Die staatspolitische Kommission des Nationalrates (SPK-NR) beantragt diesem, Art. 121a, der durch die Annahme der Volksinitiative „Gegen Masseneinwanderung“ Aufnahme in unsere Bundesverfassung (BV) fand, mit einem Ausführungsgesetz umzusetzen, das sie „Inländervorrang light“ nennt.
Die Ausgangslage
Im Wesentlichen soll der Bundesrat damit anordnen können, dass Arbeitgeber offene Stellen zunächst dem Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) melden müssen. Eine Pflicht zur Anstellung inländischer anstatt ausländischer Arbeitskräfte ist damit jedoch nicht verbunden. Weiter gehenden Massnahmen zur Einschränkung der Zuwanderung müsste die EU zustimmen.
Volk und Stände hatten die Masseneinwanderungsinitiative (MEI) am 9. Februar 2014 angenommen. Diese verlangte, dass die Schweiz die Zuwanderung mit Kontingenten und einem Inländervorrang steuern muss. Die Frist für die Umsetzung beträgt drei Jahre, läuft also im nächsten Februar aus.
Beschliesst das Parlament bis dahin keine Umsetzung, muss der Bundesrat den Verfassungsauftrag vorläufig mit einer Verordnung umsetzen. Zudem müssen völkerrechtliche Verträge, die im Widerspruch zum neuen Verfassungsartikel stehen, ebenfalls innerhalb von drei Jahren neu verhandelt und angepasst werden, wie die Übergangsbestimmung dazu festhält.
Der Vorschlag der Nationalratskommission
Der Gesetzesvorschlag mit einem Inländervorrang light will nun einerseits verhindern, dass der Bundesrat eine Regelung auf dem Verordnungsweg und somit ohne eine Referndumsmöglichkeit treffen kann und muss. Anderseits sieht sich der Gesetzgeber vor die Tatsache gestellt, dass eine Anpassung der mit der EU im Rahmen der Bilateralen Verträge I vereinbarten Personenfreizügigkeit auf dem Verhandlungsweg jedenfalls vor Ablauf der ihm gesetzten dreijährigen Umsetzungsfrist nicht möglich ist.
In dieser Lage hat sich die SPK-NR offenkundig entschlossen, dem Freizügigkeitsabkommen (FZA) mit der EU nachzuleben sowie nur Massnahmen zu beschliessen, die dieses nicht verletzen, und damit namentlich auf die in der Verfassungsbestimmung vorgesehenen Kontingente und einen echten Inländervorrang zu verzichten.
Die harsche Kritik, mit dieser Lösung werde der Wille von Volk und Ständen bei der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative missachtet, liess nicht auf sich warten, und der Vorschlag wird als klar verfassungswidrig angeprangert. Nationalrat Kurt Flury als Vertreter der Mehrheit der SPK-NR macht hingegen – wenn auch eher nur in zweiter Linie und von den Medien kaum aufgenommen – geltend, die völkerrechtliche Verpflichtung, die Personenfreizügigkeit für EU-Bürgerinnen und -Bürger zu wahren, habe gemäss unserer Bundesverfassung Vorrang, wie auch das Bundesgericht entschieden habe.
Der Vorrang des FZA mit der EU gemäss Bundesverfassung
Das Bundesgericht hat in seinem bekannten Grundsatzentscheid vom 26. November 2015 – gestützt auch auf bereits früher gefällte Grundsatzentscheide – für alle verbindlich entschieden, gemäss dem Wiener Vertragsrechtsrechtsabkommen könne sich keine Vertragspartei auf ihr innerstaatliches Recht berufen, um die Nichterfüllung eines Vertrags zu rechtfertigen. Dieses auch durch die Schweiz ratifizierten völkerrechtliche Abkommen, das auch gemäss Art. 5 Abs. 4 BV zu beachten ist, regelt an sich eine Selbstverständlichkeit – nämlich, dass Verträge zu halten sind.
