Inge Morath hatte geradezu eine Scheu vor ihrer eigenen Berufung als Fotografin. In ihrer autobiografischen Skizze im Band «Hommage» schildert sie ihren inneren und äusseren Weg. Sie bewegte sich vorsichtig tastend, und zugleich verfügte sie über eine beeindruckende Souveränität.
«Hommage» erscheint aus Anlass einer umfassenden Retrospektive zu Inge Moraths 100. Geburtstag am 27. Mai 2023. Derzeit werden die Bilder dieser Hommage in München von der Versicherungskammer Kulturstiftung gezeigt. Weitere Ausstellungen an anderen Orten sind geplant.
Das Themenspektrum von Inge Morath ist breit gefächert. Man findet Bilder, die heute unter dem Titel «Street Photography» laufen würden, sie war zudem eine vorzügliche Reportagefotografin, und was vielleicht noch mehr beeindruckt, sind ihre Porträts. Zudem findet man Aufnahmen berühmter Schauspieler, die sie an Film-Sets angefertigt hat.
Bei den meisten Bildern fällt eine grosse kompositorische Stimmigkeit auf. Man spürt, wie sorgfältig Inge Morath ihre Bilder gebaut hat. Schon als junges Mädchen hat sie sich sehr für Malerei interessiert, und ihre Mutter nahm sie in die damals von den Nationalsozialisten veranstaltete Ausstellung «Entartete Kunst» mit. Sie war tief beeindruckt.
Aber sie litt unter der nationalsozialistischen Diktatur und später unter dem Krieg. Sie wurde zum Arbeitsdienst eingezogen und dabei schikaniert. Doch es gelang ihr, in Berlin einen Studienplatz zu bekommen. Nach dem Krieg ging sie nach Wien und arbeitete als Übersetzerin und Journalistin. Dabei lernte sie den Fotografen Ernst Haas kennen, woraus sich bei einer Reihe von Reportagen eine Zusammenarbeit ergab: Er machte die Fotos, sie schrieb die begleitenden Texte.
1949 wurden Morath und Haas von Robert Capa eingeladen, für die neu gegründete Foto Agentur Magnum zu arbeiten. Morath war zunächst als Redakteurin tätig. Im Zuge ihrer Arbeit beschäftigte sie sich mit den Kontaktbögen von Henri-Cartier Bresson. Sie betrachtete die Bilder ganz genau und sagte später, dass sie in der Beschäftigung damit das Fotografieren gelernt habe.
Der Anfang in Venedig
Der Schritt in die Fotografie ist mit einer Anekdote verbunden. Sie war in Venedig, und es regnete. Sie war von den Grautönen und den Reflexen auf den regennassen Flächen hellauf begeistert und rief Robert Capa von der Agentur Magnum in Paris an. Er solle doch einen Fotografen nach Venedig schicken. Der lehnte das aus naheliegenden Gründen ab und schlug stattdessen vor, dass Inge Morath nun selber zur Kamera greift. In ihrem Reisekoffer befand sich, jedenfalls erzählt sie das so, eine alte Contax von ihrer Mutter. Sie nahm diese Kamera, ging in das nächste Fotogeschäft und liess sich einen Film einlegen.
Sie ging zu ihrem Beobachtungspunkt und wartete, «bis sich Menschen, Säulen, Fenster und Tauben in dem Rhythmus befanden, den ich auf einem Foto für gut befunden hätte, und drückte auf den Auslöser». In diesem Moment wurde ihr klar, dass sie sich als Fotografin gefunden hatte. Und in Bezug auf ihren weiteren Weg erinnerte sie sich an einen Satz von Henri-Cartier Bresson: «Ein gutes Foto kommt nur dann zustande, wenn die innere Vision hinter dem geschlossenen Auge sich mit der des offenen Auges hinter dem Sucher im Augenblick des Fotografierens deckt.»
1953 wurde sie zusammen mit Eve Arnold als erstes weibliches Mitglied in die Fotografen Agentur Magnum aufgenommen. Ab 1954 arbeitete sie zeitweilig als Assistentin sehr eng mit Henri-Cartier Bresson zusammen. Als Reportagefotografin bereiste sie zahlreiche Länder auf der ganzen Welt. Eine Besonderheit besteht darin, dass sie die Sprachen der Länder, über die sie als Fotografin berichten wollte, lernte, um ein besseres Verständnis der Kulturen und Mentalitäten zu bekommen. So lernte sie auch Russisch und Mandarin.
In dem Band «Hommage» beeindrucken die Porträts nicht nur in fotografischer Hinsicht. Sie erweisen auch, welche Ausstrahlungskraft von der Persönlichkeit von Inge Morath ausgegangen ist. Gerade die Porträts von André Malraux, Philip Roth und John Updike lassen die Intensität der Begegnungen erahnen. Umgekehrt bedauert Inge Morath, dass sie von ihrer Freundin Ingeborg Bachmann kein Porträt angefertigt hat, weil sie fürchtete, «dass ich dem leicht verschwommenen Ausdruck, der ihr Gesicht so schön machte, im Foto nicht gerecht würde. Jetzt könnte ich es. Man träumt von versäumten Bildern.»
Beeindruckend sind auch die Fotos von Schauspielern, die Inge Morath an Film-Sets aufgenommen hat. 1960 arbeitete sie am Film-Set von «Misfits», «Nicht gesellschaftsfähig», für das Arthur Miller das Drehbuch geschrieben hatte. Das war das letzte Projekt von Marilyn Monroe und ihm. Danach liessen sie sich scheiden. 1962 heirateten Arthur Miller und Inge Morath.
Inge Morath starb am 30. Januar 2002 in New York. Der Band von Schirmer / Mosel ist eine wirkliche Hommage. Die einleitenden Worte von Rebecca Miller, ihrer Tochter aus der Ehe mit Arthur Miller, sind erhellend und berührend zugleich. Die autobiografischen Skizzen von Inge Morath zeigen, dass sie auch eine hervorragende Journalistin und Schriftstellerin war. Und die Bilder sind Zeitzeugnisse, die auch wegen ihrer fotografischen Qualität einen unschätzbaren Wert haben.
Inge Morath: Hommage. Hrsg. v. Isabel Siben und Anna-Patricia Kahn. Mit einem Text von Inge Morath und einem Vorwort von Rebecca Miller, zweisprachige, deutsch-englische Ausgabe, 296 Seiten, 212 Tafeln, Schirmer / Mosel, ca. 58 Euro.
Ausstellung: Versicherungskammer Kulturstiftung: Inge Morath Hommage
München, Maximilianstrasse 53, bis 1. Mai 2023