Der Sommerausverkauf, „i saldi“, ist für die Italiener ein fast magisches Ereignis. „Preferisco aspettare i saldi“ ist ein geflügeltes Wort. Verkäuferinnen und Verkäufer hören es jahrein, jahraus. „Ich will den Auserkauf abwarten“. Am ersten Tag der saldi kommt es normalerweise in den Läden zu wüsten Kampfszenen. Da werden Käuferinnen und Käufer zu Hyänen. Diesmal ist alles anders.
Im Vergleich zum letzten Jahr sind die Verkäufe in den ersten Ausverkaufs-Tagen bis zu einem Viertel eingebrochen – und dies trotz Rabatten von bis zu 60 Prozent. Viele Italiener haben kein Geld mehr. Die von der Regierung Monti beschlossenen Erhöhungen von Steuern und Abgaben treffen viele im Mark.
Die Kaufkraft ist um zwei Prozent gesunken
Alles wird teurer. Alles ist schon teuer. Elektrisch, Gas, Wasser, Zug-Fahrten, Restaurants, Kinos, Zeitungen, Hotels, Fähren, Strandbetten. Ein Metro-Billet in Rom soll plötzlich statt 1 Euro 1.50 Euro kosten. Ein Liter Benzin kostet heute 1.80 Euro. Die Autobahngebühren wurden um 8 Prozent erhöht.
Neu wird wieder eine Immobiliensteuer eingezogen, die allein im Juni 9,5 Milliarden Euro in die Staatskasse spülte. Eine Steuer allerdings, die sich viele nicht mehr leisten können. Sie sind gezwungen, ihre Häuser zu verkaufen und in eine Mietwohnung zu ziehen. Die Kaufkraft der Italiener ist seit Anfang 2011 um zwei Prozent gesunken. Dies gab soeben das Statistische Amt bekannt.
Neu wird sogar bei den Lebensmitteln gespart. Die Verkäufe für Fleisch, Obst, Gemüse, Alkohol und Desserts gehen zurück. Die Autoverkäufe sind im ersten Halbjahr 2012 im Vergleich zum ersten Halbjahr 2011 um 25 Prozent gesunken. Nur jeder fünfte Italiener kann noch etwas sparen. Die Restaurants sind oft halbleer – wenn da die Touristen nicht wären.
Mehrwertsteuer: weniger Einnahmen
Es ist die Zeit, da früher fast alle Italiener in die Ferien ans Meer fuhren. Tutti al mare. Doch aus den „tutti“ sind wenige geworden. Umfragen zeigen: Nur einer von fünf Italienern leistet sich Ferien, die länger als eine Woche sind. Die meisten fahren für ein paar Tage ans Meer – und nennen das Ferien. Und das war’s dann. Es fehlt das Geld.
Da weniger verkauft wird, sind die Einnahmen der Mehrwertsteuer um 1,1 Prozent gesunken. Und dies, obwohl der Mehrwertsteuersatz um ein Prozent erhöht worden war. Da werden auf einer einen Seite die Steuern erhöht – und gerade deshalb gehen dem Staat Einnahmen verloren.
Doch Monti hat längst einen Rückzieher eingeleitet. Er wollte die Mehrwertsteuer ab Oktober von 21 auf 23 Prozent erhöhen. Das hätte einen neuen sofortigen Preisschub verursacht. Doch das Vorhaben wurde jetzt – auf massiven Druck hin – auf Juli nächsten Jahres verschoben. Dann ist Monti nicht mehr Ministerpräsident. Auch die geplante Erhöhung der Immobiliensteuer wurde verschoben. Monti hat gemerkt, dass man mit allzu vielen Abgaben die Wirtschaft abwürgt – eine späte Erkenntnis des mehrfach ausgezeichneten Wirtschaftsprofessors.
Das politische Rom kocht, nicht nur wegen der Hitze
Um die horrende Staatsverschuldung abzubauen, sind Steuererhöhungen nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Es braucht endlich drakonische, strukturelle Massnahmen. Italien muss innerhalb der nächsten drei Jahre 26 Milliarden Euro sparen: 4,5 Milliarden in diesem Jahr, 10,5 Milliarden 2013 und 11 Milliarden 2014. Wie kann das erreicht werden?
Normalerweise dämmert das politische Rom in der Ferienzeit im Juli und August vor sich hin. Diesmal ist es anders. Die Hauptstadt kocht – nicht nur wegen der 37,5 Grad, die heute gemessen werden. Ministerpräsident Monti hat gleich nach Ferienbeginn ein Sparpaket vorgelegt, das viele auf die Dächer treibt.
So soll die öffentliche Verwaltung, dieser legendäre italienische Moloch, endlich verschlankt werden. Die Zahl der Angestellten im öffentlichen Dienst soll um zehn Prozent schrumpfen, jene auf Managerebene gar um zwanzig Prozent. 24‘000 Personen sollten entlassen werden. So könnten fünf Milliarden Euro gespart werden. Die Massnahmen, so Monti, sollten die öffentliche Verwaltung „effizienter“ machen, „ohne die Qualität der Dienstleistungen zu reduzieren“. Als ob heute diese Dienstleistungen qualitativ empfehlenswert wären.
Die sogenannten „auto blu“, die Dienstlimousinen, mit denen sich der hinterletzte Provinzpolitiker chauffieren lässt, sollen halbiert werden.
