Am Anfang des Buchs steht ein Artikel von Jörg Thalmann, den er im Februar 2014 im Journal21.ch geschrieben hat. Der inzwischen verstorbene Autor hält fest:
„Ich bin europhil, ein Anhänger der Einigung Europas und Verteidiger der EU. Ich bin auch Schweizer Patriot, stolz auf den einzigen Staat der Welt, der den Letztentscheid über seine Politik seinen Bürgern anvertraut. Wie reagiert ein europäischer Schweizer Patriot auf das Ja vom Sonntag (den 9. Februar 2014)?“
„Ein Lesebuch“ nennen Max Schweizer und Dominique Ursprung das eben erschienene Buch *). Die beiden haben 70 Artikel zur europäischen Integration und ihrer Auswirkungen auf die Schweiz gesammelt.
Diplomaten, Historiker, Politiker und Journalisten schicken uns auf eine Zeitreise durch die europäischen Einigungsbemühungen. Stationen sind unter anderem die Gründung der Efta, der Versuch der Schweiz, sich mit der EWG zu assoziieren (1962), bilaterale Freihandelsabkommen mit der EWG (1972), das „EWR-Trauma“ von 1992, die Bilateralen I und II – und dann eben der 9. Februar 2014.
Journal21: Max Schweizer, Sie waren viele Jahre als Diplomat für das EDA tätig, unter anderem als Stellvertretender Chef der ständigen Mission der Schweiz bei der Welthandelsorganisation WTO und der Europäischen Freihandelsassoziation EFTA in Genf. Anschliessend dozierten Sie an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW). Wenn Sie von einem Studenten gefragt werden: „Wie geht es nun weiter mit der Schweizer Integration?“ Was sagen sie ihm?
Max Schweizer: Ich sage ihm zuerst einmal, dass er bei der damaligen Abstimmung mitentschied, indem er nicht zur Urne ging. Mit meiner Unterstellung liege ich meist nicht ganz falsch...
Darauf verweise ich auf das Prozesshafte der anstehenden Herausforderung und mahne, dass man nicht in Hysterie verfallen soll. Der Ball liegt jetzt bei der Landesregierung, das Weitere wird sich zeigen.
Sie publizieren einen Artikel des Basler Historikers Georg Kreis. Er sagt, dass „falsche Volksentscheide“ schon in der Vergangenheit korrigiert worden seien. Was halten Sie von der Volksinitiative RASA („Raus aus der Sackgasse?“).
Eine Demokratie mit Initiative und Referendum ist keine einfache Regierungsform. Volksentscheide sind ernst zu nehmen, sie sagen in jedem Fall etwas aus. Wenn neue Fakten vorliegen wie etwa der effektive Preis einer Weichenstellung, so kann man das neu beurteilen. Die seinerzeitige Annahme der Mehrwertsteuervorlage gelang, sofern ich mich richtig erinnere, erst beim dritten Mal. Die RASA-Volksinitiative schwächt m. E. die Verhandlungsposition des Bundesrats, für mich kommt sie zu früh.
Und wenn die RASA-Initiative, die jetzt zustande gekommen ist, dann abgelehnt würde, wäre der Scherbenhaufen komplett.
Ich teile diese Meinung nur bedingt. Der „Scherbenhaufen“ würde möglicherweise glaubwürdig bestätigen, dass die Mehrheit in diesem Lande eine andere Entwicklung will. Ich erinnere daran, dass die EU in den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei die Personenfreizügigkeit selbst ausgeschlossen hat. Natürlich nützt uns dies jetzt nichts; der Hinweis relativiert aber den quasi sakrosankten Charakter den die EU der Freizügigkeit gerne zuordnet. Das seinerzeit bessere Verhandlungsresultat Liechtensteins (Ausnahmeregelungen punkto Freizügigkeit im Rahmen des EWR) ist ein Fingerzeig dafür, dass vielleicht auch die Schweiz eine griffigere Schutzklausel hätte erreichen können. Diesbezüglich sind die Ausführungen von Jakob Kellenberger in seinem Buch „Wo liegt die Schweiz?“ lesenswert: er benennt den grossen innenpolitischen Druck, der auf ihm lastete, die sogenannten „Bilateralen I“ endlich zum Abschluss zu bringen.
Sie schreiben, für Brüssel sei die europapolitische Debatte, die in der Schweiz geführt wird, „von geringer Relevanz“. Heisst das: Was die Schweiz denkt, ist unwichtig, Brüssel wird sich ohnehin durchsetzen?
Es ist in der Tat so, dass die Schweiz verhandlungstaktisch in einer wenig erfreulichen Situation ist. Sie hat ein Prinzip – unter falschen Prämissen - allzu leichtfertig übernommen. In anderen Worten: sie hat das Ausmass der Zuwanderung damals völlig unterschätzt, und die Regierung sieht sich jetzt gezwungen, zu versuchen dies in Brüssel zu korrigieren. Juristisch gesehen, ist der Fall klar; politisch leicht weniger. Der „innenpolitische Diskurs“ zeigt den aussenstehenden Beobachtern die Dynamik der Debatte auf. Meist haben diese aber ein so anders geartetes Beurteilungssystem, dass sie die Geschehnisse gar nicht richtig einordnen können. So reduziert sich dann der Dialog darauf, dass uns im Wesentlichen der Preis für den von uns gewünschten Marktzugang in die Europäische Zollunion genannt wird.
Seit einigen Jahren kann man in der Schweiz Einigelungstendenzen feststellen. Wo sehen Sie die Gründe dafür?
