Europa diskutiert. Soll man dem US-Beispiel folgen und die iranischen Revolutionsgarden auf eine Terrorliste setzen? Eine Entscheidung lässt wie immer auf sich warten.
Was sind sie? Eine Terrororganisation, wie Bin Ladens Al-Kaida oder Baghdadis «Islamischer Staat» (IS)? Sind sie die Verteidigungsarmee eines Staates mit UN-Mitgliedschaft? Haben wir es mit einer mafiösen Formation zu tun, die mit Gewalt ein grosses, reiches Land beherrscht? Oder sind sie von allem etwas oder alles zusammen?
Was die Revolutionsgarden der Islamischen Republik sind, ist keine Definitionsfrage, kein theoretisch abstrakter Fall. Nur die Wirklichkeit gibt Antwort.
In ihrem offiziellen Namen kommt das Wort Iran nicht vor. Nominell sind sie keine iranische Armee, sondern «Das Heer der Wächter der islamischen Revolution».
انقلاب اسلامی سپاه پاسداران
Anti-Armee
Sie wachen ihrem Status nach über diese Revolution, wie, wann und wo diese auch stattfinden mag. Schon bei ihrer Entstehung sind sie als Anti-Armee entstanden. Ihre «raison d'être» war, gegen die klassische Armee des Landes zu agieren. Revolutionsführer Khomeini rief sie unmittelbar nach seinem Sieg ins Leben. Die «Kaiserlich-iranische Armee» galt für ihn als Sinnbild der Konterrevolution, als ständige Quelle einer Putschgefahr.
In jenen Tagen diskutierte man ernsthaft darüber, diese Armee aufzulösen. Doch Saddam Husseins Überfall auf den Iran beendete diese Debatte. Für diesen Krieg, der acht Jahre dauern sollte, brauchte man diese Armee, oder das, was von ihr übrig geblieben war. Denn viele Generäle waren schon in den ersten Tagen des Sieges der Khomeini-Revolution hingerichtet worden, andere hatten die Armee bzw. das Land verlassen.
Rivalin der Schah-Armee
Die neuen Wächter sollten an der Front über die Revolution wachen. Mit ihren eigenen Methoden, ihrer eigenen Kultur, ihrer eigenen Organisationsform – und vor allem: mit ihren festen ideologischen Prinzipien.
In diesem langen Krieg wuchsen sie auf. Ihr unprofessionelles Verhalten verursachte viele Opfer. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb wurden sie zu einer ernsthafter Rivalin der kaiserlichen Armee. Dies existiert zwar noch, ist aber harmlos, anspruchslos.
Sieger des sieglosen Krieges
Der Krieg hatte keinen Sieger hervorgebracht, aber viele Verlierer. Auf beiden Seiten gab es insgesamt fast eine Million Tote, Hunderttausende wurden verletzt, Tausende Dörfer wurden zerstört.
Wie immer gab es auch hier Kriegsgewinnler. Neben den internationalen Waffenhändlern waren es vor allem die Wächter der Revolution, die aus diesem sieglosen Krieg als Sieger hervorgingen. Sie schwangen sich als wahre und einzige Verteidiger des Landes auf.
Sie erhielten alles, was sie wollten
Ali Chamenei, seit 1989 der politische und religiöse Führer des Iran, baute die Revolutionswächter energisch auf und machte sie zur eigentlicher Stütze seiner Herrschaft. Zu ihrer Machtausübung gab ihnen Chamenei alles, was sie brauchen.
Sie verfügen über ein riesiges Waffenarsenal, kontrollieren die Medien, die Justiz und wichtige Unternehmen und Institutionen. Unbegrenzt können sie alle Ressourcen des Landes benutzen. Niemand, weder das Parlament noch der Präsident oder die Bürgerinnen und Bürger dürfen Fragen stellen.
Ende der hybriden Ära
Vier Dekaden lang waren sie der eigentliche Staat im Staat – ein Staat, der sich «Republik» nennt. Heute brauchen sie sich nicht zu verstecken. Wie wir dieser Tage sehen, verteidigen sie auch im Irak, in Jemen, in Libanon oder in Syrien die «Islamische Revolution».
