In Rapperswil kann ein Schweizer Komponist wiederentdeckt werden.
Und plötzlich standen da ganz viele Curtis auf dem Platz, unterm Schirm, eingemümmelt in warme Mäntel oder mit Regenhut auf dem Kopf. Viele dieser Curtis führen einen anderen Familiennamen vor oder nach dem «Curti» –, aber sie sind ein Clan und alle gut gelaunt und ausgesprochen fröhlich, trotz des garstigen, nasskalten Wetters an diesem Frühlingsabend in Rapperswil. Denn es gibt was zu feiern!
An diesem Abend wurde am Fischmarktplatz 9 ein Bronzemedaillon an der Hauswand eingeweiht, das an Franz Curti erinnert, einen der Vorfahren des Curti-Clans, der eine Zeitlang in diesem Haus gelebt hatte und zu einem der bedeutendsten Schweizer Komponisten aufstieg.
Das Medaillon war 1898 in Dresden angefertigt worden, um das Grab Franz Curtis zu schmücken, der seine letzte Ruhe auf dem Johannisfriedhof in Dresden gefunden hatte. Dort in Dresden hatte Franz Curti den grössten Teil seines Lebens verbracht. Nachdem der Friedhof aufgehoben worden war, fand das Medaillon nun über Umwege und auf Wunsch der Curtis den Weg nach Rapperswil. Hier wird es nun an den Komponisten erinnern.
Talentierte Nachkommen
Einer unter den vielen Curtis strahlt ganz besonders an diesem Abend in Rapperswil: Jean Marie Curti, der zum französischsprachigen Zweig der Curtis gehört und eindeutig das musikalische Talent des Vorfahren geerbt hat.
Jean Marie Curti strahlt nicht nur wegen des Medaillons, sondern auch im Hinblick auf das Curti-Festival in Rapperswil, dessen künstlerischer Leiter er ist. An drei Abenden stehen Lieder, die Oper «Das Rösli vom Säntis» und «Die Gletscherjungfrau», eine «dramatische Kantate über Liebe und Tod mit mehr als 130 Mitwirkenden», auf dem Programm. Das gibt zu tun …
«Ach, mit so einer grossen Besetzung kann ich umgehen …», sagt Jean Marie Curti lächelnd. Er ist Musiker, Musikhistoriker, Komponist, Dirigent … und er beschäftigt sich auch mit dem musikalischen Nachlass Franz Curtis. Gustav Mahlers «Sinfonie der Tausend» hat Jean Marie Curti schon aufgeführt, da sind die 130 Mitwirkenden der «Gletscherjungfrau» eine Kleinigkeit dagegen, die er aber beileibe nicht unterschätzt. Vielleicht war es zum Ausgleich für solche Gross-Konzerte, dass Jean Marie Curti dann selbst eine Oper geschrieben hat: «Bruder Klaus». Für einen Sänger und ein Instrument. Fertig. Und Jean Marie Curti schmunzelt …
«Der Vater von Franz Curti war der Anton, ein Jurist in Rapperswil», erzählt Jean Marie Curti. «Aber er war gleichzeitig ein ausgezeichneter Sänger, das hat sogar Richard Wagner damals bemerkt, und so ist Anton Curti nach Kassel gegangen, um Opern zu singen. Dort ist auch sein Sohn Franz auf die Welt gekommen. Nächste Station war die Semperoper in Dresden.» Inzwischen war mit Anton Xaver ein zweiter Sohn hinzugekommen, auch er musikalisch begabt wie sein Bruder Franz. Anton Xaver wurde Chef der Post in Lausanne und machte nebenbei Musik. Dessen Sohn Antoine wiederum war Hotelier und – natürlich – Musiker. «Allerdings war damals niemand Berufsmusiker», erklärt Jean Marie Curti, «aber alle machten Musik». Dieser Antoine jedenfalls war der Vater von Jean Marie Curti, der in der Nähe von Genf lebt und nun als erster Curti Berufsmusiker ist. «Und meine Kinder auch», wirft er gleich ein.
Zahnarzt und Komponist
Nach dem Exkurs über den weitverzweigten Curti-Stammbaum nun aber doch zu Franz Curti, dem Komponisten, der jetzt in Rapperswil im Mittelpunkt steht. «Schon als ich das erste Mal eine Partitur von ihm gesehen habe, hat sie mich fasziniert, erzählt Jean Marie Curti. «Seither habe ich mich darum bemüht, auch die anderen Partituren zu finden.» Dies erwies sich allerdings als schwierig. Franz Curti, der in Kassel geboren wurde, besuchte die Schule in Rapperswil, wo er bei einem Onkel lebte, da der Vater als Sänger immer wieder unterwegs war. In Rapperswil studierte Franz auch Klavier, Orgel und Violine, bevor er in Berlin ein Medizinstudium absolvierte und sich in Dresden als Zahnarzt niederliess und sich – wie seine Vorfahren – nebenbei mit Musik und Komposition beschäftigte.
