bundestag Ende September. Immerhin steht die Frage an, wer Angela Merkel nach deren 16 Jahre währender Kanzlerschaft wohl folgen wird. Wer hat wo gerade die Nase vorn? Geht der Höhenflug der Grünen wirklich ungebremst weiter ? Wie wirkt der unionsinterne Machtkampf auf die Öffentlichkeit? Warum steigt die SPD noch immer nicht in der Wählergunst? Wie weit müssen sich Sprache und Auftreten in der AfD noch denen der braunen Horden von einst annähern, bevor versprengte Konservative merken, dass sich ihnen hier keine neue politische Heimat auftut?
Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht mit den „neuesten“ Zahlen und Ergebnissen dessen gefüttert werden, was (angeblich oder tatsächlich) Volkes Wille ist. Und es ist ja auch nicht so, dass nur „die Medien“ ganz scharf darauf wären, diese Zahlen dem „Volk“ wieder zurück zu liefern. Die „Öffentlichkeit“ geniesst das, fraglos, genauso. Selbstverständlich nicht einfach nur tabellarisch „nackt“, sozusagen. Sondern genüsslich aufbereitet und mit entsprechenden Voraussagen hinsichtlich zu erwartender Siege oder Niederlagen versehen. Der aktuelle Kampf zwischen den Vorsitzenden der CDU, Armin Laschet, und der CSU, Markus Söder, liefert dafür ein anschauliches Beispiel. Er ist geradezu ein Musterbeispiel dafür, wie Meinungsumfragen in den absoluten Mittelpunkt einer wichtigen politischen Auseinandersetzung gerückt wurden. Wohlgemerkt: Einer Entscheidung über Personen, nicht über Inhalte wie zum Beispiel vielleicht unterschiedliche Vorstellungen hinsichtlich der innen-, aussen-, sicherheits-, wirtschafts-, gesellschafts-, sozial- und europapolitischen Ausgestaltung unseres Landes.
Was sich zwischen den beiden Unions-Häuptlingen mitsamt ihren jeweiligen Entouragen auf der politischen Bühne abspielt, ist ein Lehrstück (und zwar nicht nur für kommende Generationen) für grundsätzliche Strategien zu einer Ansprache von Wählern mit dem Ziel, deren Zustimmung für die eigenen Positionen zu gewinnen. Aber, andererseits, auch dem Festhalten an traditionellen, innerparteilichen Hierarchien bei letztendlichen Entscheidungen über die Besetzung von Spitzenämtern in Partei und Staat.
Armin Laschet bewegt sich auf der traditionellen Bahn. Die übrigens in den Parteistatuten so festgeschrieben ist. Für ihn ist entscheidend, wie Präsidium und Vorstand der Bundes-CDU votiert haben. Nämlich (ausgenommen eine Stimme) zu seinen Gunsten. Mochten, vor diesem Hintergrund, die Meinungsumfragen selbst unter den „eigenen“ Leuten für ihn auch noch so ungünstig aussehen. Für Söder hingegen gilt das genaue Gegenteil. Aus seiner Sicht der Dinge sind die parteilichen Spitzengremien zwar nicht unwichtig, aber eben nur ein Teil der öffentlichen Meinungsbildung. Und da – nämlich auf der Popularitätsskala sowohl der Unions-Anhänger als auch der Gesamtbevölkerung – zeigt sich in der Tat schon seit geraumer Zeit, dass der Bayer aus Franken um Längen dem Mann aus Aachen voraus ist.
Vox populi vox dei – Volkes Stimme ist Gottes Stimme. Dieser Artikel hat nicht die Absicht, Partei für den einen oder anderen Möchtegern-Kanzlerkandidaten bei CDU und CSU zu ergreifen. Aber die eine oder andere Bemerkung zu Vorgängen und Aussagen aus der manchmal gar noch nicht so sehr weit zurückliegenden Vergangenheit drängen sich ganz einfach auf. Da wäre das Jahr 2018 mit dem Bewerber um den Posten des bayerischen Ministerpräsidenten, Markus Söder. Die ganzen Wochen über bis zum „Stichtag“ warnte Söder seinerzeit in jedem Zeitungs- oder Rundfunkinterview – von der „Passauer Neuen Presse“ bis zum ARD-„Morgenmagazin“ – vor einer Überbewertung der demoskopisch ermittelten Zahlen. Wörtlich: „Ich wundere mich über die Demoskopie-Gläubigkeit der Deutschen.“ Zur Erinnerung allerdings auch: Damals war Markus Söder auf der Popularitäts-Skala sowohl in der weiss-blauen Alpenrepublik als auch darüber hinaus der bei Weitem unbeliebteste Politiker in Deutschland . Das ist mal gerade drei Jahre her, zeigt aber die Wankelmütigkeit von „Volkes Stimme“.
Das Beispiel beweist indes zugleich (und zwar abseits der aktuellen Kandidaten-Diskussion), wie problematisch es ist, wichtige und damit in aller Regel umstrittene Entscheidungen entlang von Meinungsumfragen zu treffen. Der legendäre langjährige CSU-Vorsitzende und begnadete Rhetoriker, Franz Josef Strauss prägte einmal den eingängigen Satz: „Wer immer everybody’s darling sein will, ist ganz schnell everybody’s Depp.“ Will sagen, es kann sich leicht als falsch, ja vielleicht sogar verhängnisvoll für den Staat erweisen, wenn nicht Vernunft (gepaart mit Mut) die Grundlage bedeutsamer politischer Beschlüsse bildet, sondern eine momentane Mehrheitsstimmung in der Bevölkerung.
