„Gott mit Dir, Du Land der Bayern“ beginnt das 1860 von Michael Öchsner geschriebene und vor allem südlich des fränkischen Teils im weiss-blauen deutschen Freistaat zumeist voll Inbrunst gesungene „Lied der Bayern“ – die so genannte Bayernhymne. Und sie fährt fort: „Über Deinen weiten Gauen ruhe seine Segenshand“.
Die Buchstaben der Kassandra
Von Ruhe und Segensstimmung ist zwischen Spessart und Karwendel freilich seit Monaten schon nichts zu spüren. Vielmehr irrlichtert es hör- und sichtbar über den weiten Gauen von Aschaffenburg im Norden bis hinunter an den Bodensee. Mehr noch, täglich werden den Menschen neue Warnungen vor Unwettern bis hin zu Beben vorgesetzt – vor politischen Umwälzungen, wohlgemerkt.
Am Sonntag (14. Oktober) wird in Bayern ein neuer Landtag gewählt. An sich ein regelmässig, alle fünf Jahre wiederkehrender Vorgang. Gewiss nicht unwichtig, aber in erster Linie von regionaler Bedeutung. Doch dieses Mal haben sich die Koordinaten verschoben.
Nichts, sagen wenigstens die dem Volk professionell aufs Maul schauenden Demoskopie-Experten, ist schon im Vorfeld des Urnenganges wie es in der Vergangenheit allermeistens war. Und schon gar nicht, prophezeien sie, werde es nach der Stimmenauszählung am Sonntagabend so bleiben. Kassandra, die klassische Verkünderin von Unheil, benennt auch schon seit Monaten die Adressaten mit drei Buchstaben: CSU.
Alle sprechen von Katastrophe
Am Sonntag würden, sagen nahezu alle Meinungsforscher und Medien, die bayerischen Wähler der sieggewohnten und über manche Jahrzehnte (wie auch im Moment noch) sogar mit absoluter Mehrheit regierenden Christlich-Sozialen Union eine ordentliche Ohrfeige verpassen. Auch von einem Wahlfiasko ist nicht selten die Rede. Tatsächlich weisen die jüngsten, noch am 11. Oktober veröffentlichten, Umfragen der einstigen politischen Heimstatt eines Franz Josef Strauss noch ganze 32,9 Prozent Stimmenanteil zu. Das wäre gegenüber der vergangenen Wahl 2013 ein Verlust von sage und schreibe 14,8 Prozentpunkten.
Träte das wirklich ein, wäre der Vorgang mit dem Begriff „Katastrophe“ in der Tat nur höchst unzureichend beschrieben. Und zwar sowohl für die Partei als auch für deren Repräsentanten. Aber das Erdbeben würde zugleich den Freistaat gewaltig erschüttern. Und damit ein Bundesland, das in nahezu allen wirtschaftlichen, finanziellen, sozialen, sicherheits- und bildungspolitischen sowie gesellschaftlichen Bereichen die bundesrepublikanischen Charts dominiert – oft sogar mit grossem Abstand.
Die Hälfte der Wähler noch unentschlossen
Nun sind, wie die Realitäten immer wieder gezeigt haben, demoskopisch erfragte Stimmungen am Ende nicht unbedingt identisch mit den an den Urnen dann tatsächlich markierten Kreuzchen. Zumal auch jetzt noch an die 50 Prozent der Befragten angaben, nach wie vor unentschlossen zu sein. Dennoch – dass es im nächsten Bayerischen Landtag erhebliche Verschiebungen und Bewegungen geben wird, dürfte sicher sein.
Wobei die von den Wählern zu erwartenden Nackenschläge mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur die Christsozialen treffen dürften, sondern (vielleicht sogar noch schlimmer für deren Selbstbewusstsein und Zukunftsängste) Deutschlands älteste, traditionsreichste und durchaus ruhmvolle Partei – die Sozialdemokraten. Sicher, die SPD führt (die Grossstädte ausgenommen) in Bayern schon lange nur ein Schattendasein und fuhr vor fünf Jahren bloss 20,6 Prozent ein. Aber sollten sich am Sonntag die prognostizierten 11 Prozent bewahrheiten, käme das fast schon einer Auflösung gleich.
Natürlich rauchen in den diversen Parteizentralen sowohl in München wie in Berlin die Köpfe, werden Modellrechnungen ausgetüftelt nach dem Motto „Was wäre, wenn – und wer dann eventuell mit wem?“ Das ähnelt zwar einer Kaffeesatz-Leserei, wird jedoch trotzdem in aller Ernsthaftigkeit durchgespielt. Einigermassen sicher scheint zurzeit nur, dass der nächste weiss-blaue Landtag sechs Fraktionen beheimaten dürfte.
