„Nie zuvor in der Geschichte des Menschen“, schrieb der englische Historiker Geoffrey Barraclough, „hat sich ein so revolutionärer Umschwung in so kurzer Zeit vollzogen.“
Im französischen Kolonialreich gestaltete sich dieser Vorgang der Entkolonialisierung besonders schwierig. Frankreich hatte im Krieg eine wenig rühmliche Rolle gespielt, und man dachte nicht daran, dem Schwund des internationalen Prestiges noch den Verlust der Kolonien anzufügen.
Zwar räumte man den Überseegebieten nach 1945 ein beschränktes Mitspracherecht ein, aber von der Gewährung der Selbstverwaltung oder der Unabhängigkeit war man weit entfernt. Die überseeische Emanzipationsbewegung liess sich jedoch auch hier nicht aufhalten.
Dien Bien Phu - der Anfang vom Ende der Kolonialherrschaft
Im Jahre 1954 wurden die französischen Streitkräfte, welche während über sieben Jahren versucht hatten, die frühere Kolonie Indochina zurück zu erobern, bei Dien Bien Phu vernichtend geschlagen. Das war der Anfang vom Ende französischer Kolonialherrschaft.
Zwei Jahre später musste das „Mutterland“ Tunesien und Marokko in die Unabhängigkeit entlassen. Komplizierter lagen die Dinge in Algerien, waren hier doch rund zehn Prozent der Gesamtbevölkerung französische Siedler. Während in den fünfziger Jahren immer grössere Truppenkontingente nach Algerien entsandte wurden, um Aufstände niederzuschlagen und den Terrorismus zu unterdrücken, wuchs in Paris der Widerstand gegen den Kolonialismus.
Die Kommunistische Partei und die Mehrzahl der Intellektuellen traten für die völlige Unabhängigkeit Algeriens ein, während die bürgerliche Rechte zwar Reformen befürwortete, an der „Algérie française“ aber festhielt. So sehr spitzte sich diese Polarisierung zu, dass der Bürgerkrieg drohte. Wieder war es General Charles de Gaulle, der als Retter auftrat. Im Mai 1958 übernahm er in aussichtslos scheinender Lage die Macht, und es gelang ihm unter grossen Schwierigkeiten, Algerien in die Unabhängigkeit zu entlassen und die Ruhe im Mutterland wiederherzustellen.
"Die Verdammten dieser Erde
Zu den wichtigsten Vorkämpfern des Antikolonialismus in Frankreich gehörte der Schriftsteller und Philosoph Jean-Paul Sartre. Sartre war als Verfasser von Romanen und Bühnenstücken mit kommunistischer Tendenz einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden. Zwischen 1954 und 1964 verfasste er mehrere Texte, die sowohl den Kolonialismus grundsätzlich in Frage stellten als auch die Mittel der Kolonisierung, militärische Unterwerfung und politische Zwangsmassnahmen, einer scharfen Kritik unterzogen.
Schon 1957 wies Sartre in einem Aufsatz seiner Zeitschrift Les temps modernes auf die offene Wunde des Algerienproblems hin und geisselte die Untaten von Kolonialverwaltung und Armee. Vier Jahre später schrieb er das Vorwort zu einem Buch des Kolonialismuskritikers Frantz Fanon, das den Titel Les damnés de la terre trug. Dieses Vorwort, das Fanons Thesen zusammenfasst, ist in der Folge berühmter geworden, als das Buch selbst.
Kaum je ist im 20. Jahrhundert die Kritik am Kolonialismus so leidenschaftlich und in sprachlich so brillanter Form vorgetragen worden. Sartres Text wurde von ihm selbst mehrfach wieder verwendet und, losgelöst von Fanons Buch, nachgedruckt.
