Ich werde manchmal kritisiert, meine Kommentare zur indischen Regierungspolitik seien einseitig kritisch. Deshalb soll hier in einem fingierten Interview der Blickwinkel eines Verehrers von Premierminister Modi präsentiert werden.
Q: „Die kürzliche Razzia in den BBC-Büros in Delhi sind ein weiterer Versuch der Regierung, kritische Medien-Kommentare zu unterdrücken. Man hat des Gefühl, Herr Modi hat Angst, in den Spiegel zu schauen!?“
A: „Die BBC-Serie war nicht ein ausgeglichenes Porträt unseres Premierministers. Es war eine Denunziation. Obwohl er vom Obersten Gericht inzwischen für unschuldig erklärt wurde (und dies in der Sendung erwähnt wird), läuft sie darauf hinaus, ihn schuldig zu sprechen.
Dasselbe gilt für die Kritik an der Razzia. Die BBC wird als reine gemeinnützige Medien-Organisation dargestellt. Dabei ist sie auch damit beschäftigt, ihre Sendungen an andere Medien zu verkaufen – ist das nicht eine kommerzielle Tätigkeit? Hat die Steuerbehörde nicht das Recht, diese Geschäfte in Bezug auf ihre Besteuerung zu untersuchen?“
Q: „Das Vorgehen gegen die BBC ist nur eines von vielen Beispielen, die eine zunehmende Intoleranz gegenüber Kritik anzeigen. Journalisten werden ohne konkreten Anlass verhaftet, sie werden bedroht und physisch angegriffen. Der Staat lässt es geschehen. Und er doppelt mit Internet-Blockaden und digitalem Ausspionieren nach. Selbst Oppositionspolitiker riskieren Haft, wenn sie sich über den PM lustig machen. Ist dies nicht eine Verletzung der Meinungs- und Redefreiheit, die von der Verfassung garantiert wird?“
A: „Die systematischen Kritiker verschanzen sich gerne hinter diesen Rechten. Indien ist eine Demokratie, doch folgt daraus das Recht, das Land und seine Führung systematisch blosszustellen? Im Westen kann man sich Kritik leisten, weil der Staat und die Gesellschaft gefestigt sind. Indien ist wie viele Staaten des globalen Südens ein junger Staat, erst 75 Jahre alt. Das ist eine kurze Zeitspanne nach eintausend Jahren Fremdherrschaft!
Wir sind dabei, unsere Wurzen zu finden und darüber einen starken und weltweit respektierten Staat zu machen. Kritik ist destruktiv. Sie untergräbt dieses Vorhaben. Es geht nicht um die Person des Premierministers. Er verkörpert den Staat. Jede Kritik am ihm ist eine Kritik an unserer Nation.
Und: Wer weiss, vielleicht steckt dahinter die Absicht, Indien daran zu hindern, eine führende Macht zu werden und das bestehende internationale Kräfteverhältnis zu verändern!?
Es ist daher legitim, demokratische Rechte selektiv anzuwenden. Und vergessen wir nicht, dass diese Rechte einem westlichen Verständnis entsprungen sind, das dem Individuum mehr Rechte zuspricht als der Gruppe, sprich: dem Volk. Daher unser Verdacht, dass Rede- und Meinungsfreiheit eine Waffe sind, um uns als Nation zu schwächen.“
Q: „Ist Herr Modis ständige Anklage von ‚eintausend Jahre Sklaverei‘ nicht ein Ablenkungsmanöver? Islamische Eroberungen und europäische koloniale Ausbeutung werden als weiterhin anhaltende Gefahr dargestellt, um einen religiös gefärbten Nationalismus als Abwehrschild zu rechtfertigen. Geht damit das Ausserkraftsetzen demokratischer Werte einher, mit Einparteienherrschaft und Einmannführung als Fernziel?“
A: „Die pluralistische Weltsicht des Westens steckt – das geben sogar westliche Kommentatoren zu – in einer Krise. Der übertriebene Individualismus hat einen ungezügelten Egoismus und Hedonismus mit sich gebracht. Die Übertragung der Individualrechte auf wirtschaftliche Akteure hat zu einem Recht des Stärkeren geführt – mit einer verheerenden Ungleichheit als Resultat. Ist es da falsch, wenn das westliche Demokratie-Modell korrigiert wird?“
Q: „Wie könnte eine solche Korrektur aussehen?“
A: „Sie ist auf vielen Ebenen nötig. Beispiele:
- Das Recht von Gruppen wird dem Recht des Einzelnen gleichgestellt, um eine gesellschaftliche Harmonie zu schaffen.
- Die Vielzahl von politischen Parteien soll vermindert werden. Statt sich zu bekämpfen, sollen Politiker gemeinsam an der Stärkung nationaler Anliegen arbeiten. Teure Wahlkampagnen verschwinden, und damit auch die Korruption.
- Der lange Instanzenweg durch Berufungsgerichte wird abgekürzt und garantiert rasche Gerechtigkeit.
- Die systematische und lähmende Kritik von Medien und Systemgegnern wird eingedämmt durch stärkere Betonung positiver Entwicklungen.
- Die Staatsschutz wie Polizei und Justiz muss rasch einsatzfähig sein und daher der Regierungsführung unterstellt werden. Etc.“
Q: „Parteienvielfalt und Medienfreiheit, freie Wahlen und eine unabhängige Justiz sind wichtige Garantien, damit die Anliegen von Minderheiten – politische, ethnische, soziale – Gehör finden. Werden diese Rechte geschwächt, führt dies zu einer Vormachtstellung der majoritären Gesellschaftsgruppe und einer einzigen Partei.“
A: „Alle Gesellschaftsgruppen können sich in einer gemeinsamen ‚Dach-Partei‘ wie der BJP Gehör verschaffen. Dies stellt sicher, dass eine politische Plattform nicht durch ehrgeizige Politiker missbraucht wird. So kann die ganze Gesellschaft diszipliniert auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten, statt sich ständig Pflöcke zwischen die Beine zu werfen. Zudem wird damit auch die Korruption eingedämmt.