Das wären mit AfD und FDP zwei Parteien mehr als die bisherigen vier – nämlich CSU, SPD, Grüne und Freie Wähler. Ob sich freilich die Sehnsüchte der „Kleinen“ erfüllen werden, die gerupfte CSU vom Regierungshof zu jagen, um dann gemeinsam eine völlig neue Politik zu erproben, erscheint denn doch eher dem Land Utopia entsprungen.
Einig: Nicht mit der AfD
Auch wenn die Verluste hoch und schmerzhaft ausfallen sollten, wird mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit auch in der nächsten Wahlperiode kein Weg an der CSU vorbeiführen. Wobei zwar etliches auf eine sich rechnerisch anbietende Koalition mit den Grünen hindeutet, denen geradezu sensationelle 18,5 Prozent (2013: 8,6 Prozent) prognostiziert werden. Ausserdem: Gibt es nicht schon in Hessen, Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg derartige Polit-Ehen? In Stuttgart sogar mit einem grünen Ministerpräsidenten und der CDU nur als „Junior“.
In Bayern, freilich, müsste schon ein Wunder geschehen, um Derartiges zustande zu bringen. Zu gross sind die persönlichen Animositäten zwischen den handelnden Personen und zu klein die politischen Gemeinsamkeiten in den wichtigen Gegenwarts- und Zukunftsfragen. Immerhin besteht in einem Punkt eine – fast – Allparteien-Einigkeit: Niemand will ein Bündnis mit der teilweise die Grenzen zum Rechtsextremismus überschreitenden Alternative für Deutschland (AfD) eingehen, der immerhin die Chancen auf 12,8 Prozent eingeräumt werden.
Noch einmal: Das alles sind politische Hütchenspielereien, die sich durch das reale Wählerverhalten ganz plötzlich wie Nebel auflösen können. Dennoch: Da eine Neuauflage der absoluten CSU-Mehrheit ausgeschlossen scheint – wer böte sich als Partner an? Der aus Niederbayern stammende Vorsitzende der Freien Wähler in Bayern (und auch in ganz Deutschland), Hubert Aywanger, hat aus seiner grundsätzlichen politischen Nähe zu den „Schwarzen“ nie ein Geheimnis gemacht. Immerhin 9,8 Prozent sagen ihnen die Demoskopen voraus. Dazu kämen die Freien Demokraten, die vor fünf Jahren aus dem Landtag geflogen waren, aber jetzt mit 5,9 Prozent wieder einziehen würden.
Suche nach Schuld und Schuldigen
Wahltage und Wahlergebnisse sind traditionell auch immer der Startpunkt für Analysen, Schuldurteile und persönliche Abrechnungen. Da darf man schon gespannt sein, wie es in der CSU zugehen wird. Der selbstmörderische versteckte und offene Dauerkrieg zwischen Parteichef Horst Seehofer, zunächst noch als Ministerpräsident, und seinem jetzt amtierenden Nachfolger Markus Söder, dann die Fehde zwischen dem ins Berliner Innenministerium gewechselten Seehofer und Bundeskanzlerin Angela Merkel um die Flüchtlings- und Asylpolitik.
Schliesslich das unglaubliche Possenspiel um den allzu vorlauten Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maassen bei gleichzeitigen gewaltsamen rechtsradikalen Aufmärschen, Pannen und Unzulänglichkeiten beim Umgang mit politischen und islamistischen Terroristen – all das spielte sich über Monate tagtäglich vor den ungläubigen Augen der Öffentlichkeit ab.
Und die Quittung wird der Politik und den Politikern nun präsentiert. Jetzt in Bayern und in zwei Wochen in Hessen. Ähnlich wie in München hat auch die in Wiesbaden sitzende Landesregierung eine objektiv hervorragende Bilanz vorzuweisen. Eine Koalition, übrigens, aus CDU und Grünen, die ruhig und an Zielen orientiert agierte und ihre Differenzen und Streitigkeiten intern und ohne hörbare Kräche regelte. Trotzdem deuten die Umfragezahlen auf schwere Einbrüche in Sonderheit bei der CDU hin. Eines dürfte zudem sicher sein – das Bayern-Ergebnis wird auf jeden Fall auch Hessen beeinflussen. Und beide Wahlausgänge werden die ohnehin schon gefährlichen Spannungen in Berlin noch weiterbefördern.
Kurzum: Es wird Bewegung geben in Deutschland. Auch schwere See mit Brechern …