Es war der Doyen der Schweizer Kommunikationsforscher, Ulrich Saxer, der frühzeitig auf das kommunikative Wechselspiel zwischen kleinen Ländern und deren „next door giants“ aufmerksam machte: Die Kleinen verfolgen sehr genau, was ihre großen Nachbarn so treiben. Die Großen ignorieren dagegen gerne die Kleinen – es sei denn, diese werden lästig, oder das, was dort geschieht, lässt sich für die eigenen Zwecke instrumentalisieren.
Damit ist bereits auf den Punkt gebracht, wie es in Deutschland um die Wahrnehmung des öffentlichen Rundfunks der Schweiz bestellt ist: Es wird gerne hervorgehoben, dass knapp 72 Prozent der Schweizer bei einer Volksabstimmung sich für ihn und damit auch für eine hohe Zwangsgebühr ausgesprochen haben. Ansonsten nehmen die Granden von ARD und ZDF leider kaum zur Kenntnis, was das Schweizer „Service public“-Angebot vom eigenen unterscheidet und sein Erfolgsmodell ausmacht. Dabei ließe sich so vieles vom kleinen Nachbarn lernen.
Seichtigkeitsniveau
Zum Beispiel die Konzentration auf das Wesentliche: Statt Dutzender von Sendern und Programmen, die kaum noch angemessen zu bespielen sind, konzentriert man sich bei der SRG/SSR in der Schweiz auf einige wenige, ist aber gleichzeitig gesetzlich verpflichtet, die drei großen Sprachräume – Deutsch, Französisch, Italienisch – gleichwertig mit Fernsehen zu bedienen. So entsteht ein Programmangebot, das hohe Einschaltquoten erzielt und sich im Blick auf die Gemeinwohlverpflichtung gebührenfinanzierten Rundfunks locker mit den deutschen, französischen und italienischen Wettbewerbern messen kann.
Im deutschen TV-Programm dominiert zu den Hauptsendezeiten bei den Öffentlich-Rechtlichen meist Unterhaltung auf einem Seichtigkeitsniveau, das oftmals mit privaten Anbietern wie RTL „konkurrenzfähig“ ist. Angesichts des täglichen Übersolls an Mord und Totschlag braucht sich bei uns niemand zu wundern, wenn die Kluft zwischen der Kriminalität, die die Zuschauer wahrnehmen, und der tatsächlichen Kriminalstatistik immer größer wird. Auch auf öffentlich-rechtlichen Kanälen werden Krimis in einer Häufung präsentiert, die der AfD geradezu in die Hände spielt. Dabei könnten unsere Fernsehgewaltigen zumindest soviel über Medienwirkungsforschung wissen, dass Soaps und Spielfilme, die von Vielsehern konsumiert werden, deren Realitätsperzeption mitprägen. Der Medienforscher George Gerbner hat das für die USA bereits in den 70er Jahren nachgewiesen.
Sprachübergreifende Integrationsleistung
Satire dürfte ähnliche Nebenwirkungen zeitigen. Sie häuft sich im deutschen Fernsehen und wird immer schriller und oftmals unerträglicher, weil Satire ja alles darf. Hier hat die Medienwissenschaft bisher kläglich versagt: Es fehlen Studien, die die Auswirkung ständiger Überdosen auf Politikverdrossenheit messen – insbesondere bei Zuschauern, die sonst eher nachrichtenabstinent leben.
In der Schweiz sind dagegen zumindest die Eigenproduktionen des Fernsehens oftmals identitätsstiftend. Viele tragen ebenso wie die Nachrichtengebung dazu bei, dass die kulturelle Integration über die Sprachgrenzen hinweg gefördert wird. Die rätoromanische Minderheit hat sogar ihr eigenes Radioprogramm – während man in Deutschland die viel größeren russisch- und türkischsprachigen Minderheiten sich selbst überlässt und damit Putins und Erdogans Propagandasendern ausliefert. Überhaupt: Was der Schweizer öffentliche Rundfunk im Kleinen an sprachübergreifender Integrationsleistung erbringt, könnte Vorbild sein, um der ins Stocken geratenen europäischen Integration neue Impulse zu geben: durch gemeinsame Unterhaltungs-, Bildungs- und Info-Programme, die in mehreren europäischen Sprachen angeboten werden. Leider dürfte es dafür inzwischen eher „fünf nach zwölf“ sein, weil es in der Konkurrenz zu Netflix und Youtube für öffentlich-rechtliche TV-Sender schwieriger geworden ist, Publika zu binden.
