Die deutsche Regierung ersucht Bern erneut um die Genehmigung, die einst in der Schweiz gekaufte Munition für den Flugabwehr-Panzer Gepard an die Ukraine zu liefern. Diese war bei einer ersten Anfrage von der Schweiz verweigert worden.
Die meisten Kommentatoren rechnen damit, dass auch diese Anfrage aus neutralitätsrechtlichen Gründen vom Bundesrat abgewiesen wird. Doch so zwingend, wie die Neutralitäts- und Pazifismus-Romantiker behaupten, sind die Nein-Argumente nicht. Es gäbe rechtlich und politisch mehrere Wege, um der Ukraine, die gegen einen skrupellosen Angreifer um ihre Existenz kämpft, zu der benötigten Flugabwehr-Munition zu verhelfen.
Es stimmt, dass der Bundesrat schon im Frühjahr eine Anfrage aus dem deutschen Verteidigungsministerium abgelehnt hat, die in der Schweiz gekaufte Munition für den Flugabwehr-Panzer Gepard an die Ukraine zu liefern. Deutschland hat nach längerem Zögern inzwischen 30 dieser zuvor ausgemusterten Panzer an die ukrainischen Streitkräfte übergeben. Es könnten noch mehr werden. Aber offenbar steht für deren Einsatz gegenwärtig nicht genügend Munition zur Verfügung.
Das Gesuch aus Berlin an Bern ist deshalb notwendig, weil Deutschland beim Kauf der entsprechenden Spezialmunition eine sogenannte Nichtwiederausfuhr-Erklärung unterschrieben hatte. Damit will die Schweiz verhindern, dass dieses Kriegsmaterial nicht in andere, demokratisch nicht legitimierte Hände gelangen kann.
Blochers und Köppels «integrale Neutralität» hat nie existiert
Anders als bei der ersten Anfrage vor einigen Monaten begründet die deutsche Seite ihr Gesuch an die Schweiz explizit mit der dringenden Notwendigkeit der Ukraine, ihre Getreide-Exporte aus den Schwarzmeerhäfen vor russischen Luftangriffen zu schützen. Diese Gefahr hat sich massiv verschärft, nachdem Moskau in der vergangenen Woche das von der Türkei und der Uno vermittelte Abkommen zum Schutz solcher ukrainischen Exporte gekündigt hat. Diese Getreideausfuhren sind nicht nur wirtschaftlich für die Ukraine von grosser Wichtigkeit, sie sind auch ein bedeutender Faktor für die Nahrungsmittelversorgung in Drittländern, etwa in Afrika.
Aber so eindeutig begründbar wie manche Stimmen in der Schweiz meinen, wäre ein neues Nein des Bundesrates zur jüngsten deutschen Anfrage in Sachen Gepard-Munition an die Ukraine keineswegs. Es gibt auch Argumente, die ungeachtet der im vergangenen Jahr vom Parlament verschärften Regeln für die Waffenausfuhr für eine Bewilligung zur Weitergabe dieser Munition an die Ukraine sprechen. So vertritt laut einem Bericht im «Tages-Anzeiger» der emeritierte Berner Rechtsprofessor und Spezialist für internationale Handelsfragen, Thomas Cottier, die Meinung, dass der Bundesrat durchaus die Möglichkeit hätte, die Weitergabe dieser Munition an die Ukraine zu bewilligen.
Die Mitte plädiert für Notrecht
Der Bundesrat könnte laut diesem Experten für eine solche Entscheidung «ausserordentliche Umstände» geltend machen. So könnte er darauf hinweisen, dass in der Ukraine, die absolut völkerrechtswidrig von einem grossen Nachbarland überfallen wird, die Gepard-Munition ausschliesslich zur Verteidigung eines Landes mit einer demokratisch gewählten Regierung eingesetzt wird. Dieser Begründung wird zwar von anderen Juristen widersprochen. Doch sollte sie wenigstens im politischen Sinne auch manchen Bürgern in der Schweiz einleuchten, die dem Thema Waffenexport prinzipiell skeptisch und misstrauisch gegenüberstehen.