20'000 Spitalbetten weniger
Auch im Gesundheitswesen soll gespart werden. In den Spitälern sollen 20‘000 Betten abgebaut werden. Betroffen wären auch Apotheken. Sie fürchten, dass 6‘000 Angestellte entlassen werden müssen.
Das Sparpaket sieht ferner eine Verkleinerung des Justizwesens vor: 37 Gerichte sollen abgeschafft werden. Die Zahl der Friedensrichter soll um fast tausend reduziert werden.
Italien besteht aus zwanzig Regionen, die in insgesamt 109 Provinzen unterteilt sind. Jede Provinz, auch die kleinste, leistet sich einen riesigen Verwaltungsapparat. Jetzt sollen kleine Provinzen, die weniger als 350‘000 Einwohner zählen oder weniger als drei Quadratkilometer gross sind, mit andern zusammengelegt werden. Mindestens sechzig Provinzen sollen mit einer Nachbarprovinz verschmelzt werden.
Ein heisses Eisen: di Parteienfinanzierung
Auch die Armee muss Federn lassen. Gespart werden soll bei den Friedensmissionen und bei der Rüstung. Insgesamt sollen so 110 Millionen Euro weniger zur Verfügung stehen.
Gespart werden soll auch im Bildungswesen. Universitäten und Schulen erhalten weniger Geld.
Ein besonders heisses Eisen ist die staatliche Finanzierung von Parteien und Gewerkschaften. Idee war es, dass durch solche staatliche Zuschüsse das demokratische Spiel gewährleistet ist. Jetzt sollen diese Zuschüsse radikal verringert werden.
Kampfflugzeuge für 12 Milliarden
Es ist nicht anzunehmen, dass alles so kommt, wie es Monti jetzt vorschlägt. Das Sparpaket muss vom Parlament gutgeheissen werden. Und schon heulen die Betroffenen auf: Die Richter, die Anwälte, die Professoren, die Lehrer, die Politiker, die Generäle, die Beamten.
Viele Einwände haben ihre Berechtigung. 20‘000 Spitalbetten abbauen? In den italienischen Spitälern herrschen oft chaotische Zustände. Kürzlich lag eine Frau in einem Römer Spital sieben Tage lang in einem Bett im Gang – aus Ermangelung von Kapazitäten.
Gerichte abschaffen? Die Zahl der Richter reduzieren? In Italien geht es oft Jahre bis ein Prozess nur beginnen kann – wegen fehlender Richter. Aber zugegeben: Es gibt zu viele Anwälte, und die geben sich oft erstaunlich selbstherrlich.
Im Bildungswesen sparen? Bildung ist doch die beste Investition in die Zukunft eines Landes.
Natürlich kommt von linker Seite die Frage, weshalb man denn bei den Spitälern, den Gerichten und der Bildung sparen muss, wenn man 12 Milliarden Euro für den Kauf von F35-Kampfjets ausgeben will.
"Soziale Metzgerei"
Monti wird es schwer haben, sein Sparpaket durchzupauken. Die Gewerkschaften haben ihm den Kampf angesagt. Gewerkschaftschefin Susanna Camusso hat bereits Streiks angekündigt. Die Gewerkschaften wehren sich gegen die „soziale Metzgerei“, la macelleria sociale. Für einmal erhalten sie Unterstützung vom Industriedachverband Confindustria. Einzig Luca di Montezemolo, der Ferrari-Chef, der mit der Gründung einer eigenen Partei liebäugelt, unterstützt Montis Vorschläge. Er würde sogar noch weiter gehen.
Monti ist Notstandsministerpräsident bis im kommenden Frühjahr. Spätestens dann wird es Wahlen geben – wenn nicht schon früher. Die politischen Parteien buhlen schon jetzt um ihre Klientel, um bei den Wahlen Erfolg zu haben. Deshalb werden sie nach den Sommerferien gegen jene Vorlagen stimmen, unter denen ihre Wählerschaft zu leiden hat.
Zersausen, verwässern
Was Italien braucht, sind nicht Steuererhöhungen, sondern endlich tiefgreifende Strukturreformen. Montis neues Sparpaket besteht nun endlich aus echten Strukturreformen. Doch es ist zu befürchten, dass die politischen Parteien – mit Blick auf ihre Stammwähler – das Paket zerzausen werden. Übrig bleibt dann nur eine stark verwässerte Vorlage. Schon einmal ist Monti mit einem grossen Projekt gescheitert. Er wollte endlich eine dringend nötige Arbeitsreform durchsetzen. Was ist herausgekommen: pflufff.
Doch Italien muss den Staatshaushalt in Ordnung bringen. So will es die EU, oder wie die Italiener heute sagen „la Merkel“. Doch „la Merkel“ ist in Italien im Moment ziemlich unpopulär: bei Politikern, Journalisten und im Volk. „Hau die Deutsche“, heisst die Devise. Als ob man so das eigene Schlamassel mildern könnte. Der neue Liebling der Italiener heisst François Hollande, der nicht so rigoros und nicht so schnell sparen will. Das hören die Italiener gern. So besteht die Gefahr, dass die dringen notwendigen Strukturreformen einmal mehr aufs Eis gelegt werden.
Mittel- und Süditalien werden zur Zeit von der dritten Hitzewelle in Folge heimgesucht. In Sizilien, Sardienien und Apulien ist es heute 41 Grad heiss. Nach dem heissen Sommer droht Italien ein heisser Herbst.