Anfang Dezember des Jahres 1918 saß eine Engländerin in ihrer zu dieser Jahreszeit angenehm kühlen Villa in Bagdad und schrieb an ihre Eltern zu Hause einen ihrer regelmäßigen Briefe. Doch diese Depesche enthielt einen ungewöhnlich enthusiastischen Satz: „Manchmal fühle ich mich wie der Schöpfer in der Mitte der Woche. Auch Gott muss sich darüber Gedanken gemacht haben, wie sein Werk wohl am Ende aussehen wird.“
Gertrude Bell – eine ungewöhnliche Frau
Es war Gertrude Bell, welche im Auftrag der britischen Regierung dabei war, die Grenzen eines Landes zu ziehen, das es vorher nie gegeben hatte: Gertrude Bell zeichnete die Grenzen des Irak.
Wer war diese ungewöhnliche Frau, die sich später in britischen Offizierskreisen ebenso selbstsicher bewegte wie bei arabischen Scheichs ? Eine Gedenktafel in der Nähe der englischen Stadt Durham bezeichnet die 1868 geborene Gertrude Bell als „Gelehrte, Historikerin, Archäologin, Forscherin, Schriftstellerin, Alpinistin, Gartenfreundin, hervorragende Dienerin des Staates“. Und auf dem „British Cemetery“ im Bagdader Stadtteil Bab al-Sharji kann man heute noch ihr Grab sehen – sofern die Reise dorthin inzwischen nicht zu gefährlich ist und sofern man den in einer kleinen, schäbigen Hütte wohnenden Friedhofswächter findet, der den Schlüssel zum Tor des Frieshofs hat.
Diese Gertrude Bell war in behüteten Verhältnissen aufgewachsen. Doch ihre ungewöhnliche Intelligenz und ihr enorm starker Wille ließ sie schnell den bürgerlichen Verhältnissen entwachsen. Sie machte alpine Touren, wagte sich in die Wüsten Arabiens und nach Persien. Sie studierte Italienisch, Deutsch, Lateinisch, Persisch und Arabisch.
Zusammenbruch des osmanischen Reiches
Auf ihren vielen Reisen durch Arabien hatte die energische Frau detaillierte Kenntnisse über die Menschen, ihre Kultur, über die politischen Strömungen erworben. Ihre Erfahrungen waren für die britische Armee von unschätzbarem Wert. Angesichts des Zusammenbruchs des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg wollten Briten und Franzosen die arabische Erbmasse der Türken unter sich aufteilen – obwohl sie den Arabern vorher versprochen hatten, sich für ein einheitliches arabisches Königreich einzusetzen.
Zunächst einmal hatten die Briten, welche den Verbündeten des Deutschen Reiches, das Osmanische Imperium bekämpften, Basra eingenommen. Dann gab Generalmajor Charles Vere Ferrers Townshend die Parole aus „All the way to Bagdad“. Doch seine Armee wurde bei Kut al-Amara von den osmanischen Truppen unter dem Oberbefehl des deutschen Generals Colmar von der Goltz vernichtend geschlagen. Die meisten der britischen Soldaten kamen später beim Eisen- bahnbau in Anatolien um. Der Herr Generalmajor Townshend indessen durfte im bequemen Istanbuler Exil komfortabel das Ende des Krieges und den Sieg der Briten abwarten.
Sie nannten sich Befreier
Erst 1917 drangen die Briten unter Sir Stanley Maude, dem britische Militärbefehlshaber, nach Bagdad vor. „Unsere Truppen kommen nicht als Besatzer, sondern als Befreier“ verkündete Maude in seiner Erklärung. So ähnlich, übrigens, sprachen auch die Amerikaner, als sie 2003 Bagdad, zusammen mit den Briten, besetzten.
Im Jahre 2003 zerstörten die Amerikaner aber nicht nur Saddam Husseins Herrschaft, die zerstörten ein ganzes Staatsgefüge, indem sie die Armee auflösten, die Baathpartei verboten und es in den kommenden Jahren zuließen, daß die nun regierenden Schiiten die Sunniten ganz von der Macht ausschlossen. In dieses Vakuum stiess nun die Terrorgruppe IS.
Fast neun Jahrzehnte zuvor, im Jahre 1917 wollten die Briten einen funktionierenden Staat aus Schiiten, Sunniten und Kurden bauen. Manche Kenner des Landes standen diesem Vorhaben allerdings mehr als skeptisch gegenüber. Captain Arnold Wilson, britischer Zivilverwalter in Bagdad, meldete der Regierung in London 1919, der neue Staat Irak werde ein „Rezept für ein Desaster“ sein und die „Antithese einer demokratischen Staatswesens“.