Ich weiss nicht, von welchen „Einigelungstendenzen“ Sie sprechen, was sind die Fakten? – Mehr Zuwanderung, mehr Grenzgänger, mehr Einkäufe über die Grenze, mehr Exporte an Gütern und Dienstleistungen, mehr gegenseitige Investitionen, mehr Reisen der Bundesräte nach Brüssel, mehr parlamentarische Kontakte, anhaltende Übernahme von EU-Recht, die vielen Erasmus-Austauschsemester, …
Dass die heutige Schweiz mit dem lange zelebrierten Schweiz-Bild nicht mehr in Einklang steht, schmerzt nicht Wenige. Sie haben den 1.August-Rednern vielleicht allzu blauäugig zugehört und das Lied der „souveränen Schweiz“ zu stark verinnerlicht!
Bayern, Baden-Württemberg, Vorarlberg und Südtirol gehören zur EU – und es geht ihnen wirtschaftlich gut. Sie übernehmen einen Artikel von Othmar von Matt, der deshalb einen EU-Beitritt empfiehlt. Kann man Bayern mit der Schweiz vergleichen?
Selbstverständlich kann man Bayern nicht so direkt mit der Schweiz vergleichen, die jeweilige Geschichte ist zu verschieden. Hinzu kommt, dass Bayern flächenmässig um einiges grösser ist und fast 13 Millionen Einwohner hat. In einem Punkt unterscheiden wir uns besonders: Der Freistaat Bayern ist ein Bundesland Deutschlands, die Schweiz ist ein eigener Staat. In der Familie der Nationen hat nur die Schweiz noch eine Stimme; Bayern hat schon lange keine mehr...dies können auch die rund 30 Mitarbeiter der eigenen bayerischen Vertretung bei der EU in Brüssel nicht ändern!
Wenn wir von einem Staat oder einer Nation sprechen, so kommen viele Faktoren jenseits der Wirtschaft hinzu. Diese kann man nicht einfach ignorieren, auch wenn der Begriff der „Souveränität“ nicht überstrapaziert werden soll. Ob die starke wirtschaftliche Verflechtung mit den uns angrenzenden Regionen hilft, dass sich die Nachbarländer für eine sinnvolle Lösung in und mit der EU bei der Personenfreizügigkeit einsetzen, muss sich zeigen.
Die EU, eigentlich ein grossartiges Projekt, war schon einmal beliebter, sowohl in der EU selbst als auch in der Schweiz. Woher rührt dieser Popularitätsverlust?
Natürlich ist die EU ein grossartiges Vorhaben, und wir gratulieren unseren Mitbewohnern in Europa ja auch herzlich dazu. Doch wie soll man die Finalitäten der EU, ein «immer engeren Zusammenschlusses der europäischen Völker», mit den eigenen, schweizerischen Vorstellungen eines direktdemokratischen Staates vereinbaren, wenn die Endziele nie abschliessend definiert wurden? Bereits vor 15 Jahren hat Herbert Lüthy auf diese Problematik hingewiesen und sogar von einer „geographischen und inhaltlichen Dehnbarkeit dieser Finalitäten“ gesprochen. Das ist ja zwischenzeitlich auch eingetreten...
Hinzu kommt der französische Zentralismus, der in einem Übermass in das Projekt eingeflossen ist. So gesehen kollidieren die Schweiz und die EU gleich zwei Mal.
Die Herausforderungen, mit denen sich die EU und ihre Mitgliedstaaten heute konfrontiert sehen, waren in ihren idealistischen Konzepten nicht vorgesehen. Also müssen im „Krisenmodus“ laufend neue Antworten und Lösungen gefunden werden. Die EU, die ihre Ratschläge ungefragt weltweit, z. T. erstaunlich breitspurig, verteilte, hat einen Prestigeverlust erlitten: als Krisenmanager hat sie Mühe ihre Steuerzahler weiter gut gelaunt hinter sich zu scharen.
Kann man von einer Krise der EU sprechen?
Ein Vorhaben, wie das der „Europäischen Einigung“, kann gar nichts anderes sein, als eine Reihe von Krisen. Dabei gibt es grössere und kleinere, sofort sichtbare und verstecktere, sofort wirksame und solche mit späterer Wirkung etc. Es gibt fortwährend nicht eine Krise, sondern deren viele: die Wirklichkeit holt die grossen Würfe immer wieder ein.
Kann sich die Schweiz überhaupt, wenn sie gut überleben will, langfristig einer europäischen Integration entziehen?
Die Schweiz ist weitgehend integriert – in die Weltwirtschaft und besonders in die Europäische Union. Historisch betrachtet ist das was jetzt ansteht eigentlich eine Banalität: Es ist eine Verlangsamung des europäischen Migrations-Prozesses (Freizügigkeit), der so überraschend dynamisch verlief.
Weshalb die unverhoffte Zuwanderungs-Dynamik?
Weil die Wirtschaftskonzepte in Deutschland, Frankreich, Italien, Griechenland, Portugal, Spanien nicht so erfolgreich waren, wie man damals annahm: Besonnenheit, Beharrlichkeit und Weitblick sind nun auf beiden Seiten des Verhandlungstisches gefragt!
*) Max Schweizer, Dominique Ursprung: Integration am Ende, Die Schweiz im Diskurs über ihre Europapolitik. Ein Lesebuch, Chronos Verlag Zürich, 2015, ISBN 078-3-0340-1313
Max Schweizer ist seit Sommer 2015 Präsident des Vereins SwissDiplomats – ZurichNetwork.
Dominique Ursprung ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der ZHAW School of Management and Law. Er ist Präsident der Alumni-Vereinigung und Vorstandsmitglied der Swiss-Japanese Chamber of Commerce (SJCC).