Am vergangenen Wochenende hat die Christlich-demokratische Union Deutschlands einen neuen Vorsitzenden gewählt: Armin Laschet, Ministerpräsident des bevölkerungsreichsten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen. Einiges spricht dafür, dass Laschet die CDU und ihre bayerische Schwesterpartei CSU als Kanzlerkandidat in die Bundestagswahl vom kommenden Herbst führen wird. Jedenfalls zweifeln wenige daran, dass die CDU/CSU aus dieser Wahl wieder als stärkste Partei hervorgehen wird. Sie wird damit auch den Nachfolger oder die Nachfolgerin der abtretenden Bundeskanzlerin Merkel stellen.
«Tiefe Identitätskrise»?
Im Zusammenhang mit der Wahl des neuen Vorsitzenden haben einige Kommentatoren ihre Meinung über den aktuellen Zustand der CDU kundgetan. In der NZZ sprach der Chefredaktor von einer «Wischiwaschi-Partei». Der stellvertretende Chefredaktor der Wochenzeitung «Die Zeit», Bernd Ulrich, diagnostizierte eine «tiefe Identitätskrise der CDU». Diese angebliche Krise begründet er damit, dass die CDU nicht mehr wie in früheren Zeiten von einem unbedingten «Machtwillen» beseelt sei. Einen Beweis für diese Behauptung sieht der Kommentator darin, dass die im Volk populäre Bundeskanzlerin Angela Merkel nach 16 Jahren an der Macht ihr Amt freiwillig abgibt. Man hat in der «Zeit» auch schon stringentere Analysen gelesen.
Jedenfalls mutet es seltsam an, wenn einer Politikerin, die nach mehr als anderthalb Jahrzehnten als Regierungschefin in freier Entscheidung auf ihr Amt verzichtet, dies als Schwächezeichen angekreidet wird. Bei weniger missgünstiger Betrachtung ist das vielmehr ein Beweis von menschlicher Grösse und politischer Weisheit. Bisher hat in der Bundesrepublik Deutschland seit ihrer Gründung noch kein Bundeskanzler sein Amt ganz aus freien Stücken aufgegeben. Adenauer wurde nach 14 Jahren durch innerparteilichen Druck zum Rückzug gezwungen. Erhard musste wegen einer Koalitionskrise sein Amt an Kiesinger abtreten. Dieser verlor dann die Parlamentswahl gegen Brandt. Brandt wiederum trat wegen des Guillaume-Skandals zurück. Sein Nachfolger Schmidt verlor die Macht an Kohl. Dieser musste nach ebenfalls 16 Jahren Kanzlerschaft wegen einer verlorenen Wahl das Szepter an Schröder übergeben. Aus dem gleichen Grund wiederum ist Schröder 2005 schliesslich von Angela Merkel abgelöst worden.
In der CDU, schreibt der «Zeit»-Kommentator weiter, sammelten sich «vorzugsweise Menschen, die mit den Verhältnissen im Grossen und Ganzen zufrieden sind, die hier und da etwas verbessern möchten, nur bitte nicht zu viel». Wo, bitte, ist da die «Identitätskrise», wenn es diese Partei weiterhin fertigbringt, sich mit diesem Profil als stärkste Partei in Deutschland zu behaupten? Ist das ein schlechtes Zeichen, wenn die CDU-Wähler offenbar mit den Verhältnissen mehr oder weniger zufrieden sind?
Und haben diese Wähler nicht einigen Grund, die Zustände und Lebensverhältnisse in ihrem Land verhältnismässig vorteilhaft zu finden? Schliesslich zählt Deutschland zu den politisch stabilsten und wirtschaftlich erfolgreichsten Ländern in Europa. In der EU hat keine andere Regierung mehr Gewicht und Einfluss als diejenige von Frau Merkel.
Kompromisse und «sozialistisches Gen»
Und was ist «wischiwaschi» an einer Partei, die in den vergangenen 16 Jahren als Kanzlerpartei laut dem NZZ-Kommentator «jeden nur erdenklichen Kompromiss gemacht» hat, um die anstehenden Probleme zu lösen? Zählen vernünftige Kompromisse nicht zur Essenz einer funktionierenden Demokratie? Und wie anders soll eine Partei, die wie die CDU unter Frau Merkel immer auf einen Koalitionspartner angewiesen war, ohne Kompromisse konkrete Problemlösungen durchsetzen? Der NZZ-Chefredaktor findet diese Art des Regierens «schlaff und schlapp».
Die CDU habe die Schuldenbremse und einen ausgeglichenen Haushalt zu ihrem Markenzeichen gemacht, aber eines der «grössten schuldenfinanzierten Corona-Hilfspakete weltweit» verabschiedet, argumentiert er weiter. Läuft das in der Schweiz und in vielen andern Ländern nicht ganz ähnlich? Soll man auf völlig neue und ungewöhnliche Situationen wie die Corona-Pandemie nicht mit neuen, unorthodoxen Mitteln reagieren?
Die CDU berufe sich auf ein christliches Menschenbild und praktiziere «gesellschaftliche Beliebigkeit», moniert der Kommentator weiter. Ist die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe und der beschleunigte Ausstieg aus der Kernenergie unchristlich und ein Zeichen gesellschaftlicher Beliebigkeit? Oder sind das nicht legitime politische Antworten auf den gesellschaftlichen Wandel, den eine Partei, wenn sie regierungsfähig bleiben will, nicht einfach ignorieren kann?
Beim inzwischen gewählten neuen CDU-Vorsitzenden Laschet diagnostiziert der NZZ-Chefkommentator «mindestens ein sozialistisches Gen», aber auch «konservative Positionen». In den Augen ideologischer Gralshüter bedeuten solche Kombinationen offenbar nichts anderes als politische Unverbindlichkeit und Wischiwaschi. Aber damit ist noch keineswegs bewiesen, dass sich sozialistische Gesichtspunkte mit konservativen Ideen nicht zu einer vernünftigen Regierungspolitik zusammenfügen lassen.
In jeder erfolgreichen demokratischen Partei existieren verschiedene ideologische Strömungen nebeneinander. Und alle grossen CDU-Parteiführer von Adenauer über Kohl bis Merkel haben es meistens verstanden, diese divergierenden Tendenzen zusammenzuhalten und unter einen Hut zu bringen. Immerhin hat die CDU das Kunststück fertiggebracht, in den 71 Jahren der bundesdeutschen Geschichte nicht weniger als 51 Jahre lang den Kanzler zu stellen.
Timothy Garton Ash und der «erneuerte Liberalismus»
Wer das aktuelle Erscheinungsbild der CDU und ihre Politik trotzdem als Wischiwaschi abtut, sollte vielleicht das grosse Plädoyer des bekannten britischen Politologen und Europakenners Timothy Garton Ash für einen «erneuerten Liberalismus» genauer studieren, das in dieser Woche im NZZ-Feuilleton (19. Januar) publiziert worden ist. Dieser neue Liberalismus heisst es da, verteidige standhaft die liberalen Grundwerte wie die Menschenrechte, den Rechtsstaat, die Gewaltenteilung usw. Doch «er geht experimentell vor, mit Versuch und Irrtum, offen für das Lernen von anderen Traditionen wie dem Konservatismus und dem Sozialismus und ausgestattet mit der einfühlsamen Imagination, die wir brauchen, um die Welt durch die Augen anderer Menschen zu sehen.»
Nach den verqueren Massstäben der zitierten CDU-Kritiker müsste diese Art von Liberalismsmus und ideologischer Offenheit als «Wischiwaschi» und als «Identitätskrise» angeprangert werden.