Gespaltene Muslime
Zwar ist der Irak bis auf den heutigen Tag ein zu über 90 Prozent muslimisches Land. Aber der Islam hat jene Menschen, die seit der Staatsgründung Irakis genannt werden, eher getrennt denn vereint. Sunnitische Araber, die im Dreieck um Bagdad und der syrischen Grenze im Norden leben, stellen heute etwa 35 Prozent der Bevölkerung. Schiitische Araber, hauptsächlich im Süden, haben einen Bevölkerungsanteil von ca. sechzig Prozent. (Genaue Angaben sind schwer zu erhalten). Im Norden siedeln meist sunnitische Kurden. Die wenigen verblieben Christen, meist chaldäischer Ausrichtung. sind seit dem Sturz Saddam Husseins, der die Minderheiten schützte, weil er selbst einer Minderheit (der sunnitischen angehörte) an Leib und Leben gefährdet - besonders seit dem Auftreten der Terrormiliz IS. Wer kann, flüchtet, wie viele schon umgebracht wurden, ist kaum genau zu beziffern.
Unter dem Despoten Saddam Hussein wurde jeder schiitische Geistliche, der es wagte, gegen das Regime aufzumucken, grausam verfolgt. Schiiten hassten Unterordnung unter die Sunniten. Kurden wollten sich nicht von Arabern beherrschen lassen. Diese internen Widersprüche bestanden schon 1917. Trotzdem war es das Ziel der Briten, Schiiten und Kurden der Macht der Sunniten zu unterwerfen. Zwar meldete Captain Wilson nach Whitehall, dass die Schiiten eine sunnitische Herrschaft ablehnten und die Kurden „niemals eine arabische Herrschaft“ akzeptieren würden. Doch die Schiiten wollten die Briten eben so wenig an der Macht sehen wie die rebellischen Kurden. Also wurden die Sunniten die herrschende Klasse.
Orientalistin und Imperialistin
Dieses System hielt unter dem Haschemitenkönig Feisal und seinen Nachfolgern, unter dem Oberst Karim Kassem, der 1953 die Monarchie stürzte, und unter dem Despoten Saddam Hussein. Es brach zusammen, nachdem Amerikaner und Briten das gesamte Staatsgefüge zerstört hatten.
Im osmanischen Vielvölkerstaat hatte es nie einen einheitlichen Verwaltungsbezirk im Zweistromland von Euphrat und Tigris gegeben. Der Staat, der heute Irak heißt, war aufgeteilt in die Vilayets (Verwaltungsbezirke) von Mosul im Norden, Bagdad im Zentrum und Basra im Süden (zu welchem im übrigen auch Kuwait gehörte).
Die Briten und besonders Gertrude Bell fochten diese divergierenden ethnischen und religiösen Strukturen nicht an. Die mutige, belesene, arabisch sprechende Gertrude Bell war, wie Janet Wallach, eine ihrer Biographinnen schreibt, „Orientalistin und Imperialistin“ zugleich. Als Orientalistin galt ihre ganze Zuneigung Arabien, seiner Kultur und seinen Menschen. Als Bürgerin des britischen Weltreiches aber glaubte sie an die Überlegenheit der abendländischen Kultur und an die zivilisatorische Mission ihres Landes. „Der Orientale ist wie ein sehr altes Kind“, hatte Gertrude Bell Jahre zuvor geschrieben. Dieses große Kind musste „ernährt, erzogen und abtrainiert werden, für sich selber zu sorgen“ – so beschreibt Janet Wallach die Haltung der (selbst kinderlosen) Gertrude Bell.
„Wo aber ist unsere Macht?“
Was „die Orientalen“ wollten – das hing ganz von ihrer eigenen Religions-, Stammes- und Klassenzugehörigkeit ab. Die sunnitische Handelsklasse wünschte sich die Türken zurück – denn unter der Herrschaft des Sultans hatte die sunnitische Bourgeoisie floriert. Die Schiiten strebten nach einem eigenen Staat – ebenso wie die Kurden. Kompliziert wurde die Situation durch das Auftreten eines Gebietsfremden – des haschemitischen Herrscherhauses aus Mekka. Sharif Hussein hatte, mit tatkräftiger Unterstützung von T.E.Lawrence („Lawrence von Arabien“), den arabischen Aufstand gegen die Türken organisiert und wollte mit einem arabischen Königreich belohnt werden.
Doch die Siegermächte brachen ihr Versprechen, teilten Arabien unter sich auf. l921 kam es zu einem Aufstand im Irak, der von den Engländern niedergeworfen wurde. Abschätzig sprach Gertrude Bell von einer „kleinen, lautstarken Gruppe“ von Arabern, welche der Meinung sei dass die Araber „ganz gut alleine“ – also ohne die Briten – zurecht kommen würden. Später rebellierten die Kurden. Sie wurden mit Hilfe der britischen Luftwaffe und mit britischem Giftgas bekämpft.
