Der 29. April 2014, bis zu dem nach den Vorstellungen John Kerrys eine Rahmenvereinbarung zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde abgeschlossen werden sollte, verstrich unbemerkt, als die Regierung in Jerusalem mit einer dezidierten Agenda aufwartete: mit der Forderung nach Anerkennung Israels als jüdischen Staat beziehungsweise als Nationalstaat des jüdischen Volkes. Mit diesem Verlangen will die israelische Politik die Annexion großer Teile der Zone C mit 61 Prozent einschließlich des Jordantals vorbereiten. Im Gleichschritt bezeichnete Wirtschaftsminister Naftali Bennett den von ihm so noch bezeichneten Friedensprozess als „Selbstmord“.
Netanyahus Definition
Bei einer Veranstaltung in Tel Aviv kündigte Benjamin Netanjahu Anfang Mai 2014 ein „Nationales Grundgesetz“ mit dem Ziel an, Israel als „der Nationalstaat des jüdischen Volkes“ zu verankern. Er fügte hinzu, dass „Israel immer die volle Gleichheit der Menschen- und Bürgerrechte für alle Bürger des Staates Israel achten (wird), für Juden und Nichtjuden in einem jüdischen und demokratischen Staat. Deshalb werden in Israel individuell die Rechte eines Bürgers sichergestellt sein.“ Aus Netanjahus lassen sich zumindest fünf Interpretationen ableiten:
1. Das Bekenntnis der Europäischen Union zur Zwei-Staaten-Lösung auf der Basis der Waffenstillstandslinien vor dem Junikrieg 1967 ist keine politische Option mehr. Gleichwohl hielten – wie zuletzt noch einmal am 07. Mai 2014 – Barack Obamas Nationale Sicherheitsberaterin Susan Rice und fünf Tage später der Europäische Rat an einer Teilung Palästinas fest, wobei immerhin auffällig war, dass der Rat entgegen früheren Verlautbarungen vorsichtig formulierte: „remains convinced“ und „the best way“. Vor drei Jahren soll Shimon Peres einer Grundsatzvereinbarung mit Machmud Abbas nahe gewesen sein, wonach der palästinensische Präsident „im Namen des palästinensischen Volkes“ und Netanjahu „im Namen des jüdischen Volkes“ einen Friedensvertrag unterschreiben solle. Dieser Vorschlag sei von Netanjahu strikt zurückgewiesen worden.
Bennett hat einen „Stabilitätsplan“ ins Spiel gebracht: vollständige Bewegungsfreiheit für die Palästinenser in den Zonen A und B, die unter vollständiger oder anteiliger Verwaltung der Autonomiebehörde stehen, sowie Abbau der „Trennungsmauern“. Er solle den Weg für die förmliche Annexion der Zone C freimachen. Bennetts ideologische Parteigänger zeigten sich überzeugt, dass die Palästinenser schlussendlich der Autonomie zustimmen würden.
2. Im Nationalstaat des jüdischen Volkes stehen „Nichtjuden“ individuelle, aber keine kollektiven Rechte zu. Der Status der arabischen Staatsbürger als „second-class citizens“ wäre endgültig festgeschrieben. 2013 sprach sich fast ein Drittel „vollständig“ dafür aus, dass den jüdischen Staatsbürgern mehr Rechte als den nichtjüdischen zustehen sollten, und 16 Prozent waren damit „irgendwie“ einverstanden. Der Frage, ob die Regierung den arabischen Bevölkerungsteil zur Auswanderung auffordern solle, stimmten 27,5 Prozent vollständig und weitere 16,3 Prozent „irgendwie“ zu, während 34 Prozent eine solche Ermutigung „vollständig“ und weitere 15,8 Prozent sie „irgendwie“ ablehnten.
3. In dem von Netanjahu angekündigten Grundgesetz sollen – wie die rhetorische Abfolge seiner Ausführungen belegt – die jüdischen vor den demokratischen Rechten rangieren, wobei sich die jüdischen Rechte aus dem nationaljüdischen Religionskompendium und aus der jüdischen Präsenz im Lande seit der Antike herleiten. Abgeordnete der religiös-zionistischen Parteien kündigten gegen Netanjahus Ansinnen gleichwohl Widerstand an, weil sie demokratische Rechte von Grund auf ablehnen. 2013 sprachen sich 32,3 Prozent dafür aus, dass „jüdisch“ am wichtigsten sei, 37,0 Prozent hielten „jüdisch“ und „demokratisch“ für gleichgewichtig, und 29,2 Prozent setzten „demokratisch“ an die erste Stelle. Im Konfliktfall gaben 42,7 der Demokratie und 28,2 Prozent dem Jüdischen den Vorrang.