Ein Blick in die Geschichte der Bundesrepublik zeigt, dass viele (möglicherweise sogar die meisten) der im Sinne des Wortes „historischen“ Richtungen entgegen den Mehrheitsstimmungen hierzulande eingschlagen wurden. Beispiele: Einführung der Sozialen Marktwirtschaft anstatt einer staatlich gelenkten Ökonomie, Westbindung der Bundesrepublik statt Neutralität, Wiederbewaffnung und NATO-Beitritt, Verabschiedung der Notstandsgesetze als Voraussetzung für das Erlangen weiterer Souveränität, Umsetzung des NATO-Doppelbeschlusses zur Stationierung nuklearer Kurz- und Mittelstreckenraketen, was letztlich bei Michail Gorbatschow zum Umsteuern im Rüstungswettstreit und später zur deutschen Wiedervereinigung führte.
Das war, kein Zweifel, manchmal ein Ritt auf der Rasierklinge. Nicht immer mit gutem Ausgang für die Hauptbeteiligten. Helmut Schmidt, im späteren Alter von den Sozialdemokraten fast zum Partei-Heiligen erhoben, wurde 1982/83 von denselben Genossen nicht zuletzt wegen der von ihm erarbeiteten und befolgten Sicherheitspolitik in die Wüste geschickt. Und praktisch zur gleichen Zeit gewann der als „Provinzler“ verspottete Helmut Kohl – gegen den angeblich erbitterten Widerstand von 75 Prozent der deutschen Bevölkerung – die vorgezogenen Bundestagswahlen. Und auch die Freien Demokraten überlebten, obwohl wegen ihres damaligen Koalitionswechsels von der SPD zur CDU/CSU in weiten Teilen der Deutschen als „Verräter“ gebrandmarkt und von den Demoskopen praktisch für tot erklärt.
Nochmal also: Volkes Stimme über alles? Wer die Popularitätskurven der beiden Unions-Schwergewichte über Wochen verfolgt hat, kommt an der Erkenntnis nicht vorbei, dass Markus Söder stets weit vor Laschet rangierte. Das ist insofern bemerkenswert, als der Münchener Regierungschef auf Fragen nach seiner Zukunft immer mit dem Standardsatz antwortete: „Mein Platz ist in Bayern.“ Den Anspruch auf die Kanzlerkandidatur meldete er, für nicht wenige überraschend, erst vor ein paar Tagen an. Seine Hauptargumente erneut: Der in Meinungsbefragungen durchdringende angebliche Ruf der Bevölkerung sowie der darin zusätzlich erkennbare Vertrauensbeweis zu seinen Gunsten. Was hat das Laschet-Lager dem entgegenzustellen? Vertrauen, schallt es von dort, setze doch Gradlinigkeit voraus. Siehe „mein Platz ist in Bayern“.
Ein Blick in die Vergangenheit weist allerdings auch aus, dass die Demoskopie keineswegs immer richtig lag. Und dass die zum Zeitpunkt der Befragungen gewiss korrekten Ergebnisse am Ende oft nicht mehr galten. Armin Laschet bietet ein gutes Exempel dafür. Bei der Landtagswahl im Mai 2017 gewann er, obwohl über viele Monate in der Meinungsgunst weit abgeschlagen hinten liegend, gegen die beliebte „Landesmutter“ Hannelore Kraft und die von ihr geführte rot-grüne Düsseldorfer Regierung. Ein Jahr später konnte Markus Söder die CSU zwar gerade noch als stärkste Kraft im bayerischen Land über die Ziellinie retten, allerdings nur mit dem schlechtesten Ergebnis in deren Geschichte. Damals galt er den Demoskopen als mit Abstand unbeliebtester Politiker, heute dagegen als genaues Gegenteil. Vox populi …
Weitere Beispiele für Wahlüberraschungen? Im Mai 2017 eroberte der bis dahin praktisch noch unbekannte junge CDU-Politiker Daniel Günther den bis dahin von der SPD bestimmten Kieler Landtag und bildete (weitere Überraschung) eine Koalition mit den Grünen und der FDP. Im Saarland konnte 2018 der ebenfalls noch junge CDU-Politiker Tobias Hans beim Wechsel von Annegret Kramp-Karrenbauer ins Bundeskabinett nach Berlin deren Nachfolge als Ministerpräsident antreten und die Grosse Koalition mit der SPD fortsetzen. Bei den Landtagswahlen 2019 in Brandenburg und Sachsen hingegen lagen die Meinungsforscher mit ihren Voraussagen meilenweit daneben und hatten grosse Mühe, die Gründe dafür zu benennen.
Volkes Stimme oder Vorsicht bei Vorhersagen? Es wäre gewiss nicht dumm, wenn beides beim Blick auf die Wahlen in den Ländern und im Bund mit Bedacht geschähe.