Der für diese Woche erwartete Beginn eines militärischen Gegenschlags des Iran und seiner Verbündeten der «Achse des Islamischen Widerstands» dürfte anders verlaufen als der Angriff der iranischen Revolutionsgarden auf Israel vor knapp vier Monaten. Es könnte zu einem mehrtägigen Schlagabtausch kommen. Begründet werden die Militärschläge mit dem Prinzip der Vergeltung. Dahinter verbergen sich jedoch handfeste strategische Ziele und Interessen.
Die israelische Regierung wird versuchen, nach der Zerschlagung der Hamas auch die Hizbullah im Libanon und in Syrien so zu schwächen, dass sie keine unmittelbare Bedrohung für die israelische Sicherheit mehr darstellt. Darüber hinaus wird Israel versuchen, die iranische Bedrohung aus der Ferne auszuschalten. Da dies auch im Interesse der meisten arabischen Anrainerstaaten liegt, werden diese ihre Neutralität und ihre «nationalen Interessen» betonen. Jordanien würde sich gegen eine Verletzung seines Luftraums militärisch zur Wehr setzen. Nicht zufällig dürfte der jordanische Aussenminister Safadi gerade jetzt zu Gesprächen mit seinem iranischen Amtskollegen Ali Bagheri nach Teheran gereist sein. Saudi-Arabien hat sich vorsorglich für neutral erklärt.
Irans drei grundsätzliche Ziele
Die strategischen Interessen Irans und seiner Stellvertreter sind schwieriger einzuschätzen. Dies hängt damit zusammen, dass es in der politischen und militärischen Führung Irans keine einheitliche Meinung über den Sinn einer militärischen Konfrontation mit Israel bzw. den USA gibt. Die Revolutionsgarden und insbesondere ihre Auslandsorganisation, die militärisch die al-Quds-Einheiten repräsentieren, werden von einem klar umrissenen ideologischen Programm getragen: Die Islamische Republik Iran verkörpere drei Ziele: Erstens die Wiederherstellung der alten imperialen Macht Irans und die Errichtung einer iranischen Hegemonie, zweitens die Schirmherrschaft über die schiitische Welt und drittens die Schaffung einer Situation, die es dem verborgenen 12. Imam erlauben würde, aus der Verborgenheit zurückzukehren, um am Ende der Zeiten das Reich der Gerechtigkeit zu errichten.
Diese religiös ersehnte Situation würde eintreten, wenn Iran als Nation seine historische Mission erfüllen würde. Da die endzeitliche Auseinandersetzung nach Schlachten in Nordsyrien in Jerusalem stattfinden werde, sei die «Befreiung» Jerusalems eine religiöse Pflicht, um die Rückkehr des Imams zu ermöglichen. Die iranische Führung hat die Unterstützung der palästinensischen Sache stets mit nationalen Eigeninteressen begründet. So ist auch diesmal zu erwarten, dass Iran eine militärische Strategie wählen wird, die dieses nationale Interesse nicht gefährdet.
Unterschiedliche Gewichtungen zwischen Hizbullah und Irans Führung
Dies bedeutet, dass die militärischen Aktionen Irans begrenzt sein und bleiben werden, solange die israelische Seite ihre Aktionen ebenfalls begrenzt. Allerdings teilen nicht alle politischen Institutionen im Iran diese extreme religiöse Fundierung des Nationalismus. Der neu gewählte Präsident Mas’ud Peseschkian beispielsweise versteht sich zwar auch als systemkonform, d. h. als Unterstützer dieser ideologischen Ordnung, gewichtet aber das nationale Interesse weitaus höher als die messianische Idee, für die Revolutionsführer Khamenei steht.
Das strategische Interesse der Hizbullah ist eindeutig auf die libanesische Innenpolitik gerichtet. Es geht der Hizbullah vor allem darum, im Libanon eine politische Ordnung zu etablieren, die eine libanesische Variante der iranischen Staatsordnung darstellt. Hizbullah hat mehrfach erklärt, dass es ihr politisches Ziel sei, die konfessionelle Ordnung im Libanon abzuschaffen und stattdessen einen Einheitsstaat unter der ideologischen Vorherrschaft von Hizbullah zu errichten. Das bedeutet, dass die Hizbullah auch einen begrenzten Konflikt mit Israel für strategisch sinnvoll hält. Nicht umsonst hat ihr Generalsekretär Hassan Nasrallah gerade angekündigt, dass die Auseinandersetzung mehrere Tage dauern werde.
Gemeinsamkeiten zwischen Hizbullah und den Huthi in Nordjemen
Die palästinensischen Organisationen Hamas und Islamischer Dschihad (PIJ) dürften in der strategischen Planung Irans eine eher untergeordnete Rolle spielen. Sie tragen wenig bis nichts zur Umsetzung der iranischen Ziele bei. Wichtig sind sie als Träger iranischer Propaganda. Sie verhelfen dem Regime in Teheran zu transnationaler Legitimität, ja, in den internationalen Gaza-Protesten erfuhr Iran sogar eine so starke politische Aufwertung, dass die Repression nach der Revolte im Herbst 2022 fast in Vergessenheit geriet.
