Identitätspolitik ist die Parole der einen und der Warnruf der anderen. Benachteiligte Gruppen bezeichnen mit dem Begriff ihre Kämpfe um Anerkennung und Gleichberechtigung. Der Philosoph Karsten Schubert stellt sich mit seinem neuen Buch ganz auf deren Seite.
Schubert ergreift schon mit dem Titel seiner Monographie unzweideutig die Partei des politischen Phänomens, das den Gegenstand seiner Untersuchung bildet: «Lob der Identitätspolitik» heisst sein kürzlich bei C. H. Beck erschienenes Buch. Dieser Positionsbezug hat für die Lektüre den Vorteil, dass die Intention der Abhandlung immer klar ist. Wer sich mit Identitätspolitik kritisch auseinandersetzen will, findet in Karsten Schubert ein faires, auf transparente Argumentation bedachtes Gegenüber.
Identitätspolitik ist nach Schuberts Auffassung nicht, wie das von ihren Kritikern oft behauptet wird, eine Gefahr für die Demokratie. Vielmehr erhebt er mit seinem Buch den Anspruch, «eine neue Demokratietheorie der Identitätspolitik» zu begründen. Ansatzpunkte sind immer die real existierenden Diskriminierungen der Gesellschaft, zu denen Schubert insbesondere Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit und Klassismus zählt. Den Gegnern der Identitätspolitik unterstellt er, sie würden Diskriminierungen nicht mehr als ein fundamentales Problem betrachten. Vielmehr seien sie darauf aus, mittels Delegitimierung der Identitätspolitik die eigene Privilegierung, die sie stets abstreiten, zu verteidigen.
Streit um Political Correctness, Cancel Culture und Wokeness
Zu dieser gegen die Identitätspolitik gerichteten Strategie zählt der Autor insbesondere die auf liberaler und konservativer Seite häufig vorkommende Skandalisierung von «Political Correctness», «Cancel Culture» und «Wokeness». Manche liberale oder konservative Beobachter wollten in diesen Phänomenen eine Art neuen Jakobinismus oder eine Hypermoralisierung erkennen, andere – wie selbstredend auch Schubert – halten die Aufregung für übertrieben und arg strapaziert. Es seien ja immer die gleichen paar exotischen Vorkommnisse, die als Belege für die angeblich über die Universitäten und durch den Kulturbetrieb schwappende identitätspolitische Welle herhalten müssten.
Eine kürzlich in der Wochenzeitung «Die Zeit» publizierte Umfrage unter über 50’000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern von Hochschulen und Wissenschaftsorganisationen in ganz Deutschland, auf die immerhin 9’000 Antworten eingingen, zeigt in der Tat, dass der Anteil der von «Cancel Culture» Betroffenen nicht sonderlich gross ist. Bloss 1,7 Prozent der Befragten haben der Aussage zugestimmt: «Ich musste in den vergangenen zwei Jahren einmal oder mehrmals eine Lehrveranstaltung absagen oder abbrechen, weil ich negative Folgen fürchtete oder weil Druck auf mich ausgeübt wurde.» Das wären also 153 Fälle. Grund zur Entwarnung? Oder vielleicht doch zu einer gewissen Besorgnis?
Die Zeit-Untersuchung zeigt allerdings schon auch, dass eine gewisse Beunruhigung in der Scientific Community nicht ganz von der Hand zu weisen ist. In der schwieriger zu fassenden Kulturszene dürfte das Bild vermutlich ähnlich sein: Es gibt eine zwar überschaubare Zahl von «Fällen», aber zugleich ein Klima der mehr oder weniger latenten Verunsicherung.
Gesellschaftlicher Wandel als Nullsummenspiel
Woran liegt es, dass identitätspolitisch agierende Gruppierungen Beunruhigung auslösen oder als Gefahr wahrgenommen werden? Sie treffen offenkundig einen empfindlichen Punkt und legen die Axt an die Pfeiler des Selbstverständnisses weiter Kreise der Gesellschaft, die sich als demokratisch und auf die Werte von Freiheit und Gleichheit begründet verstehen. Identitätspolitischer Aktivismus bestreitet, dass die Gesellschaft sich tatsächlich an diesem hehren universalistischen Wertegerüst ausrichtet.
Dieser philosophische Universalismus, also die allgemeine, soziale Schichten, Gesellschaften und Kulturen übergreifende Geltung fundamentaler Werte wie Freiheit und Gleichheit, ist aus identitätspolitischer Sicht ein ungedeckter Check. Mit ihrer kritischen Sicht weisen die Benachteiligten auf die blinden Flecke im Selbstverständnis der sich auf den Werte-Universalismus Berufenden hin. Lautstark machen die Übersehenen und Herabgewürdigten auf ihre Diskriminierungen aufmerksam und fordern deren Überwindung.
