Mein Vater arbeitete als Prokurist mit einem Bürokollegen mehrere Jahrzehnte zusammen. Die beiden verstanden sich auch menschlich ganz gut, aber sie haben sich stets gesiezt. Aus heutiger Sicht mutet das ziemlich steif und altmodisch an. Doch wer über solche scheinbar verstaubte Verhältnisse die Nase rümpft, sollte bedenken, dass auch so progressiv geltende Geister wie Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sarte sich zeitlebens gesiezt haben.
Im EWZ jetzt per Du
Gewiss, heute ist auch in dieser Hinsicht vieles anders. Unter Berufskollegen und selbst unter Nachbarn ist man in der Regel viel schneller und umstandsloser beim Du angelangt, als noch vor ein, zwei Generationen. Im vergangenen Jahr verbreitete eine Pressemeldung die frohe Nachricht, der Chef der Elektrizitätswerke Zürich (EWZ) habe die Losung (oder war es ein Befehl?) ausgegeben, dass sich künftig alle Mitarbeitenden im Betrieb per Du anreden werden.
In Schweden wird schon länger nur noch geduzt. Die Du-Kultur wird offenbar in sämtlichen Ikea-Märkten auch ausserhalb Schwedens konsequent praktiziert – jedenfalls was den Umgang der Mitarbeiter untereinander betrifft.
Das Duzen deutet – zumindest auf sprachlicher Ebene – eine gewisse Nähe oder Vertraulichkeit an, es signalisiert einen unkomplizierteren, zwischenmenschlichen Umgang, mehr Egalität und weniger Hierarchie.
Muss ich meinen Banker duzen?
Doch wollen wir solche automatische Vertraulichkeit in allen Lebenslagen? Will ich mit meinem Nachbarn, mit dem mich gar nichts verbindet, unbedingt per Du sein? Muss ich meinen Banker duzen, nur weil das als sozial modern und unverklemmt gilt? Muss ich es unbedingt akzeptieren, wenn mich ein unbekannter 16-jähriger Gymnasiast bei einer E-Mail-Anfrage umstandslos mit „Du“ anredet? Weshalb soll der sprachliche Ausdruck einer gewissen Distanz keine Option sein?
Ich meine, wir sollten bestehende Differenzierungsmöglichkeiten im sprachlichen Umgang nicht generell abschaffen. Der Gebrauch der Höflichkeitsform mit „Sie“ anstelle eines vordergründig gleichmacherischen „Du“ kann in manchen Situationen ein ehrlicheres, sachlicheres Gesprächsklima begünstigen.
Das englische „you“ bedeutet nicht automatisch „Du“
Mitunter wird von unbedingten Verfechtern des Du-Zwangs argumentiert, im Englischen gebe es ja auch keine Sie-Form, sondern nur das egalitäre „you“. Doch dieses „you“ bedeudet nicht automatisch Du. Es kann, je nach Kontext, auch „ihr“ heissen, also zweite Person Plural. Wird man in einem englischen Brief mit „Dear Sir“ oder „Dear Madam“ angesprochen, so ist das folgende „you“ bestimmt nicht mit „du“ zu übersetzen.
Keine schlechte Lösung im Dilemma zwischen Duzen und Siezen ist eine Anrede-Mischform: Man bleibt beim „Sie“, spricht sich aber beim Vornamen an. Also: „Walter, erklären Sie uns doch bitte, wie dieser Fall zu lösen wäre.“ Bei dieser Variante kommt sowohl kollegiale Verbundenheit als auch respektvolle Höflichkeit zum Ausdruck.
Wie gesagt, der Zeitgeist geht in Richtung Du. Doch es gibt keinen Grund, das Duzen als politisch und sozial korrektes Einheitsmodell durchzudrücken.