Mehrere renommierte Denkfabriken und Forschungsinstitute in den USA verzeichneten bei Meinungsumfragen in Israel die gleichen überraschenden Ergebnisse. Ein Gemeinschaftsprojekt der Universität Maryland und des „Program on International Policy Attitudes (PIPA) erbrachte, dass 64 Prozent der israelischen Juden die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone im Nahen und Mittleren Osten befürworten. Laut dem „Saban Center for Middle East Policy“, das zum Washingtoner Thinktank „Brookings Institution“ gehört, würden 65 Prozent der Israelis bevorzugen, wenn weder Israel noch der Iran Atomwaffen besässen.
Aus den am 1. Dezember veröffentlichten Berichten geht allerdings nicht hervor, ob es sich um dieselbe Umfrage handelt oder ob getrennte Untersuchungen zum gleichen Ergebnis führten. Auf jeden Fall zeigen die Studien, dass die von den Hardlinern in der israelischen Regierung und unter den Militärs angewandte Kriegsrhetorik die Bevölkerungsmehrheit nicht überzeugt. Die US-Forscher ziehen daraus den Schluss, dass die meisten Israelis nicht nur das langfristige Ziel der Beseitigung aller Atomwaffen aus der Region unterstützen, sondern auch für die Offenlegung der nuklearen Tätigkeiten als Zwischenlösung sind.
Fragwürdige "Zweitschlagfähigkeit"
Israel hat den Besitz von Atomwaffen bisher weder bestätigt noch dementiert. Experten gehen davon aus, dass der jüdische Staat über 100 bis 200 nukleare Gefechtsköpfe auf Kampfflugzeugen, bodengestützten Raketen und U-Booten verfügt. Damit haben die Israelis eine nukleare Zweitschlagfähigkeit – das heisst, sie könnten auf jeden Angriff mit einem Gegenschlag antworten. Das mag rational handelnde Menschen vor einem Atomkrieg abschrecken. Eine absolute Sicherheitsgarantie ist es nicht. Israel ist nur halb so gross wie die Schweiz und würde einen nuklearen Schlagabtausch nicht überleben. Ein potenzieller Gegner von der Fläche und Bevölkerungszahl des Irans könnte hasardieren, mit erträglichen Verlusten davonzukommen.
Der rechtsextreme israelische Aussenminister Avigdor Lieberman meinte kürzlich in einem Interview, die Atomwaffenpläne des Irans seien gar nicht gegen Israel gerichtet, sondern sollten dem Regime in Teheran die Vorherrschaft im Nahen Osten bringen. Im Fadenkreuz der schiitischen Mullahs stünden die mit den USA verbündeten Monarchien des ölreichen Persischen Golfs.
Eines ist sicher: Die Weiterverbreitung von Atomwaffen im labilen Nahen und Mittleren Osten würde eine explosive Lage herbeiführen. Die fünf ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrates haben sich auf der jüngsten Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags im Mai 2010 schriftlich verpflichtet, die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone von Mittelmeer bis zum Indischen Ozean zu fördern. Das war der Preis für das Überleben des Abkommens aus dem Jahre 1969, das den offiziellen Nuklearmächten besonders am Herzen liegt. Eine von Japan und Australien angeführte Staatengruppe setzt sich ebenfalls stark für einen atomwaffenfreien Nahen Osten ein.
Mit welchen Mitteln gegen ein Wettrüsten im Nahen Osten?
Vergangene Woche trafen sich in Wien die Vertreter von fast hundert Staaten auf einer von der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) veranstalteten Konferenz. Einziger Punkt der Tagesordnung war die Verhinderung eines atomaren Wettrüstens im Nahen und Mittleren Osten. Israel nahm an dem Forum teil. Der Iran hingegen boykottierte das Treffen. Das war insofern erstaunlich, als sich die Islamische Republik immer für eine atomwaffenfreie Zone in der gesamten Region ausgesprochen hat, während Israel dem Unternehmen ablehnend gegenüber steht. Nach israelischer Auffassung komme ein Verzicht auf Atomwaffen erst nach einem umfassenden Friedensabkommen in Frage.
Erstaunlich war auch, dass sich Russland auf die Seite Israels und des Westens stellte. In einer gemeinsamen Erklärung mit den USA und Grossbritannien stellten die Russen fest: „Obwohl atomwaffenfreie Zonen die Sicherheit der gesamten Staatengemeinschaft verbessern, können sie nicht isoliert von anderen Sicherheitsfaktoren existieren.“ Die betroffenen Länder „müssen in ihrem Bestreben nach regionaler Stabilität und Sicherheit vereinigt sein“, heisst es in dem Text.
Indirekt wird damit der Vorwurf ausgesprochen, dass nicht allen Staaten der Region an einer Stabilität gelegen ist. Gemeint ist gewiss der Iran, aber auch Israel, dessen Kolonisierung der besetzten Palästinensergebiete ein Friedensabkommen erschwert. Die Israelis waren mit der Vorbedingung nach Wien gekommen, dass auf dem Treffen nur allgemein über atomwaffenfreie Zonen diskutiert wird und keine verbindlichen Beschlüsse anstehen. Konkreter soll es nächstes Jahr werden. Für 2012 bereiten die 189 Unterzeichnerstaaten des Atomwaffensperrvertrags eine Konferenz im Rahmen der UNO über die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone vor. Offen steht, ob Israel, das dem Vertrag nicht beigetreten ist, an der Konferenz teilnehmen wird. Da könnten die Meinungsumfragen in der israelischen Bevölkerung den Ausschlag geben.