گستاخانه . Vieldeutig ist dieses persische Wort. Man könnte es mit ehrenrührig, schmutzig, verletzend oder rotzfrech übersetzen. Und wenn dieses Wort in einer Erklärung des iranischen Aussenministeriums auftaucht, dann nimmt das Wort auch andere Bedeutungen an: sündigen, schänden oder entweihen.
Kein Raum mehr für Diplomatie
Kurz nach der Tötung von Kassem Soleimani war der Schweizer Botschafter dreimal im iranischen Aussenministerium. Die Schweiz vertritt die diplomatischen Interessen Washingtons im Iran. Teheran und Washington haben seit mehr als 40 Jahren keine diplomatischen Beziehungen mehr. Was hinter den Kulissen geschah, wissen wir nicht. Beängstigend ist aber, was Iran offiziell über diese Besuche verlauten liess. Das erste Mal wird der Botschafter ins Aussenministerium zitiert, um eine Protestnote des Iran an Washington weiterzuleiten. Iran sehe sich berechtigt, Soleimanis Ermordung zu rächen und man werde es tun, so der Sprecher des iranischen Aussenamts.
Einige Stunden später kehrt der Botschafter ins Aussenministerium zurück und bringt die amerikanische Antwort. Es ist diese Antwort aus Washington, die alles befürchten lässt – den grossen Krieg eingeschlossen. Den genauen Wortlaut kennen wir nicht.
Der Botschafter kommt zum dritten Mal ins Aussenministerium, um diesmal die iranische Antwort entgegenzunehmen. Den Text dieser Antwort kennen wir auch nicht.
Man habe die Haltung der USA, die گستاخانه gewesen sei, scharf zurückgewiesen, heisst es später in einer Erklärung des iranischen Aussenministeriums.
Erst jetzt erfahren wir, in welcher Sprache die US-Regierung mit Iran redet. Offenbar beleidigend hatten die USA den Iran davor gewarnt, überhaupt auf Soleimanis Tod zu reagieren. Wenig später nach dem dritten Besuch des Schweizer Botschafters in Teheran sagt US-Aussenminister Pompeo in einem TV-Interview, man werde diesmal diejenigen angreifen, die an höchster Stelle im Iran Befehle erteilen.
Und wer gibt im Iran an höchster Stelle den Befehl? Der Revolutionsführer Khamenei. Will heissen, die USA seien bereit, auch Khamenei zu töten. Hier verstehen wir, warum in der iranischen Erklärung das Wort گستاخانه auftaucht: also beleidigend, ehrenrührend sündigen und entweihen.
Der Feind kann nützlich sein
Nach diesem dramatischen Schlagabtausch eilten Diplomaten Omans und Qatars, die gute Beziehung zum Iran pflegen, nach Teheran. Mit leeren Händen kehren sie zurück. Iran lehne Gespräche mit den USA ebenso ab wie die Mediation, melden später die Nachrichtenagenturen.
Die Türen der Diplomatie scheinen momentan vollkommen verriegelt zu sein. Andere Türen sind offen. Nun gilt es, alles zu nutzen nach dem Motto des persischen Wortes: عدوشود سبب خیر اگر خدا خواهد „Der Feind kann Gutes bewirken, wenn Gott es will.“
Der Feind hat zwar nicht Gutes bewirkt, doch das „Gute“ ist im Gange: Eine Trauerfeier überzieht das Land, die Tage, Wochen, Jahre, ja Generationen lang wirken soll. Sie soll unvergesslich sein und für immer das geschichtliche Bewusstsein der Iraner prägen. Drei Tage steht das ganze Land im Dienst einer Leichenprozession.
Soleimanis Märtyrertod sei ein Markstein, der sich einreihe in die Kette der Verbrechensgeschichte der USA im Iran, vergleichbar mit dem Militärputsch von 1953, sagte im gedämpften Ton gegenüber der trauenden Tochter und Mutter der iranische Präsident Rohani bei seinem Besuch in Soleimanis Haus.
Historische Leichenprozession
Man muss nicht ausgewiesener Kenner der iranischen Geschichte sein, um zu begreifen, was dieser Vergleich bedeutet. Der von der CIA inszenierte Militärputsch von 1953 sei Quelle aller Übel, bestimmend für alles, was danach im Iran geschah. Ob falsch oder richtig, jedenfalls unauslöschlich, wie in Stein gemeisselt, hat sich dies im Bewusstsein fast aller Iraner für immer eingraben. Ohne diesen Putsch hätte es die islamische Revolution nicht gegeben, meinen viele Historiker.
Viel ist von Soleimanis Körper nicht übriggeblieben. Dies zeigen jedenfalls die Bilder seines verbrannten Autos. Doch wie klein diese Reste auch sein mögen, sie sollen von Millionen weinender Menschen im ganzen Land bis zu seinem Geburtsort begleitet werden. Der gesamte Staat hat sich aufgemacht, um einen historisch beispiellosen Trauerzug durch das ganze Land zu veranstalten. Er soll genauso gigantisch sein wie jener bei der Beerdigung Ayatollah Khomeinis, des Gründers der Islamischen Republik. Khomeini war es, der immer wieder predigte: Ohne Trauerzüge gäbe es keine Revolution, nirgendwo. Er hat recht, denn er meinte eine schiitische Revolution.