In Übereinstimmung damit gehen in der Rechtsanwendung völkerrechtliche Normen deshalb widersprechendem Landesrecht vor. Dieser Grundsatz hat lediglich insofern eine Ausnahme erfahren, als der Gesetzgeber bewusst die völkerrechtliche Verpflichtung missachten und insofern auch die politische Verantwortung dafür bewusst tragen will („Schubert-Praxis“).
Keine Anwendung der „Schubert-Praxis“
Diese Ausnahme gilt indessen nicht, wenn menschenrechtliche Verpflichtungen der Schweiz in Frage stehen. In diesen geht die völkerrechtliche Norm der nationalen Regelung auch dann vor, wenn der schweizerische Gesetzgeber sie mit jüngerem Recht missachten wollte. Das Gleiche gilt gemäss dem FZA mit der EU, das durch dessen Annahme in der Volksabstimmung auch direktdemokratisch legitimiert ist.
Die Ausnahme nach der sogenannten „Schubert-Praxis“ kann auch hier keine Anwendung finden, weil es dabei u. a. darum geht, den unter das Abkommen fallenden Personen gerichtlichen Rechtsschutz zu garantieren, was toter Buchstabe bliebe, wenn die Gerichte abweichendes nationales Recht anzuwenden hätten.
Schliesslich weist das Bundesgericht daraufhin, die Vertragsstaaten der EU ihrerseits seien verpflichtet, dem Abkommen den Vorrang gegenüber ihrem jeweiligen innerstaatlichen Recht zu geben. Dieses Verständnis des Zusammenhangs zwischen völkerrechtlicher Verpflichtung einerseits und abweichendem Landesrecht anderseits liege überdies Art. 121a BV selbst zugrunde, indem die Übergangsbestimmung nur dazu verpflichte, bestehende Verträge neu auszuhandeln, diese also gelten würden und zu beachten seien, solange das nicht der Fall sei.
Das geltende Recht löst das vermeintliche Dilemma
Dass damit die der EU gegenüber gewährte Personenfreizügigkeit – gemäss geltendem Recht und auch dem Volkswillen nach – den mit der MEI in Art. 121a BV angenommenen Bestimmungen vorgeht, wurde bereits in der Berichterstattung über diesen wichtigen Grundsatzentscheid des Bundesgerichts – der dessen konstante Rechtsprechung in diesem Bereich nur konsequent fortführt – unterschlagen. Auch dass dies wegen der Vermengung von Bericht und Kommentar durch die für diese Berichterstattung wichtigste Zeitung dieser eine Rüge des Presserates eintrug, änderte leider nicht sehr viel daran.
Auch die Politiker, die sich nun seit bald drei Jahren mit der Umsetzung der MEI auf Gesetzesstufe befassen, blenden das – aus welchen Gründen auch immer – weitgehend aus. So wurde bisher die Quadratur des Kreises versucht, in der Annahme die MEI und das FZA liessen sich schon irgendwie vereinbaren, anstatt sich darauf zu besinnen, dass unsere Bundesverfassung eine klare Lösung für das vermeintliche Dilemma bietet – und dass nicht nur alle Bürgerinnen und Bürger im Rechtsstaat diese und Gerichtsentscheide dazu zu befolgen haben, sondern auch das Parlament.
Inländervorrang light ist nicht verfassungswidrig
Die Rechtsauslegung und -anwendung durch unser höchstes Gericht ist grundsätzlich auch durch das Parlament zu beachten, ausser es könnte wirklich triftige Gründe dagegen ins Feld führen und einen Konflikt mit der dritten Gewalt im Staate verantworten. Wäre dies der Fall, wäre längstens erkannt und auch der Öffentlichkeit klar, dass das Dilemma mit dem sich nun nächstens der Nationalrat befassen wird, letztlich kein wirkliches ist.
Es gilt nur, den Grundsatz des unbedingten Vorrangs des Völkerrechts verfassungsmässig zu beachten, dort, wo die Menschenrechte und die Grundfreiheiten in der EU auf dem Spiel stehen; und dies dem Recht und dem Volkswillen – und zwar auch dem mit der Annahme der MEI zum Ausdruck gebrachten – gemäss. Nicht der Vorschlag mit dem Inländervorrang light ist daher verfassungswidrig, sondern allein die Behauptung, dieser Vorschlag missachte die Verfassung.