Professioneller Journalismus
Beeindruckend an der Schweiz ist auch, welch hohe professionelle journalistische Kultur sich im öffentlichen Rundfunk etabliert hat – sie ist nicht einfach „da“, sondern muss immer wieder neu erarbeitet werden, nicht zuletzt durch Weiterbildung, intensive innerredaktionelle Diskussion und Qualitätsmanagement.
Was News und Journalismus betrifft, gibt es bei „Tagesschau“ und bei „heute“ einen „gefühlt“ stärkeren Drall ins links-grün-alternative Lager – selbst wenn sich dieser Eindruck nicht objektivieren lässt, weil es an vergleichenden Studien dazu bisher fehlt. Noch ist es nicht gelungen, das, was Mark Eisenegger und sein Forscherteam an der Universität Zürich für die Schweiz seit Jahren leisten, auf den übrigen deutschsprachigen Raum auszudehnen: jährlich einen Zustandsbericht zur journalistischen Qualität zu liefern, der auch Einseitigkeiten in der Berichterstattung nachspürt. Die Enge und Dominanz eines politisch überkorrekten und damit letztlich intoleranten öffentlich-rechtlichen Mainstreams wird zum Beispiel bei Genderfragen überdeutlich. Sie werden bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit hochgespielt – während man im Vergleich dazu über andere, weniger wortgewaltige Mehr- oder Minderheiten wie alte Menschen oder Kinder kaum etwas erfährt – es sei denn, Schüler streiken freitags zusammen mit Greta Thunberg.
Anspruchsvolle Musikteppiche
Die allermeisten der öffentlich-rechtlichen Hörfunk-Programme sind in Deutschland Dudel- und Quassel-Funk. Schmerzlich fehlen dagegen vergleichbare Angebote wie „Swiss Jazz“, „Swiss Pop“ und „Swiss Classic“: anspruchsvolle Musikteppiche, die einen nahezu ohne Wortbeiträge und Werbe-Unterbrechungen durch den Tag begleiten.
Natürlich grünt im Nachbargarten nicht alles grüner: Die Integrationsanstrengungen des Rundfunks haben in der Schweiz in der Konkurrenz um Klicks und Einschaltquoten nachgelassen. Viele Mundart-Sendungen bis hin zum Wetterbericht machen es Neuzugezogenen – der Ausländer-Anteil liegt in der Schweiz mit über 25 Prozent deutlich höher als in Deutschland – besonders schwer, die Sprache zu erlernen. Auch um Sparmaßnahmen und Sender-Standort-Verlagerungen von Bern nach Zürich gibt es derzeit erbitterte Auseinandersetzungen.
Die Rundfunk-Hierarchien sind von der Politik unabhängiger als in Deutschland, und sie begegnen mit mehr Demut den Nutzern und Gebührenzahlern, die ihrerseits dank privater Trägerschaft der SRG/SSR und den Publikumsräten basisdemokratische Mitspracherechte genießen.
Wer sich bei ARD und ZDF redlich um konstruktive Kritik bemüht, wer Zustände anprangert, die eigentlich unhaltbar sind, die aber dank vermachteter, bürokratisierter und erstarrter Strukturen überleben, wer überzeugt ist, sogar mit weniger Rundfunkbeitrag ließe sich ein besseres Programm anbieten, der wird in Deutschland entweder totgeschwiegen oder schnell in AfD-Nähe gerückt. Auch mit liberalen Grundhaltungen und Querdenkern tut man sich bei der SRG/SSR leichter als bei den „next door giants“, sprich: bei uns.
Der Autor ist Tagesspiegel-Kolumnist und emeritierter Professor für Journalismus und Medienmanagement an der Università della Svizzera italiana in Lugano in der Südschweiz.
Dieser Artikel erschien im Berliner "Tagesspiegel"