Zunächst hatte Gertrude Bell durchaus Grund zu der Annahme, dass die britische Präsenz im neuen Staat Irak erwünscht sei. In einem langen Gespräch mit dem Naqib von Bagdad – dem höchsten sunnitischen Würdenträger – vertraute ihr der angesehene Mann an, er liebe die französische Kultur, hasse aber den französischen Regierungsstil. Zu Gertrude gewandt sagte der Naqib: „Eure Nation ist groß, wohlhabend und mächtig. Wo aber ist unsere Macht ? ... Sie sind die Regierenden und ich bin der Regierte. Und wenn ich nach meiner Meinung über die Fortsetzung der britischen Herrschaft gefragt werde, dann antworte ich, dass ich der Untergebene des Siegers bin.“
Natürlich, sagte der Naqib, würde er die Herrschaft des osmanischen Sultans vorziehen. Aber die gegenwärtige türkische Regierung (die aus den nationalistischen, 1912 an die Macht gekommenen Jungtürken bestand) hasse er zutiefst. „Der Türke ist tot“, sagte der Naqib, „und ich bin zufrieden, euer Untertan zu werden.“
Gertrude Bell ändert ihre Meinung
So hatte sich die Orientalistin Gertrude Bell ihre Araber vorgestellt und gewünscht – gehorsam wie ein großer Junge, welcher die paternalistische Seite des Imperialismus gerne akzeptierte. Später änderte Gertrude Bell ihre Meinung. Denn im Laufe der Jahre nahm Gertrude Bell zur Kenntnis, daß es legitime nationale Ambitionen der Araber gab und dass Großbritannien den Arabern wenn nicht die gesamte, so doch einen großen Teil der Souveränität übereignen müsse.
Ihre Vorgesetzten nahmen diesen Sinneswandel nur ungern zur Kenntnis. Denn natürlich hatte die Weltmacht Großbritannien viele handfeste wirtschaftliche Gründe. Ohne die iranischen Ölvorkommen, die London seit Beginn des Jahrhunderts ausbeutete, hätten die Briten im ersten Weltkrieg im Irak kaum Krieg führen können. „Die Alliierten“, sagte der britische Aussenminister Lord Curzon, „schwammen auf einer Welle von Öl zum Sieg.“ Auch im Irak vermutete man Öl, die ersten Explorationen führten 1927 in Kirkuk zum Erfolg.
Öl als Hauptmotiv
Gertrude Bell und T.E.Lawerence nahmen 1920 an der Pariser Friedenskonferenz teil. Janet Wallach beschreibt die Atmosphäre mit den Worten, dass unter den „Topfpalmen in den Hotel-Lobbies und in jeder Ecke der privaten Räume der Fluss der Worte eingefärbt“ gewesen sei mit dem „Verlangen nach Öl“. Öl war auch ein Hauptmotiv für die Politik der Briten und ihrer imperialen Nachfolger am Golf, der Amerikaner, als diese 1991 Saddam Hussein aus Kuwait vertrieben. So lange Saddam Hussein westliche Ölinteressen nicht antastete, durfte er ungestraft den Iran angreifen und Kurden vergasen. Erst als er mit der Eroberung kuwaitischer Ölfelder die rote Linie überschritten hatte, bezeichneten ihn die Alliierten als jenes Monster, das er schon immer war.
Ob britische Soldaten, als sie 1991 und dann 2003 Bagdad wieder einmal eroberten, am Grabe Gertrude Bells einen Kranz nieder gelegt haben, ist nicht bekannt. Gertrude Bell ist in ihrem geliebten Arabien gestorben. In ihren letzten Jahren sammelte sie archäologische Funde, welche ein Grundstock für das irakische Nationalmuseum wurden. Dieses Schmuckstück wurde 2003 ausgeraubt, weil Amerikaner und Briten das Ölministerium schützten, nicht aber kulturelle Einrichtungen wie Museen.
Ein tiefer Schlaf
Zwar hat es Gertrude Bell nie überwunden, dass ihr privates Glück verwehrt geblieben ist. Aber diese außerordentliche Frau ist wohl auch ihrer orientalischen Leidenschaft, ihrem abenteuerlichen Leben und ihren politischen Ambitionen erlegen. Eine Rückkehr in die konventionelle Welt britischer Damenteerunden erschien ihr vermutlich als ultimativer Horror. Als sich Gertrude Bell am Abend des 11.Juli 1926 in ihrem Haus in Bagdad zu Bett legte, hinterließ sie zwar eine Notiz mit der Bitte an ihre Haushälterin, sie um sechs Uhr früh zu wecken. Doch Gertrude Bell habe, schreibt Janet Wallach „andere Pläne“ gehabt. „Sie legte die düstere Zukunft bei Seite, nahm eine Extradosis Schlaftabletten von ihrem Nachttisch, löschte das Licht aus und legte sich zum Schlaf. Es war ein tiefer Schlaf, von dem sie nie wieder erwachte.“
In dem von Gertrude Bell mit gegründeten Irak ist – knapp neun Jahrzehnte nach ihrem Tod – das von manchem ihrer Zeitgenossen vorausgesagte Desaster eingetreten.