Zwei Weltkriege und die Teilung Deutschlands in DDR und BRD waren der Grund, warum Curtis Partituren verstreut und nur schwer wieder auffindbar waren. «Schliesslich habe ich in der Staatsbibliothek Berlin die ‘Gletscherjungfrau’ gefunden, die wir jetzt aufführen werden», erzählt Jean Marie Curti. «Die Partitur zum ‘Rösli’ war total verschwunden, ich habe aber Fragmente gefunden: hier die Violine, dort eine Gesangsstimme, dann das dritte Piano … Es hat fünf Jahre gedauert, bis ich das alles zusammen hatte, aber es blieben trotzdem Lücken, für die ich selbst etwas komponiert habe. Nicht im Stil von Franz Curti, denn ich finde das darf man nicht machen. Es ist ganz klar etwas anderes. Und falls ich doch noch die restlichen Noten finden sollte, kann man diese Teile ganz einfach wieder auswechseln.» Jean Marie Curti ist durchaus zuversichtlich, dass ihm dies eines Tages noch gelingen könnte.
Der einzige Schweizer Romantiker
2005 hat Jean Marie Curti schon einmal in Genf ein grosses Franz-Curti-Konzert organisiert, zwischendurch auch immer mal wieder kleinere Veranstaltungen. «Ich finde, Curti ist ein wichtiger Komponist zwischen Wagner und Mahler. Und als Schweizer Romantiker ist er der einzige! Später gab es noch einen jüngeren Komponisten, Joachim Raff, kurioserweise ebenfalls aus Rapperswil. Und Raff bewunderte Curti sehr. Curti seinerseits liebte Robert Schumann sehr, und das hört man auch in seiner Musik.» Und wie würde Jean Marie die Musik von Franz Curti charakterisieren? «Er ist ein Komponist, der die Melodie sehr liebte. Und er schrieb eingängige Melodien, die man sich gut merken kann und die man gern hört. Die Melodien der ‘Rösli’-Oper, die wir auch in Rapperswil spielen, sind ein Bijou! Aber Franz Curti war ja auch ein exzellenter Pianist und komponierte sehr schnelle Stücke, nicht ganz einfach, die aber in den Fingern fliessen und gut fürs Ohr sind. In seinen Stücken findet man Melodie und Harmonie. Ich denke, zeitgenössische Komponisten könnten bei diesen Romantikern noch etwas lernen … Die heutige Musik hat keine Seele!»
Obwohl Franz Curti schon relativ jung mit 44 Jahren an Tuberkulose gestorben ist, hat er ein grosses musikalisches Werk hinterlassen: Lieder und Chorwerke, Instrumentalstücke und mehrere Opern. «Nach dem Festival werde ich weiter daran arbeiten. Es gibt zum Beispiel eine Oper, die leider völlig in Vergessenheit geraten ist und die spielt in Venedig. Sie heisst ‘Erlöst’ und es ist eine total dramatische Geschichte! Mit Eifersucht, Sturm und Drang und einer Frau, die auf der Gondel erstochen wird …!» Jean Marie Curti strahlt vor Begeisterung über diese schräge Schauergeschichte. «Das muss man doch mal aufführen!» Und wir lachen beide …
Gletscherjungfrau und Rösli vom Säntis
Aber Jean Marie Curtis musikalische Welt besteht nicht nur aus Curti. Alte Musik liegt ihm am Herzen, die französische Musik … «Rameau ist wunderbar. Er hatte einen Sinn für Melodien. Oder die Qualität Bizets in ‘Carmen’, die ist ausserordentlich, Debussy ist magisch! Ich habe aber auch die englische Ästhetik für mich entdeckt. Mein erstes Konzert war von John Dowland. William Byrd ist für mich der perfekte Komponist. Und Heinrich Schütz.»
Jetzt freut sich Jean Marie Curti aber erst einmal auf drei Tage Curti-Festival, auf die «Gletscherjungfrau» und das «Rösli vom Säntis», dessen Uraufführung Franz Curti nicht mehr erlebt hat, da er kurz zuvor verstarb. Und schliesslich werden auch ein paar Geschichten aus dem Leben des Franz Curti erzählt, neben der Musik.