Ein lösbares demokratisches Dilemma
Wenn trotzdem ein ungutes demokratisches Gefühl zurückbleibt, hat das damit zu tun, dass sich das vom Volk gutgeheissene Anliegen der MEI so nicht umsetzen lässt. Dieser sicher grosse Mangel lässt sich jedoch nicht damit beheben, dass die Initiative verfassungswidrig umgesetzt wird. Ein Fehler lässt sich nie durch einen zweiten Fehler korrigieren.
Vielmehr wird klar, dass die MEI hätte ungültig erklärt werden müssen, weil das Volk mit der Volksabstimmung darüber nur verschaukelt wurde. Der in unserer Verfassung vorgesehene Grund eines Verstosses gegen zwingendes Völkerrecht als Ungültigkeitsgrund wurde bei der Annahme der neuen Bundesverfassung 1999 ausdrücklich nicht als der entsprechende enge völkerrechtliche (auf Folter-, Zwangsarbeit- und Sklavereiverbot beschränkte) Begriff verstanden, sondern als eigenständiger staatsrechtlicher Begriff, der die Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates wie namentlich die Grund- und Menschenrechte und sicher auch die völkerrechtliche Vertragstreue im eigenen Interesse schützen will.
Nicht umsetzbare Initiativen nicht zur Abstimmung bringen
Die Gründe dieses Art. 139 Abs. 3 BV für die Ungültigerklärung von Volksinitiativen stützen sich auf die Garantie der unverfälschten Stimmabgabe in Art. 34 BV und haben nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts zu kantonalen Volksinitiativen den Sinn, dass nicht umsetzbare Initiativen nicht zur Abstimmung zugelassen werden dürfen, weil der bei einer Annahme ausgesprochene Volkswille gar nicht verwirklicht werden kann und die Stimmberechtigten daher nur darüber getäuscht werden, was sie mit einem Ja bewirken können.
Festzuhalten, dass die MEI – wie im Übrigen mehre andere Volksinitiativen auch, die nicht umgesetzt werden konnten, – ungültig hätte erklärt werden müssen und die Praxis dazu in Zukunft dem ursprünglichen Sinn von Art. 139 Abs. 3 BV gemäss verschärft werden muss, ist die beste Lösung um aus dem hier anzuerkennenden Dilemma herauszufinden.
Ungültigerklärung von Volksinitiativen Rechtssetzung – eine rechtliche Frage
Die Ungültigerklärung einer Volksinitiative auf Teilrevision der Bundesverfassung aus den genannten verfassungsrechtlichen Gründen bedeutet nie – wie allzu oft unzutreffend eingewendet wird – eine politische Frage nicht politisch, sondern rechtlich lösen zu wollen. Diese ist eine rechtliche Frage, bei der es hingegen nicht darum geht, ja oder nein zu einem politischen Anliegen zu sagen. Es geht bei diesen eidgenössischen Volksinitiativen nicht einfach um die Realisierung eines politischen Anliegens. Vielmehr handelt es sich dabei um Verfassungsgebung, und Verfassungsgebung muss rechtlich absolut korrekt sein, will man unser Grund- und oberstes Gesetz nicht zum Spielball politischer Propaganda werden lassen.
Jede neue Bestimmung unserer Bundesverfassung muss so in die bestehende Verfassung eingebettet sein, dass sie nicht mit anderen so in Widerspruch gerät, dass deren Sinn gänzlich unklar ist oder gar nicht umgesetzt werden kann. Alles andere täuscht nur die Stimmberechtigten und verfälscht den Volkswillen. Der Schutz des Volkswillens erheischt, dies nach den geltenden rechtlichen Kriterien durch Ungültigerklärung der Initiative unbedingt zu verhindern, und dies selbst dort, wo man dem politischen Anliegen gerne zustimmen würde.
*Giusep Nay war von 1989 bis 2006 Bundesrichter und von 2004 bis 2006 der erste Bundesgerichtspräsident romanischer Sprache.