Jean-Paul Sartre traf den Verfasser der Verdammten dieser Erde im Sommer 1961 in Rom. Frantz Fanon stammte aus Martinique, hatte in Frankreich Medizin studiert und war in Algerien Chef der Psychiatrie-Abteilung eines Krankenhauses gewesen. Diese Stellung hatte er aufgegeben, um sich für die algerische „Nationale Befreiungsfront“ (FLN) zu engagieren. Zum Zeitpunkt der Begegnung mit Sartre litt Fanon an fortgeschrittener Leukämie, und er hatte nur noch wenige Monate zu leben.
Die beiden, der Schriftsteller und der Arzt, diskutierten stundenlang über den Kolonialismus und das Algerienproblem und entdeckten die wechselseitige Übereinstimmung ihrer Auffassungen. Sartres Freundin Simone de Beauvoir, welche diesen Gesprächen beiwohnte, schrieb später über Fanon: „Er besass eine scharfe, ungemein lebhafte, von einem düsteren Humor begleitete Intelligenz. Er erklärte, fiel ins Wort, machte sich lustig, erzählte – und alles, wovon er sprach, wurde gegenwärtig.“
"Kämpfen wir! Wenn Waffen fehlen, siegt das Messer"
Sartres Vorwort beginnt mit der lapidaren Feststellung, dass die unterdrückten Völker dieser Erde in der Persönlichkeit von Frantz Fanon ihren Sprecher und dank ihm ihre eigene Sprache gefunden hätten. Die Menschen der Dritten Welt, so Sartre, nähmen die humanitären Werte, die Europa ihnen vorgespiegelt habe, nun auf eine neue und revolutionäre Art ernst und setzten sie in gemeinsamem Widerstand gegen ihre Unterdrücker ein. In Anlehnung an Karl Marx’ Schlusswort des Kommunistisches Manifests erhöben diese Völker nun gemeinsam ihre Stimmen zu dem Aufruf: „Eingeborene aller unterentwickelten Länder dieser Welt, vereinigt Euch!“
Das Vorwort ist getragen vom flammenden Pathos einer Auflehnung, mit der Sartre sich voll und ganz solidarisiert. Der grosse Augenblick für die Befreiung der Dritten Welt, stellt er fest, sei nun, in der Zeit des Kalten Krieges, gekommen. Der Augenblick sei günstig: Nichts geschehe in Bizerta, in Elisabethville, im algerischen Hinterland, das nicht überall auf der Welt bekannt würde. Es gelte von der Lähmung der gegnerischen Machtblöcke, die sich gegenseitig in Schach hielten, zu profitieren. Es gelte, in die Geschichte einzutreten, die durch diesen Eintritt erstmals wirklich zur Universalgeschichte würde. „Kämpfen wir“, schreibt Sartre, „wenn andere Waffen fehlen, wird das Messer obsiegen.“
Der faule, diebische Eingeborene
In Anlehnung an Fanon kommt Sartre auf eine der innovativsten Thesen dieses Autors zu sprechen, darauf nämlich, dass der Eingeborene durch die koloniale Ausbeutung das Wesen des Erniedrigten, Entmündigten, Versklavten annimmt, dass er faul, heimtückisch und diebisch wird, was dem Ausbeuter wiederum zur Rechtfertigung seiner Ausbeutung dient.