Q: „Stichwort ‚Korruption‘: Freie Medien, öffentliche Plattformen wie die Parlamente können verhindern, dass wirtschaftliche Interessen sich mit Geldspenden – sprich Schmiergeld – Vorteile verschaffen. Fehlt diese Kontrolle, landet ein Land im ‚crony capitalism‘. Ein Beispiel sind die Vorteile, die einem Unternehmer wie Gautam Adani eingeräumt werden.“
A: „Die BJP-Regierung fördert den freien Markt als das beste Mittel, damit sich das bessere Angebot durchsetzen kann. Doch die Marktmacht der globalen Konzerne verschafft diesen unfaire Vorteile. Damit sich ein Land gegen die Multis wehren kann, muss es ‚National Champions‘ fördern, die stark genug sind, um den Grossen die Stirn zu bieten. Das war auch in Südkorea so. Ihre Firmen waren auf die Förderung des Staats angewiesen, und heute sind sie unabhängig vom Staat. Gautam Adani ist ein solcher ‚National Champion‘.“
Q: „Die Hindus sind mit 83 Prozent der Bevölkerung die weitaus wichtigste ethnisch-religiöse Gemeinschaft Indiens. Die BJP projiziert mit dem Begriff ‚Hindutva‘ den Anspruch, alle Hindus zu vertreten. Ist das nicht eine Verletzung des Verfassungsgrundsatzes des Säkularismus? Als Regierungspartei fördert sie Hindu-Tempel und Rituale – und bestraft damit die Minderheiten. Weshalb? Weil Muslime und Christen für die historische Unterdrückung der Hindus durch ihre Religionsgenossen verantwortlich gemacht werden.“
A: „Die BJP ist nicht gegen den ‚Säkularismus‘, nur gegen die westliche Definition von ‚Säkularismus‘. Diese verbietet alles Religiöse im Verhalten des Staats. Wir sagen: Alle Religionen haben in Indien ein Existenzrecht. Dies bedeutet aber auch, dass jede von ihnen die anderen Religionen respektiert. Dieses Prinzip wird von Christen und Muslimen aber nicht beachtet, wenn sie Hindus bekehren. Ihre Geschichte ist zudem eng verwoben mit Kolonialismus und gewaltsamer Eroberung. Sie haben daher die Pflicht, ihr Existenz- und ihr Bürgerrecht in Indien unter Beweis zu stellen, indem sie den Primat des Hinduismus und der Hindus anerkennen.“
Q: „‚Säkularismus‘ wird relativiert; das ‚Bürgerrecht‘ gilt nicht mehr für alle Inder; Meinungs- und Versammlungsfreiheit werden eingeschränkt; die Gleichbehandlung durch den Staat ist nicht mehr gewährleistet. Ist die indische Regierung dabei, die Verfassung des Landes neu zu schreiben?“
A: „Premierminister Modi sagt immer wieder, die Verfassung sei für ihn wie die ‚Bhagavadgita‘, Indiens Bibel und Koran. Die Verfassung bleibt das Fundament der indischen Demokratie. Das heisst aber nicht, dass sie keine Korrekturen verträgt. Die Verfassung ist ein historisches Dokument. Als sie 1950 verabschiedet wurde, stand das Land noch unter dem Einfluss der Kolonialherrschaft und der Abspaltung und Errichtung Pakistans, eines islamischen Staats. In den letzten 75 Jahren hat die Hindu-Mehrheit ihre kulturelle Identität wiedergefunden und will diese auch in ihren Institutionen zum Ausdruck bringen. Ist dies nicht das Recht jeder Nation?“
Q: „Indien ist eine breit diversifizierte Gesellschaft, in der sich kulturelle, soziale, wirtschaftliche und ethnische Eigenheiten vielfach überkreuzen. Eine Demokratie nach westlichem Muster war für die Verfassungshüter die beste Garantie, um aus dieser ‚Vielheit‘ eine ‚Einheit‘ zu bilden. Sind ein eingeschränkter Minderheitenschutz und die systematische Schwächung institutioneller Garantien – Föderalismus, Gerichte, Wahlbehörde, Polizei etc. – nicht eine existenzielle Gefahr für den friedlichen Zusammenhalt der Gesamtgesellschaft? Wie kann Indien eine Führungsrolle im globalen Zusammenleben erlangen, wenn es diese Vielheit im eigenen Land einebnet? Wie kann es eine Wirtschaftsmacht werden, wenn es überall im Land zu Gewaltausbrüchen kommt?“
A: „Vergessen Sie nicht: Im Gegensatz zu den semitischen Religionen ist der Hinduismus eine friedvolle Religion, die alle möglichen Glaubensformen anerkennt. Und vergessen Sie nicht, dass Mahatma Gandhi unser Landesvater ist! Wenn es Exzesse gibt, befürworten wir dies nicht; aber sie erklären sich, in den Worten des Präsidenten des RSS, aus der Frustration über eine tausendjährige Unterjochung der Hindus. Sie werden sich legen, sobald die muslimische Gemeinschaft ihr historisches Unrecht einsieht, etwa mit der Bereitschaft, am Wiederaufbau von Tempeln mitzumachen, die von ihren Vorfahren zerstört wurden. Ihr im Westen redet von der ‚Restitution‘ von Raubgut. Ist es da falsch, wenn wir diese Forderung im eigenen Land stellen? ‚Justice and Peace‘? Ja, aber mit dem Zusatz: ‚First Justice! Then Peace‘!“