Die Hizbullah und die nordjemenitischen Ansarullah (Huthi) gelten als parastaatliche Organisationen mit eigenen bewaffneten Verbänden. Dies impliziert, dass sie ein Primat in der nationalen Politik sehen, ihren Verband als legitimen Ausdruck der Nation definieren und daher unter Umständen auch eine vom Iran unabhängige Politik verfolgen. Dies gilt auch für die PIJ, die zwar keine eigene parastaatliche Macht darstellt, aber ideologisch stark mit dem Regime in Teheran verbunden ist. Natürlich sind weder die PIJ noch die Hamas schiitische Organisationen. Sie teilen auch nicht den religiösen Messianismus, der das politische System der Islamischen Republik trägt. Dennoch gibt es eine gewisse Familienähnlichkeit, denn beide Verbände sind Träger des religiösen Ultranationalismus, der in der palästinensischen Öffentlichkeit eine Hegemonie ausübt.
Die Huthi wiederum haben, ähnlich wie die Hizbullah im Libanon, ein primäres Interesse daran, ihre Machtposition in der komplexen Gesellschaft des Nordjemen zu sichern und auszubauen. Dazu gehört der Aufbau eines politischen Systems nach iranischem Vorbild, das in Teilen sogar dessen religiös-politische Kultur übernimmt. Der Kampf gegen Israel ist hier allerdings Teil einer innergesellschaftlichen Legitimationsstruktur, die sich inzwischen eines Diskurses bedient, der die Hamas fast als eine den Huthi gleichgestellte Organisation erscheinen lässt.
Irakische Verbände als Teilverbündete Irans
Die irakischen Verbände, die sich als Teil der «Achse des Islamischen Widerstands» verstehen, sind am ehesten als «bewaffnete Unterstützergruppen» des Iran zu verstehen. Aber auch sie verbinden ihre pro-iranische Politik mit eigenen lokalen und regionalen Interessen. Dies kann dazu führen, dass sie ohne iranische Kontrolle militärisch aktiv werden. Aus dem Irak wurden mehrfach Raketen auf Israel abgefeuert, in einem Fall gelang es sogar, den Iron Dome zu durchbrechen. Die iranischen Agenturen im Irak hatten daraufhin alle Hände voll zu tun, die lokalen Milizen zurückzudrängen.
Unter diesen Umständen dürfte es auch für Iran sehr schwierig sein, die bestehende Koalition der Achse des islamischen Widerstandes auf eine gemeinsame militärische Strategie zu verpflichten und dafür zu sorgen, dass die Interessen Irans nicht durch unkontrollierte militärische Aktionen seiner Proxys beschädigt werden.
Die Risiken eines unbeherrschbaren Waffenganges
Aus dem Gesagten ergibt sich folgendes Szenario: Iran wird als «Vergeltungsmassnahme» israelische militärische und möglicherweise auch öffentliche Einrichtungen in Israel angreifen, wobei die Hauptlast des Angriffs diesmal wahrscheinlich von den regulären iranischen Streitkräften getragen wird. Iran wird versuchen, die Angriffe so zu gestalten, dass Israel von einer starken Reaktion abgeschreckt wird. Daher werden mit Sicherheit die parastaatlichen Verbände der «Achse des Islamischen Widerstands» im Libanon, in Syrien, im Irak und in Jemen zum Einsatz kommen. Das bedeutet, dass Israel selbst wahrscheinlich direkt aus dem Libanon und dem Irak, vielleicht auch aus Syrien, mit Raketen beschossen wird. Da die iranischen Raketen bzw. Drohnen zwangsläufig über den Irak einfliegen werden, dürften amerikanische und französische Abfangaktionen vor allem über irakischem Territorium stattfinden. Sollte die Hizbullah massiv vom Libanon aus operieren, könnten britische Flugzeuge von Zypern aus im Libanon Gegenmassnahmen ergreifen. Ob und wie die Huthi in Jemen eingreifen würden, ist unklar.
Angesichts der engen militärischen Zusammenarbeit Irans mit Russland dürfte sich das iranische Regime in Teheran zuvor der Unterstützung durch das Putin-Regime versichert haben. Eine wichtige Rolle dürfte dabei die militärtechnologische Unterstützung Russlands spielen, die bei der Abwehr möglicher israelischer Gegenschläge (z. B. in Form von Jamming) wichtig werden könnte. Auch die Präsenz russischer Kampfflugzeuge im Iran könnte beim Aufbau eines Abschreckungsszenarios eine wichtige Rolle spielen.
Ebenso soll die Entsendung von US-Kriegsschiffen und zusätzlichen Militärflugzeugen abschreckend wirken. Diese abgestufte Abschreckung und die Unbestimmtheit der strategischen Interessen der Konfliktparteien machen es unwahrscheinlich, dass der Konflikt in einem grossen «Waffengang» endet. Keine Seite hat ein Interesse daran, sich in den Abgrund eines solchen Nahostkrieges zu stürzen. Es ist aber nicht auszuschliessen, dass die Konfliktparteien in den Abgrund gerissen werden, weil sie sich aus den Verstrickungen einer militärischen und kriegsrhetorischen Eskalationskaskade nicht mehr befreien können.