Gibt es einen europäischen Intellektuellen, der die Öffentlichkeit seines Landes so lange und so intensiv beschäftigt, angeregt und irritiert hat wie Jean-Paul Sartre? Während Jahrzehnten blieb der französische Philosoph und Schriftsteller im Geistesleben seines Landes omnipräsent. Überall, wo philosophische und politische Fragen diskutiert wurden, meldete sich Sartre zu Wort, schrieb Artikel, hielt Vorträge, gab Interviews, unterzeichnete Manifeste. Er tat dies mit einer Leidenschaftlichkeit, die keine Rücksichten kannte. Nicht immer war er im Recht, aber er liess niemanden gleichgültig.
Er führte den deutschen Existentialismus in Frankreich ein, erregte Aufsehen mit seinen Romanen und hatte Erfolg mit seinen Theaterstücken. Und er engagierte sich politisch. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er das Sprachrohr der intellektuellen Linken, ohne zum Parteigänger des Sowjetkommunismus zu werden. Als die Russen 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei einfielen, ging Sartre auf Distanz zur KPF, blieb aber ein radikaler Linker mit einer Neigung zum Anarchismus. Im Algerienkrieg kritisierte er die Foltermethoden des französischen Militärs und trat für die Unabhängigkeit der französischen Kolonie ein. Zusammen mit dem englischen Philosophen Bertrand Russell wurde er zu einem der schärfsten Kritiker des amerikanischen Engagements im Vietnamkrieg. In den Pariser Mai-Unruhen des Jahres 1968 stellte Sartre sich an die Seite der revoltierenden Studenten und hielt eine flammende Rede im grossen Hörsaal der Sorbonne. In den siebziger Jahren zeigte er Verständnis für die linksterroristische „Rote Armee Fraktion“ in Deutschland und erregte Aufsehen, als er deren Gründer Andreas Baader im Gefängnis Stuttgart-Stammheim besuchte. Mit seiner langjährigen Lebensgefährtin Simone de Beauvoir, die er 1929 kennengelernt hatte, reiste Sartre durch die Welt, traf in Kuba Fidel Castro und Ché Guevara, in Russland Chruschtschow, in China Mao Tse-tung. Seine beharrliche Abneigung galt dem General de Gaulle, den er beschuldigte, Frankreich in die Diktatur zu führen. Der Staatspräsident scheint den Schriftsteller trotz dessen erbitterter Gegnerschaft respektiert zu haben. Eine Anekdote will, dass de Gaulle, als man ihm riet, Sartre zu verhaften, entgegnete: „On n’arrête pas Voltaire.“
Er hasste alles Seriöse am Leben
Das Leben des Philosophen und Schriftstellers, der 1905 in Paris geboren wurde und 1980 dort starb, ist in einem andern Umfeld als im nervösen geistigen Klima der französischen Metropole nicht vorstellbar. Seine Kindheit und Jugend hat Sartre in seinem autobiografischen Werk „Die Wörter“ dargestellt. Man kann dort nachlesen, dass die beiden Hauptbeschäftigungen in Sartres Leben das Lesen und das Schreiben waren. Der begabte junge Mann durchlief die Schulen ohne Schwierigkeit. An der renommierten „École normale supérieure“ freundete er sich mit Raymond Aron an, dem späteren Soziologen und seinem schärfsten politischen Gegner. In ihren Memoiren äusserte sich Simone Beauvoir so über ihren Lebenspartner: „Er hatte nicht vor, ein zurückgezogenes Leben zu führen. Er hasste die Routine, die Hierarchien, die Karrieren, die Gesetze und die Pflichten, alles Seriöse am Leben.“
Nachdem er seine Prüfung für das höhere Lehramt bestanden hatte, wurde Sartre 1931 Professor für Philosophie am Lycée von Le Havre. Die Schüler schätzten seine herzliche Autorität und seinen Nonkonformismus. In Le Havre begann Sartre mit den Vorarbeiten zu dem Roman, der schliesslich den Titel „Der Ekel“ tragen sollte. Das Jahr, in dem Hitler an die Macht kam, verbrachte er am „Institut français“ in Berlin und arbeitete an seinem Buch. Den Nationalsozialismus lehnte er ab und hielt ihn, wie viele andere zeitgenössische Betrachter, für ein vorübergehendes Phänomen. Nach Le Havre zurückgekehrt, reichte er das Manuskript seines Buches unter dem Titel „Melancholia“ im Gallimard Verlag ein und erhielt eine Absage. Der zweite Versuch war erfolgreich; das Buch trug nun den Titel, unter dem es berühmt geworden ist.