Ohne Trauer keine Revolution
Trauer ist konstitutiver Bestandteil des Schiitentums. Keine Religion in der Welt hat so viele Anlässe zum Trauern wie Schiismus. Alle schiitischen Imame, die den Islam des Propheten fortsetzen wollten, wurden sukzessiv von Feinden ermordet. Zwölf Imame haben die Schiiten. Auf Erscheinen des Zwölften, der in grosser Verborgenheit lebt, wartet man seit fast 1200 Jahren. Die vorangegangenen elf anderen wurden alle entweder bestialisch geköpft, gemeuchelt oder vergiftet, so lehrt die offizielle Narration.
Man begeht das ganze Jahr hindurch ihre Todestage und ausserdem den vierzigsten Tag eines jeden Todes. Beim Hossein, dem dritten Imam trauert man zwei Monate lang. Auch des Propheten Tochter Fatima betrauert man mehrere Tage. Manchmal hat man das Gefühl, die 365 Tage eines Jahres reichten nicht aus, um alle diese Anlässe würdig, will heissen weinend und schluchzend zu begehen.
Die Machthaber der Islamischen Republik mögen in vielem unfähig sein, doch in der Propaganda und der Mobilisierung der Strasse sind sie Meister. Bei jeder Krise sollen die Massen auf der Strasse die Macht des Systems manifestieren.
Rache ist heilig und gerecht
Ein bestimmtes Wort wird bei diesen Trauerfeierlichkeiten durch das ganze Land wiederholt: انتقام – Entegham. Dieses Wort kann man mit Rache, Vergeltung oder manchmal sogar Gerechtigkeit übersetzen. Der Gott hat im Koran viele Namen. Rächer – -منتقم – ist einer davon.
Für Rache ist im Iran so oft und intensiv geworben worden, dass das Wort gar keine negative Konnotation mehr besitzt. Im Strafrecht der Islamischen Republik ist die Rache genau und in mehreren Paragraphen beschrieben. Tötet oder verletzt jemand einen anderen, so haben das Opfer oder seine gesetzlich Hinterbliebenen das Recht der Rache. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Natürlich unterschiedlich, wenn Täter und Opfer verschiedenen Geschlechts sind. Frauen haben nicht das volle Recht der Rache. Ein bereits zum Tode verurteilter Mörder kann sogar im letzten Augenblick, wortwörtlich bevor sich die Schlinge zuzieht, gerettet werden, wenn die gesetzlichen Erben des Opfers ihn begnadigen.
Das Wort Rache hat Ayatollah Khamenei bereits in seinem Kondolenzschreiben unmittelbar nach Soleimanis Tod erwähnt. Nach dieser Rache werde „die Bitternis der Mörder grösser sein, als unsere Trauer“, so Khamenei.
Seitdem ist das Wort Rache so oft und so intensiv von so vielen mächtigen und weniger wichtigen Menschen im Iran wiederholt worden, dass man den Eindruck haben muss, die Islamische Republik sei selbst das erste Opfer ihrer eigenen Propaganda. Es entsteht der Eindruck, das Land setze sich unter einen Zugzwang, dem es nicht mehr entkommen könne.
Propaganda oder Plan?
In diesem Fall geht es allerdings nicht um Propaganda. Im Gegenteil, die Islamische Republik will tatsächlich Soleimanis Tod entsprechend seiner Bedeutung für das gesamte System rächen. Eine solche Rache muss sehr gross und sehr beängstigend sein. Der getötete Soleimani ist für das System unersetzbar. Er verkörperte die Macht der Islamischen Republik in der Region. Eine Rache, die Soleimanis würdig sein soll, bedeutet einen ganz grossen Krieg, der alles vernichtet, Khameneis Macht eingeschlossen.
Am Sonntagabend twitterte Trump, US-Militärs hätten bereits 52 Orte, darunter auch für Iraner wichtige kulturelle Stätten, im Visier, falls der Iran amerikanische Bürger oder Interessen angreife. Die Zahl 52 ist nicht zufällig. Es waren 52 US-Diplomaten, die zu Beginn der Revolution 444 Tage lang in Teheran als Geiseln festgehalten wurden.
Als Antwort auf Trumps Drohung sagte Mahmud Dehghan, der Militärberater Khameneis, in einem CNN-Interview, Irans Antwort müsse militärisch und Soleimanis würdig sein. Danach höre man auf. Amerika solle dann nicht mehr weiter reagieren.
Meint dieser hochrangige Militärberater, der auch Verteidigungsminister war, Iran könne tatsächlich passend zu Soleimanis Grösse einen Racheakt gegen die USA verüben – und alles bliebe danach ruhig?
Am Sonntag meldete die Nachrichtenagentur Irna, Iran wolle das Atomprogramm künftig unbegrenzt weiterführen. Es sei die fünfte und letzte Phase des Rückzugs aus dem Atomabkommen, es solle keine Beschränkung der Anzahl von Zentrifugen mehr geben.
Womit haben wir hier zu tun? Propaganda oder Plan? Wahrheit oder Täuschung?
Mit freundlicher Genehmigung von iranjournal.org