4. Den Palästinensern wären in den zu annektierenden Gebieten die israelische Staatsbürgerschaft sowie das aktive und das passive Wahlrecht vorenthalten, während den dort lebenden rund 320.000 jüdischen Siedlern neben dem permanenten Wohnrecht dieses Privileg erhalten bleiben würde. Anfang Mai 2014 kündigte der jüdische Regionalrat einen 10-Jahr-Plan für das Jordantal an, in dessen Verlauf die jüdische Bevölkerung verdreifacht und die Rückgabe im Zuge eines Schlussvertrags mit den Palästinensern endgültig verhindert werden solle. Der Bau neuer Wohneinheiten in Ost-Jerusalem und in der Westbank ist ungebrochen.
5. Die Etablierung Israels als „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ soll die jüdische „Diaspora“ israelisch nationalisieren. Dies hätte gravierende Rückwirkungen, weil die dort lebenden Juden den alten, mit antisemitischen Untertönen durchsetzten Vorwurf der geteilten Loyalität neu gewärtigen müssten.
Der Journalist und Buchautor Yossi Melman schrieb vor kurzem: „Ich habe einen Traum. Ich habe einen Traum, dass Israel Ethik, Moral und Werte in seine Außen- und Sicherheitspolitik einführen möge.“
Naivität der internationalen Politik?
Angesichts der Umbrüche in der arabischen Welt genießt die Zusage der westlichen Diplomatie, das nationale Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes zu unterstützen, keine Priorität. „Die Amerikaner sind zusammengeklappt, die Europäer haben aufgegeben, die Israelis genießen, und die Palästinenser sind verloren“, lautet eine im israelischen Friedenslager gängige Formel.
Im Koalitionsvertrag der schwarz-roten Bundesregierung vom Dezember 2013 – und von Bundeskanzlerin Angela Merkel bei den deutsch-israelischen Regierungskonsultationen im Februar 2014 wiederholt – ist das politische Bekenntnis „zu der besonderen Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel als jüdischem und demokratischem Staat und dessen Sicherheit“ verankert. Diese Zusicherung wird vom Fraktionsvorsitzenden der LINKEN im Bundestag Gregor Gysi und in einer Variante, die die Definition offenlässt, wem denn die „Solidarität mit Israel“ gilt, vom Plenum des Bundestages mitgetragen. Anfang Juni 2014 hat John Kerry auf Nachfragen zu den neuen Wohnprojekten in den palästinensischen Gebieten wiederholt, dass die USA an der unverbrüchlichen Allianz mit Israel festhalten werden.
Solche Bekenntnisse haben die israelische Regierung nicht abgehalten, die internationale Diplomatie scharf zurechtzuweisen. So wurde die Ermordung eines Ehepaars aus Tel Aviv, einer nichtjüdischen Französin und einem schwerverletzten belgischen Angestellten am 24. Mai 2014 im Brüsseler Jüdischen Museum als Ergebnis der „unaufhörlichen Hetze gegen Juden und ihren Staat“ in Europa beanstandet: „Es gibt Repräsentanten in Europa, die schnell jeden Bau einer Wohnung in Jerusalem verurteilen, aber es nicht eilig haben, den Mord an Juden in Europa selbst zu missbilligen oder dies nur schwach tun.“
Von David Ben-Gurion zu Benyamin Netanyahu
Jüngst ist noch einmal behauptet worden, dass die Forderung nach Anerkennung Israels als jüdischer Staat in der UN-Teilungsresolution vom November 1947 verankert sei. Tatsächlich war in ihr die Gründung eines „jüdischen“ und eines „arabischen Staates“ in Palästina vorgesehen. Doch im Gegensatz zu heutigen Interpretationen verstand David Ben-Gurion unter „jüdisch“ die freie Einwanderung und die Integration der Ankömmlinge – damals im Wesentlichen der Überlebenden der „Shoah“. Dem nachmaligen ersten Ministerpräsidenten war überdies klar, dass dem künftigen „jüdischen Staat“ mit 499.000 Juden und 438.000 Arabern eine binationale Realität bevorstand.
Gegen Phantasien der nationalen Koexistenz ist Netanjahu, ungeachtet seiner Rede von den „zwei Staaten für zwei Völker“ an der Bar-Ilan University im Frühsommer 2008, gefeit. Schon 1993 vertrat er in seinem Buch „A Place Among the Nations” die Auffassung, dass die Palästinenser in den „Bezirken („counties“) Jenin, Nablus, Ramallah, Hebron“ nach einer „Abkühlungsperiode von zwanzig Jahren“ als „Staatsbürger“ leben könnten. In Israels Hauptstadt gibt es für Netanjahu von vornherein keine kollektiven Spielräume für die andere Seite. Zusätzlich bemüht der Regierungschef die „demographische Gefahr“, die für ihn von den Arabern innerhalb der Grenzen vor 1967 ausgeht – ein Etikett gegen das Zusammenleben in „gemischten“ Städten wie Akko, Haifa, Tel Aviv-Jaffo, Beersheva und Jerusalem.