Vertreter der sonst eher konservativen Mitte-Partei wiederum fordern vom Bundesrat, mit der Berufung auf das sogenannte Notrecht grünes Licht für die Weitergabe der fraglichen Panzer-Munition an die Ukraine zu geben. Dieses kann vom Bundesrat angewendet werden, «wenn die Wahrung der Interessen des Landes es erfordert».
Ob diese Formel im Zusammenhang mit der umstrittenen Munitionslieferung an die Ukraine zutreffend wäre, hängt natürlich vom Standpunkt des Betrachters ab. Verfechter der sogenannten integralen Neutralität, für die SVP-Matadore wie Blocher und Köppel sich auf die Brust trommeln, obwohl es diese Neutralität in absolutem Sinne in der Schweizer Geschichte nie gegeben hat, weisen schon das Nachdenken über eine mögliche Begünstigung von ausländischen Waffenlieferungen an die Ukraine als Teufelszeug weit von sich.
Dass man abgesehen von den umstrittenen rechtlichen Aspekten immerhin starke moralische Gründe für den Munitionstransfer an die existenziell bedrohte Ukraine ins Feld führen könnte, lassen diese Neutralitäts-Fundis ebenso wenig gelten. Das Gleiche gilt übrigens auch für die Fundamental-Pazifisten, die sich vom schönen Traum leiten lassen, dass alles Böse und Gewalttätige in dieser Welt, inklusive der Putinsche Ukraine-Krieg, in sich zusammenfällt, wenn man dafür eintritt, dass die Herstellung und die Lieferung von Waffen überall verboten werden – und jemand halt damit anfangen müsse.
«Don’t ask, don’t tell» – Pragmatismus pur
Doch es gäbe neben solchen komplizierten Abwägungen zum deutschen Bewilligungsgesuch für Bern noch mindestens eine weitere, sehr praktische Möglichkeit, die umstrittene Gepard-Munition ohne störende juristische und politische Geräusche der Ukraine zukommen lassen. Die Formel für eine solche effiziente und diskrete Lösung lautet: «Don’t ask, don’t tell». Damit ist in den USA zumindest eine Zeitlang die Frage überbrückt worden, ob auch Homosexuelle in die Armee aufgenommen werden können. Im Falle der aktuellen Munitionslieferung an die Ukraine hätte man sich vorstellen können, dass Deutschland ihre Gepard Flugabwehr-Panzer stillschweigend mitsamt der zugehörigen, in der Schweiz produzierten Munition der Ukraine übergeben hätte, ohne vorher in Bern um Bewilligung nachzufragen.
Die Schweizer Seite wiederum hätte im Interesse der Sache ebenso diskret darauf verzichten müssen, nachzufragen, mit welcher Munition denn diese Gepard-Panzer bestückt würden. Ein solches «Don’t ask, don’t tell»-Vorgehen liesse sich als Pragmatismus pur bezeichnen, auch wenn das juristisch nicht lupenrein sein mag. Ob dieser Ausweg heute noch gangbar wäre, ist allerdings eine offene Frage.
Wer sich über solchen praktischen Pragmatismus empört, muss sich der Frage stellen, ob es moralisch zu rechtfertigen sei, der um ihre Existenz kämpfenden Ukraine wirksame Abwehrwaffen gegen die verheerenden russischen Raketen- und Drohnenangriffe vorzuenthalten. Und dies nur, weil die sichere Schweiz engstirnig auf einer Nichtwiederausfuhr-Klausel beharrt, die nie für eine politisch derart eindeutige Verteidigungssituation konzipiert war. Selbst die einäugigen Propagandisten der sogenannten integralen Neutralität müssten dabei zugeben, dass der Schweizer Bundesrat im Zweiten Weltkrieg mehr als einmal die Formel «Don’t ask, don’t tell» praktiziert hat.