Radikalste Absage an das Bürgertum
Jean-Paul Sartres Roman hat die Form eines Tagebuchs. Verfasser des Tagebuchs und Hauptfigur ist der 35jährige Historiker Antoine Roquentin. Er arbeitet in der städtischen Bibliothek der fiktiven Hafenstadt Bouville, in der man unschwer Le Havre erkennt. Seine Forschungen gelten einer Figur des 18. Jahrhunderts, dem Marquis de Rollebon. Roquentin lebt in einem kleinen Zimmer des Hotels „Printania“ mit trostlosem Blick auf eine Tramhaltestelle, den Bahnhof und das Bahnhofrestaurant. Er meidet den Umgang mit Menschen. Hin und wieder schläft er mit Françoise, der Wirtin des Bahnhofrestaurants. In der Bibliothek lernt er einen Sonderling kennen, den „Autodidakten“, der sich zu bilden sucht, indem er in alphabetischer Reihenfolge die Werke wichtiger Autoren liest.
„Der Ekel“ enthält die radikalste Absage an das Bürgertum und die bürgerliche Existenz mit ihren Glaubensformen, Wertvorstellungen und Konventionen, die sich denken lässt. Diese Absage geht weit über die Gesellschaftskritik hinaus, die zu den geistigen Grundtendenzen der Zwischenkriegszeit gehörte. Bei einem Besuch des Museums von Bouville betrachtet Roquentin die Porträts der Honoratioren, die sich um die Stadt verdient gemacht haben. Er gibt sich davon Rechenschaft, dass die durch Ordnung, Planbarkeit und Erfolg bestimmte Existenz dieser würdigen Herren sich von seiner eigenen Existenz grundsätzlich unterscheidet. „Ich war mir immer dessen bewusst gewesen“, schreibt er ins Tagebuch, „ich hatte kein Recht zu existieren. Ich war zufällig erschienen, ich existierte wie ein Stein, eine Pflanze, eine Mikrobe. Mein Leben wuchs aufs Geratewohl und in alle Richtungen. Es gab mir manchmal unbestimmte Signale, dann fühlte ich nichts als ein Summen ohne Bedeutung.“ Roquentin verlässt die Porträtgalerie mit dem Gefühl heftigsten Widerwillens. „Lebt wohl“, notiert er ins Tagebuch, „ihr schönen Lilien, unser Stolz und unsere Daseinsberechtigung, lebt wohl ihr Schweine.“
Vollkommene Grundlosigkeit
Eines Tages treffen sich Roquentin und der „Autodidakt“ zu einem Gespräch beim Mittagessen. Der Historiker betrachtet die andern Gäste mit demselben Missfallen wie zuvor die Porträts im Museum. „Ich lasse meine Augen durch den Raum schweifen“, notiert er sich, „es ist eine Farce! Alle diese Leute sitzen mit ernsten Mienen da, sie essen. Nein, sie essen nicht: sie stellen ihre Kräfte wieder her, um die Aufgabe auszuführen, die ihnen obliegt. Jeder von ihnen hat seinen persönlichen Starrsinn, der ihn hindert zu bemerken, dass er existiert; da ist nicht einer, der sich nicht für unentbehrlich hält, für irgendetwas oder für irgendjemand.“ Der „Autodidakt“ versucht, Roquentin von solchen düsteren Gedanken abzubringen. Er erzählt ihm aus seinem Leben und bekennt sich zum Humanismus. Im Krieg sei er gefangen genommen worden und habe in Gefangenschaft gelernt, an den Menschen zu glauben. Der „Autodidakt“ ist Mitglied der sozialistischen Partei. Er liebt die Menschheit und gibt sich viel vergebliche Mühe, Roquentin zu erklären, dass man die Menschen lieben müsse. Da steigt im Historiker dieser Ekel auf, der dem Buch seinen Namen gegeben hat. Er erkennt, was seine Existenz von der Existenz der andern trennt, er begreift seine eigene Unzugehörigkeit. Brüsk wendet er sich vom „Autodidakten“ ab und verlässt das Lokal fluchtartig.