Gleichsam als ersten Schritt wurde am 11. März 2014 auf gesetzgeberischem Weg für die künftigen Parlamentswahlen in Israel die Sperrklausel von 2 auf 3,25 Prozent heraufgesetzt, wodurch nach gegenwärtigem Stand drei der vier arabischen Parteien aus der Knesset herausfallen würden. Unter solchen Bedingungen kann nicht verwundern, dass immer häufiger unter Palästinensern, den „Flüchtlingen im eigenen Land“, die Auffassung zu hören ist, die israelische Besatzung habe 1948 begonnen und nach 1967 ihre Vollendung gefunden, und dass auf kommunaler Ebene sich islamistische Gruppen erheblicher Sympathien erfreuen.
Ideologen und Praktiker des kolonialen Unternehmens sind in der Politik und in den Vorfeldorganisationen bestens vernetzt. Im 23 Minister umfassenden Kabinett zählen zu den dezidierten Gegnern einer Zweistaatenregelung neben Netanjahu vor allem Avigdor Lieberman und sein Stellvertreter Zeev Elkin (Außen), Moshe Yaalon und sein Stellvertreter Danny Danon (Verteidigung), Naftali Bennett (Wirtschaft), Uzi Landau (Tourismus), Yuval Steinitz (Strategie, Geheimdienste, internationale Beziehungen), Uri(el) Ariel (Bau und Wohnungsbau) sowie Israel Katz (Verkehr). Ende Mai 2014 verkündete Ariel in Anwesenheit Netanjahus, dass es zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan nur einen Staat gebe, den Staat Israel, und deshalb jeglicher Siedlungsstopp aufgehoben sei.
Selbst der konservative Autor und „Haaretz“-Kolumnist Ari Shavit, der in seinem Buch „My Promised Land“ (2013) eine erschütternde Bilanz der Vertreibung der arabischen Bevölkerung 1948 abgeliefert hat, räumte die politisch unumschränkte Macht der Siedler ein.
Zivilgesellschaftlicher Aufbruch?
So häufig wie nie zuvor fanden im April und Mai 2014 staatsferne alternative Veranstaltungen bei jenen Menschen Zuspruch, die der politischen Vernunft eine letzte Chance geben wollen:
– Zum Gedenken an die „Shoah“ in Tel Aviv mit Autoren, Künstlern und Wissenschaftlern nahm eine beeindruckende Zahl junger Leute im Protest gegen die politische Instrumentalisierung der NS-Verbrechen teil.
– Im Gegenzug zu den offiziellen Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag versammelte sich in Jerusalem, was Rang und Namen in der aktiven Friedensszene in Israel hat.
– Das Gedenken an die durch Krieg und Gewalt getöteten Israelis und Palästinenser auf dem Tel Aviver Messegelände zog fast dreitausend Menschen an.
– Bei der mit Hilfe der Konrad-Adenauer-Stiftung geförderten Tageskonferenz in den Räumen der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tel Aviv fragten hochrangige arabische und jüdische Referenten nach der neuen politischen Agenda der arabischen Bevölkerung in Israel.
Gruppen wie die Frauen von „Machsom Watch“, die „Combatants for Peace“ und die Aktivisten von „Breaking the Silence“ melden steigendes öffentliches Interesse. Die Stimmen werden lauter, die den Zusammenhang zwischen der Besatzung und ihren Kosten für die Innen- und Gesellschaftspolitik auf die Tagesordnung setzen: die stetigen Zuwächse im Militär- und Sicherheitshaushalt, die immensen Investitionen in die Siedlungen, die steigenden Lebenshaltungskosten, die Indoktrination in den Schulen und die Welle der Kriminalität, Gewalt und Rücksichtslosigkeit. Die als „schöne Seelen“ herabgewürdigten Gegner der Regierungspolitik lassen sich durch Drohungen nicht einschüchtern, dass gegen sie strafrechtlich vorgegangen würde, weil sich Israel im Kriegszustand mit einer „fremden Entität“ – den Palästinensern – befinde.
Gleichwohl: Wie können Begegnungen von Mensch zu Mensch und von Stadt zu zwischen Israelis und Palästinensern Früchte tragen, wenn ihnen die politischen Rahmenbedingungen entgegenstehen? Von einer annähernd wirksamen Kontrollfunktion der Regierenden bleibt die Zivilgesellschaft auf beiden Seiten als Gegengewichte gegen den funktionsuntüchtigen „Palestinian Legislative Council“ und der ohnmächtigen Opposition in der Knesset noch weit entfernt.