Der Eingeborene wird, so Sartre, „das Opfer einer Neurose, die vom Kolonisator erzeugt und von diesem mit dem Einverständnis des Opfers weiter gefördert wird“. Aber eines Tages wird sich der Hass, des Eingeborenen wichtigstes Gut, ungeachtet der militärischen Überlegenheit des Kolonisators, entladen. In seiner Auflehnung erfährt sich der Eingeborene als neuer Mensch. „Wir haben“, schreibt Sartre, Wind gesät; der Eingeborene aber ist der Sturm. Als Sohn der Gewalt bezieht er aus der Gewalt seine Menschlichkeit. Wir waren Menschen auf seine Kosten; er wird ein anderer, besserer Mensch auf unsere Kosten sein.“
Jean-Paul Sartre teilt ganz die bedingungslose Radikalität von Frantz Fanon. Die Zeit für koloniale Reformen und Halbheiten ist endgültig vorbei. Die Beseitigung des Kolonialismus ist nicht möglich, ohne eine radikale Erneuerung auch der Eingeborenengesellschaft. Diese Erneuerung kann nicht von jenen Kolonisierten ausgehen, die fügsam gemacht wurden und zu Helfershelfern der Imperialisten geworden sind. Es muss sich vielmehr um eine soziale Revolution handeln, getragen von jenen Algeriern, deren Produktivkräfte der Kolonist rücksichtslos ausgebeutet hat: von der Bauernschaft. „Die Bauernschaft“, schreibt Sartre, „wird sehr rasch zur radikalen Klasse werden. Sie ist es, welche die nackte Unterdrückung kennt und weit mehr darunter leidet als die Arbeiterschaft der Städte. Es ist nicht weniger nötig als die Aufbrechung aller Strukturen. Wenn sie triumphieren will, muss die nationale Revolution eine sozialistische sein.“
"Welch ein Geschwätz von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit..."
Und die Europäer? In seinem abschliessenden Sätzen zeigt Sartre, dass die Befreiung der Kolonien nicht spurlos am Kolonialherrn vorübergehen wird. „Auch wir Menschen in Europa“, schreibt er, „werden dekolonisiert werden müssen, was bedeutet, dass man durch eine blutige Operation den Kolonisten beseitigt, der in jedem von uns ist.“ Der Europäer habe bisher in der Lüge gelebt: „Welch ein Geschwätz von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Liebe, Ehre, Vaterland, und von was allem noch.
Das hinderte uns nicht, zur gleichen Zeit rassistische Reden zu halten, "schmutziger Neger, schmutziger Jude, schmutzige Ratte.“ Nun sei man mit dem „Strip-Tease des eigenen Humanismus“ konfrontiert. Aber dies würde noch nicht überall realisiert. Noch verharrten die Kolonialherren in ihrer Verlogenheit, und die Politik des „grossen Hexenmeisters“ – des Staatspräsidenten de Gaulle – führe nicht aus der Dunkelheit heraus.
Doch Sartre bleibt zuversichtlich, dass gerade die Befreiung der Dritten Welt auch Europa den Weg zur Erneuerung weist. „Die Zeit nähert sich“, schliesst er, „da wir uns denen anschliessen, die Geschichte machen.“
Jean-Paul Sartres Vorwort zu den Verdammten dieser Erde erinnert an einen andern berühmten Appell, auf den sich die Franzosen gern berufen, wenn von politisch engagierter Literatur die Rede ist. Im Jahre 1898 setzte sich der Schriftsteller Emile Zola in einem Zeitungsartikel unter dem Titel J’accuse! mit vergleichbarer Leidenschaftlichkeit für den Hauptmann Alfred Dreyfus ein, den man zu Unrecht der Spionage bezichtigt hatte.
Der Artikel führte zu heftigen Diskussionen in der französischen Öffentlichkeit, und Dreyfus wurde schliesslich freigesprochen. Dem Antikolonialismus, wie ihn Sartre vertrat, war ein derart überzeugender Erfolg nicht beschieden. Zwar errang Algerien im März 1962 in den Verträgen von Evian seine Unabhängigkeit; aber das Land hat seither weder seine innere Ruhe noch seine wirtschaftliche Prosperität gefunden. Es ist nicht, wie Fanon und Sartre dies in Anlehnung an Mao Tse-tung forderten, die Bauernschaft gewesen, welche die Macht übernommen hat. Die Dekolonisierung in Algerien und anderswo hat nicht zur Weltrevolution und kaum zu einem Umdenken der Europäer geführt, ist doch der Neokolonialismus, gerade auch in Frankreichs Überseepolitik, allgegenwärtig geblieben.