Im Stadtpark sinnt Roquentin über eine Welt nach, die er als absurd empfindet und über sein persönliches Schicksal, das er als zufällig und ohne vorgegebenen Sinn, als „kontingent“, wahrnimmt. Er formuliert seine Einsichten, die zu einer Art von Credo der Existenzphilosophie geworden sind. „Das Wesentliche“, schreibt Roquentin in sein Tagebuch, „ist die Kontingenz. Ich will sagen, dass die Existenz ihrer Definition nach nicht die Notwendigkeit ist. Existieren, das ist dasein, ganz einfach; die Existierenden erscheinen, lassen sich antreffen, aber man kann sie nicht ableiten. Es gibt Leute, glaube ich, die das begriffen haben. Nur haben sie versucht, diese Kontingenz zu überwinden, indem sie ein notwendiges und sich selbst begründendes Sein erfanden. Doch kein notwendiges Sein kann die Existenz erklären; die Kontingenz ist kein Trug, kein Schein, den man vertreiben kann; sie ist das Absolute, folglich die vollkommene Grundlosigkeit.“
Leerer Blick auf ein Bierglas
Jean-Paul Sartres berühmtester Roman schildert eine individuelle Befindlichkeit, aber er bietet keine Lösungen an. Der Leser erfährt, dass Roquentins Einsicht in das Wesen seiner Existenz einen Nullpunkt darstellt, von dem aus ein neues Leben anfangen muss und möglich wird. Wie dieses Leben aussehen könnte, erfährt der Leser nicht. Roquentin gibt die Arbeit an einer Biografie des Marquis de Rollebon auf, denn, so stellt er fest: „Nie kann die Existenz eines Existierenden die Existenz eines anderen Existierenden rechtfertigen.“ Roquentin trifft auf seine frühere Freundin Annie, aber sie haben sich nichts mehr zu sagen. Zuweilen erfasst ihn ein neues Gefühl der Befreiung. „Ich bin frei“, notiert er, „ich habe keinen einzigen Grund mehr zu leben, alle, die ich ausprobiert habe, haben versagt, und ich kann mir keine anderen mehr ausdenken.“ Er verabschiedet sich von der Wirtin, die bereits einen neuen Beischläfer gefunden hat. Sie legt ihm zum Abschied seine Lieblingsplatte auf, einen amerikanischen Schlager, gesungen von einer schwarzen Sängerin: „Some of these days / You’ll miss me, honey.“ Eine leise Ahnung von Glück kommt auf, doch die Platte kratzt. Ganz am Schluss des Romans meldet sich die leise Hoffnung, Roquentin könnte seinem bisherigen Leben einen Sinn geben, indem er ein Buch schriebe: „Ein Buch. Ein Roman. Und es gäbe Leute, die diesen Roman läsen, und die sagen würden: ‚Antoine Roquentin hat ihn geschrieben, das war ein rothaariger Typ, der in den Cafés herumhing...‘“
Als „Der Ekel“ (La Nausée) im Jahre 1938 erschien, wurde er von der Kritik allgemein gelobt. Man erkannte, dass hier neue Möglichkeiten literarischer Darstellung erprobt wurden und verglich Sartre mit Kafka. Näher liegt der Vergleich mit Rilkes Tagebuchroman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“, den Sartre in französischer Übersetzung gelesen hatte. Sein Roman war auch ein bemerkenswerter Publikumserfolg, doch die politische Lage verhinderte eine Wirkung über Frankreichs Grenzen hinaus. Dies änderte sich in der Nachkriegszeit. Nun entfaltete „Der Ekel“, begünstigt durch die Zeitumstände, eine Breitenwirkung, wie sie in der Geschichte der europäischen Literatur seit Goethes „Werther“ nie mehr erreicht worden ist. Während sich die Professoren der Universitäten in gelehrten Streitgesprächen über das Wesen des Existentialismus zu verständigen suchten, entwickelte sich die philosophische Botschaft, die Sartre in seinen Roman hatte einfliessen lassen, zur Lebensform. Überall in Westeuropa sah man in den fünfziger Jahren einsame und ungepflegte junge Männer mit schulterlangem Haar in Cafés und Kneipen sitzen, den leeren Blick auf ein Bierglas gerichtet und den Ausdruck angeekelten Widerspruchs im bleichen Gesicht. Es ist gesagt worden, der Existentialismus sei damals neben der Mode der wichtigste Exportartikel Frankreichs gewesen.
Mutiges Eintreten für die Unabhängigkeit Algeriens
Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte Jean-Paul Sartre seine schriftstellerische Laufbahn mit sehr erfolgreichen Theaterstücken fort und konnte es sich leisten, 1964 den Nobelpreis abzulehnen. Zugleich engagierte er sich politisch. Zuweilen vergaloppierte er sich, und seine Polemik stiess ins Leere. Am überzeugendsten war seine resolute Kritik am Kolonialismus und sein mutiges Eintreten für die Unabhängigkeit Algeriens. Berühmt wurde das Vorwort, das Sartre zum Buch „Die Verdammten dieser Erde“ des aus Martinique stammenden Antikolonisten Frantz Fanon schrieb. Darin stehen die Worte: „Haut auf die Pranken ein, die Europa auf eure Kontinente gelegt hat, und zwar solange, bis es diese Pranken zurückzieht. Der Augenblick ist günstig: Nichts geschieht in Bizerta, in Elisabethville, im algerischen Hinterland, das nicht überall auf der Welt bekannt würde. Es gilt, von der Lähmung der Machtblöcke, die sich gegenseitig im Schach halten, zu profitieren. Es gilt, in die Geschichte einzutreten, die durch diesen Eintritt erstmals zur Universalgeschichte wird. Kämpfen wir; wenn andere Waffen fehlen, wird das Messer obsiegen.“