Dabei geht es nach Schubert im Kern darum, die Demokratie zu demokratisieren. Und dies ist angeblich nur möglich, wenn die Nicht-Diskriminierten die aus ihrer Position resultierenden Privilegien – Machtzuwachs, Prestigeplus, materielle Vorteile – verlieren oder aktiv aufgeben und stattdessen den Aufstieg der Benachteiligten auf das Niveau realer Freiheit und Gleichheit zulassen.
Identitätspolitik, wie Karsten Schubert sie beschreibt, versteht den gesellschaftlichen Wandel als ein Nullsummenspiel: Was den einen gegeben werden soll, muss den anderen weggenommen werden. Wer nicht diskriminiert ist, hat ein Privileg, und Privilegien gehören abgeschafft. Diese politische Logik versteht das Gesellschaftsganze als eine feste Grösse von Rechten, Chancen und Ressourcen, die es unter allen Gruppierungen nach Massgabe der Gleichheit zu verteilen gilt. Da niemand Privilegien gerne aufgibt, müssen sie den Privilegierten streitig gemacht werden: mit «wokem» Verhalten, das Ungleichheit anprangert, mit «Cancelling» von Manifestationen ungerechter Verhältnisse, mit identitätspolitischem Aktivismus, der die verschleiernden Ideologien der an ihren Unrechtsstrukturen festhaltenden Gesellschaft aufdeckt.
Dem Essentialismus entgehen
Mit erheblichem Aufwand an Begriffsziselierung und Theorie-Entwicklung zeichnet Schubert ein Bild der Identitätspolitik als einer sich selbst regulierenden Strömung von Basisbewegungen, durch die der immerwährende Prozess der Demokratisierung der Demokratie in Gang gehalten wird. Dem in linken Diskursen verpönten Essentialismus – «die» Frauen, «die» Schwarzen, «die» Homosexuellen – versucht er zu entkommen, indem er identitätspolitisch engagierte Kollektive als Konstrukte versteht, die aus politischer Aktion hervorgehen und stets wandelbar bleiben.
So differenziert Schubert die identitätspolitische Szenerie beschreibt, so monolithisch fasst er auf der Gegenseite «die Mehrheitsgesellschaft» oder «Mainstreamgesellschaft» auf. Dass sich in offenen Gesellschaften in Bezug auf das Verhältnis zu einst verfemten Gruppierungen seit mehreren Jahrzehnten sehr viel getan hat in Richtung von Tolerierung und Anerkennung, das kommt in seiner Darstellung schlicht und ergreifend überhaupt nicht vor. Man kann zwar mit guten Gründen bemängeln, dass noch längst nicht alle diskriminierenden Strukturen und Verhaltensweisen überwunden sind. Aber man sollte nicht so tun, als stünden die identitätspolitischen Forderungen generell einer schroffen und indifferenten Ablehnung gegenüber.
Identitäten sind konstruiert und wandelbar
Richtigerweise widmet Schubert der Konstruktion von Identitäten viel Aufmerksamkeit. Was er unbedingt verhindern möchte, ist ihr Umschlagen in blosse Interessenpolitik, die in gesellschaftliche Isolation zu führen droht. Der Wert einer konstruktivistischen Sicht, wie er sie entwirft, liegt darin, dass sie den Prozess neuer Subjektivierungen in der Gesellschaft verständlich macht. Solche Subjektivierungen zeigen sich etwa in neu ausgebildeten Geschlechterrollen, die auf Distanz zu dominanten Normen gehen und dadurch neue Identitäten hervorbringen können, die nicht essentialistisch begründet sind.
Schubert hierzu: «Identitätspolitik ermöglicht es also, sich kritischer und damit auch freier gegenüber gesellschaftlichen Normen und Rollenerwartungen zu verhalten.» Diese kritische Haltung soll sich jedoch stets auch auf die entsprechende Gruppe selbst richten. Identitätspolitik ohne Bereitschaft und Fähigkeit zu Selbstkritik ist nach Schuberts Auffassung ein Unding. Die damit verbundene permanente Unruhe ist für ein identitätspolitisches Engagement kein Nachteil. Ohne die oft beklagte Streitlust solcher Gruppierungen wäre, wie Schubert meint, die geforderte Kultur der Selbstkritik kaum zu haben.
Schubert scheut die Auseinandersetzung mit Einwänden gegen die Identitätspolitik nicht. Vor allem aber geht es ihm um den Entwurf eines grösseren geistesgeschichtlichen und demokratietheoretischen Rahmens, in welchem er sein «Lob der Identitätspolitik» entfalten kann. Diese Konzeption prägt das Buch, das im Soziotop der identitätspolitischen Diskurse eine herausgehobene, theoretisch valide Position anpeilt. Schuberts Monographie ist für ein Publikum, das sich von dieser Ambition nicht kopfscheu machen lässt, eine lohnende Lektüre, weil sie das Selbstverständnis der identitätspolitisch Bewegten schlüssig darstellt und gerade dank ihrer Gründlichkeit auch manche Unstimmigkeiten dieser gesellschaftspolitischen Position erkennbar macht.
Karsten Schubert: Lob der Identitätspolitik. C. H. Beck 2024, 223 S.