Man wollte in all diesen Jahren die Islamische Republik als ein hybrides Gebilde darstellen, das aus Reformern und Radikalen, aus Gemässigten und Hardlinern zusammengesetzt ist. Ähnlich wollte man bei den Revolutionsgarden einen Unterschied machen zwischen den radikalen «Quds-Brigaden» und den gemässigten Kräften. Alle Terrorakte und Morde schob man den Quds-Schergen in die Schuhe. Die Gemässigten betrachtete man als eine mehr oder weniger normale Armee eines Landes.
Ausgebootete Reformkräfte
Die «Islamische Republik» unter Präsident Raissi zeigt jetzt ihr wahres Gesicht und gibt allen Iranern und Iranerinnen zu verstehen, dass die Reformkräfte in der Regierung ausgebootet sind. Ebenso wird klar, dass die gemässigten Kräfte innerhalb der Revolutionsgarden verdrängt worden sind. Es entpuppt sich immer mehr als Mär, dass innerhalb der Garden neben den Quds-Brigaden reformorientierte Kräfte existieren.
Der amtierende Innenminister Ahmad Vahidi, der Gründer der Quds-Brigaden, war zehn Jahre lang ihr Kommandant. Seit 1984 steht er als Terrorverdächtiger auf der Interpol-Liste. Ihm wird vorgeworfen, ein Drahtzieher des Bombenanschlags auf ein jüdisches Gemeindezentrum in Buenos Aires gewesen zu sein. Bei dem Anschlag im Juli 1994 kamen 85 Menschen ums Leben.
Zehntausende Verhaftungen
Alle seine engsten Mitarbeiter in seinem Ministerium sowie sämtliche Provinzgouverneure des Landes sind Offiziere der Revolutionsgarden, vor allem der Quds-Brigaden. Vahidi ist der mächtigste Mann des Kabinetts und er befehligt und organisiert die Niederschlagung der derzeitigen Proteste, und zwar so, so wie man es von einem Revolutionsgardisten kennt.
Seine Kommandos agieren auf den Strassen. Der Geheimdienst der Revolutionsgarden leistet ganze Arbeit: Zehntausende Menschen werden verhaftet, Tausenden werden unter Folter zu Geständnissen gezwungen.
Olivier Vandecasteele
Längst dominieren die Garden die Justiz. Am 13. Dezember verurteilte ein Teheraner Gericht Olivier Vandecasteele, ein belgischer Mitarbeiter verschiedener Hilfsorganisationen, wegen angeblicher Spionage zu 28 Jahren Gefängnis. Er war fünf Jahre lang im Iran humanitär tätig und befindet sich jetzt in Isolationshaft.
Bei dem Fall geht es um einen Iraner namens Assadollah Assadi. Er war im Februar 2021 von einem Strafgericht in Antwerpen zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt worden, weil er einen Bombenanschlag auf eine von iranischen Dissidenten organisierte Kundgebung in der Nähe von Paris geplant hatte. Durch einen Hinweis des israelischen Geheimdienstes an die europäischen Behörden konnte der Anschlag verhindert werden. Jetzt sitzt er in einem belgischen Gefängnis. Assadi ist ein hochrangiger Gardist. Er war in Wien als «Diplomat» akkreditiert, in Wahrheit führte er aber einen Agentennetz in ganz Europa. Jetzt soll er gegen Olivier Vandecasteele ausgetauscht werden.
«Blutrichter»
Der Fall Assadi würde eigentlich ausreichen, damit die EU die Revolutionsgarden auf die Terrorliste setzt. Im weiteren könnten Dutzende oder gar Hunderte Bombenanschläge, Drohungen und Geiselnahmen, die von den Garden organisiert und durchgeführt wurden, hinzugefügt werden.
Dass die Garden unter der Schirmherrschaft von Ahmat Vahidi, dem als «Blutrichter» verrufenen jetzigen Innenminister, stehen, sollte der EU zu denken geben, wenn sie darüber entscheiden, ob die Garden auf die Terrorliste gesetzt werden sollen.