Nicht einmal fünf Millionen Menschen bekennen sich, vor allem in Indien, zum Jainismus. Und hierzulande weiss kaum jemand, was Jainismus ist. Im Museum Rietberg gibt es dazu bereichernde Informationen.
Nein, nicht Buddha ist dargestellt, auch wenn die Figur ihm ähnlich sieht und beinahe so sitzt wie Buddha. Und nein, Götter spielen im Jainismus keine oder höchstens eine untergeordnete Rolle, obwohl auf einer Homepage viel von ihnen die Rede ist.
Die Jains verehren Tirthankaras («Furtbereiter»), Menschen, die zwischen materieller und spiritueller Welt vermitteln. 24 solche Tirthankaras sind es, welche die heiligen Schriften dieser Religion beschreiben. Der bedeutendste und letzte von ihnen ist Mahavira (um 599–527 v. Chr.), Er gilt als Begründer des Jainismus. Sein Ehrentitel Jina bedeutet «der Sieger». Fassbar wird der Jainismus etwa gleichzeitig mit dem Buddhismus. Beide Religionen – wobei der Begriff Religion hier unpräzis ist – haben Gemeinsamkeiten. Beide entstanden vor dem Hintergrund des Hinduismus. Der Buddhismus steht dabei in Opposition gegen die Hierarchie des Brahmanentums und lehnt die Existenz einer individuellen Seele ab. Der Jainismus steht dem Hinduismus näher und kennt die Existenz einer Seele, die sich in leidvollen Prozessen der Wiedergeburten läutern muss. Er ist in seiner Praxis in manchem weit rigoroser als der Hinduismus, dessen bunte Göttervielfalt er – wie der Buddhismus auch – nicht kennt.
Ehrfurcht vor jedem Leben
Der da im Meditationssitz ruht beinahe wie Buddha, in Marmor gehauen im 14. Jahrhundert, wurde von Eduard von der Heydt dem Museum Rietberg geschenkt. Er hat die Augen geschlossen und trägt auf der Brust als Glückszeichen ein Juwel. Es ist Jina Mahavira. Eine andere Statue aus schwarzem Stein stammt aus dem 12. Jahrhundert und zeigt den gleichen Jina, nackt, aufrecht stehend unter einer Art Kuppel aus Schirmen und flankiert von kleinen Assistenzfiguren.
Das Manjusha-Museum in Dharmasthala im indischen Karnataka lieh das Kunstwerk für die Ausstellung «Jain sein» im Rietbergmuseum in Zürich aus. Die Ausstellung informiert mit der Präsentation von Kunstschätzen wie Skulpturen, Büchern, Bildern, aber auch mit zahlreichen erklärenden Schrifttafeln, mit Filmen heutiger Religionspraxis und mit Zeugnissen heutiger Gläubiger über das Leben als Jain und über den Jainismus, zu dem sich weltweit nicht einmal fünf Millionen Menschen bekennen. Der wohl weltweit berühmteste Inder bis heute – Mahatma Gandhi, den Churchill verächtlich einen halbnackten Fakir nannte – stand dieser Religion nahe, deren Anhänger eine radikale Gewaltlosigkeit zu leben versuchen.
Im Zentrum des Jainismus stehen neben Gewaltlosigkeit Verzicht sowie Ehrfurcht vor jedem Leben. Mit dieser Ehrfurcht ist der Wille verbunden, nicht nur keinem Menschen, sondern überhaupt keinem Lebewesen irgendein Leid zuzufügen. Jains nutzen deshalb keine Tierprodukte, kein Leder und keine Seide. Selbstverständlich ist ihre Ernährung vegetarisch oder vegan. Sie beschäftigen sich beruflich vor allem mit seelenlosem Material und treiben Handel mit Metall und Edelsteinen. Viele Jains sind Juweliere, Goldschmiede oder IT-Fachleute. Und viele sind wirtschaftlich erfolgreich.
Kaum Individualität
Im Zentrum der Ausstellung steht nicht die im Zusammenhang mit dem Jainismus entstandene Kunst, sondern der Jainismus selber. Kunst ist aber nicht an den Rand gedrängt. Die Ausstellung bringt die beiden erwähnten Skulpturen und auch andere Kunstwerke bestens zur Geltung – so auch die ebenfalls im 12. Jahrhundert entstandene Marmorskulptur des stehenden Jina Shanti, die auch von Indien den Weg in die Zürcher Ausstellung fand, sowie zahlreiche weitere Objekte, Malereien, Handschriften mit heiligen Texten des Jainismus wie das in der Parkvilla gezeigte Kalpasutra und in Gold gefertigtes Kultgerät sowie ein wunderbar mit Schnitzereien ornamentierter Hausschrein aus Holz aus dem 17. Jahrhundert.
Ein Blick vor allem auf die skulpturalen Werke überrascht insofern, als sich die Bildwerke sehr ähnlich sind. Die männlichen Figuren haben sehr breite Schultern, überlange Arme, schwach und weich modellierte Körper, sehr schmale Hüften. Auch die Gesichtszüge zeigen keinerlei Individualisierung. Offenbar folgten die Künstler einem vorgegebenen traditionellen Darstellungsschema. Diese Einheitlichkeit steht im Gegensatz zur Bildpraxis des Buddhismus, die Buddha oft ebenso schematisiert, aber doch in verschiedenen Tätigkeiten zeigt – als Erleuchteter, als Lehrender, mit der Geste der Erdberührung oder mit der Geste der Wunschgewährung – und die sich, in den «Jatakas» (den Bildern zur Jugendzeit Buddhas), und, im 1. Jahrhundert in realistischen Skulpturen der graeco-buddhistischen Gandhara-Kultur im Norden Afghanistans, auch Biographischem widmet.
Radikales Leben
Die Verantwortlichen des Rietberg-Museums sind überzeugt, dass der Jainismus zahlreiche wertvolle Ansätze zur Lösung aktueller Weltprobleme bietet, beispielsweise in der religiös motivierten Praxis des Verzichts, in der Suche nach einem einfachen und anspruchslosen Leben und in der kompromisslosen Verantwortung gegenüber allem Lebendigen und gegenüber der Natur allgemein. So thematisiert die Ausstellung auch die heute von den Jainas oft sehr rigoros praktizierte Lebensweise. Sie zeigt in Video-Dokumentationen die Pilger-Wanderungen von Jain-Mönchen, welche die Ehrfurcht vor allem Lebendigen so ernst nehmen, dass sie mit einem Besen den Weg vor ihnen kehren, damit sie kein Insekt zertreten, und den Verzicht so weit treiben, dass sie als nackte Asketen predigen. Was es bedeutet, sich in der westlichen Welt zum Jainismus zu bekennen, wird in mehreren Interviews deutlich. So äussern sich zum Beispiel ein Unternehmerpaar in Köln, eine Nonne in Miami, ein IT-Fachmann in Lausanne und eine Drehbuchautorin in den USA zu Fragen der religiösen Praxis der Jains.
Ausstellungstexte und Begleitpublikation richten sich nicht wissenschaftlich an Jain-Kunst interessierte Fachleute, sondern an ein für spirituelle Fragen offenes allgemeines Publikum. Es geht dem Museum, ohne sich der Propaganda zu verschreiben, um eine sachgerechte und breite Information über den Jainismus. Entsprechend rücken die Kuratorinnen und Kuratoren ein pädagogisches Anliegen in den Vordergrund. Sie unterstreichen auch die politische Aktualität dieser kleinen, in ihrer Ausübung rigorosen Religion: «Das Museum Rietberg möchte mit dieser Ausstellung über den Jainismus auf Themen wie Klimawandel, Nachhaltigkeit und Verantwortung eingehen und zeigen, wie die Jains einst und jetzt mit ähnlich gelagerten Problemen umgehen und welche Antworten sie darauf finden.» So zu lesen im Vorwort zur Publikation.
Museum Rietberg, Zürich. Bis 30 April. Publikation Verlag Hatje Cantz, Berlin, 39 Franken. Die Ausstellung wurde kuratiert von Johannes Beltz, Michaela Blaser, Marion Frenger, Patrick Felix Krüger und Harsha Vinay.