Man wird diesen Band wieder und wieder zur Hand nehmen, denn er enthält nicht nur fantastische Bilder, sondern auch faszinierende Geschichten. Der Autor, Boris Friedewald, widmet jeder der 55 Fotografinnen einen einführenden Text von jeweils genau einer Buchseite. Anders als dieses starre Schema erwarten lässt, beschreibt er deren Leben und ihre Motive, zur Kamera greifen, spannend und einfühlsam.
Unglaubliche Vielfalt
Immer wieder klingt an, dass die Fotografie ein Mittel zur Selbsterfahrung ist. Aus weiblicher Perspektive kann damit, speziell bei den Vertreterinnen der ersten Generationen von Fotografinnen, die Emanzipation von traditionellen weiblichen Rollen verbunden sein. Die Frage aber, die der Band implizit und an einigen Stellen auch explizit stellt, ob es einen spezifisch weiblichen Blick gibt, ist dagegen sehr spekulativ.
Nicht spekulativ ist die Feststellung, dass uns in diesem Band eine unglaubliche Vielfalt an fotografischen Blickweisen begegnet. Jede Fotografin hat ihre eigene Perspektive. Dazu gesellt sich oftmals ein hohes Mass an technischem Können. Immer wieder stösst man in diesem Band auf Bilder von atemberaubender Perfektion.
Boris Friedewald ist Kunsthistoriker und Dramaturg. Aus seiner Feder stammen schon mehrere bemerkenswerte Bücher. Dennoch stellt sich die Frage, wie ein einzelner Autor ein Arbeitspensum bewältigen kann, wie es der vorliegende Band erfordert. Erst auf der letzten Seite im Impressum steht ein wertvoller Hinweis: „Projektleitung: Claudia Sträuble“. Und zwei weitere Damen waren für das Projektmanagement zuständig: Julie Kiefer und Franziska Stegmann.
Das Buch ist also in einer Art Teamwork entstanden, und so erklärt sich die durchgehend hohe Qualität. Aber es gibt auch einige Lücken, die man einerseits bedauert, die aber auch wieder interessante Rätsel aufgeben: Warum hat das Team so entschieden, wie es entschieden hat? Einige Beispiele:
In dem Band ist Dorothea Lange vertreten. Sie schuf eine der Ikonen der amerikanischen Fotografie, die „Migrant Mother“ von 1936. Aber man vermisst Diane Arbus, deren Blick auf das amerikanische Leben in jener Zeit nicht weniger enthüllend war. Und man trifft auf beeindruckende Bilder von Lillian Bassman, die als Modefotografen in Amerika Massstäbe gesetzt hat. Aber man vermisst Annie Leibovitz, deren Bilder – viele davon stilbildend für Vanity Fair und Vogue - mindestens ebenso bedeutend sind.
Beeindruckende Karrieren
Positiv wiederum ist, dass sowohl Nan Goldin wie Cindy Sherman als zeitgenössische Fotografinnen Amerikas vertreten sind. Klar erkennbar ist der Schwerpunkt des Bandes. Die vorgestellten Fotografinnen haben zum grössten Teil enge Verbindungen zur darstellenden Kunst. Einige kommen aus der Malerei oder dem Design und haben erst später die Kamera als ihr eigentliches Medium entdeckt.
Viele der vorgestellten Fotografinnen haben beeindruckende Karrieren gemacht. Sie stellten in den bedeutendsten Museen aus, waren in den massgebenden Bildagenturen und prägten die Bilder von Modemagazinen. Aber Boris Friedewald berichtet auch von einer Fotografin, die im Laufe ihres Lebens mehr als 100'000 Schwarzweissbilder und 20'000 Farbbilder gemacht hat, ohne je eines davon zu veröffentlichen und damit in Erscheinung zu treten: Vivian Maier. Zufällig stiess ein junger Immobilienmakler und Heimatforscher bei einer Auktion in Chicago auf eine der Kisten, in der sie ihren Schatz aufbewahrte. Auf diese Weise wurde sie posthum zum fotografischen Star.
Was die Auswahl der deutschen Fotografinnen angeht, so stellen sich auch hier Fragen. So ist Herlinde Koelbl vertreten, Barbara Klemm aber nicht. Es wäre schön gewesen, wenn man die beiden unterschiedlichen Temperamente nebeneinandergestellt hätte. Kann es sein, dass die stärker künstlerisch orientierte Fotografie gegenüber der Reportage oder auch politischen Fotografie bevorzugt wurde? Ganz eindeutig ist das nicht. So ziert das Cover ein Bild, auf dem Margaret Bourke-White auf dem Chrysler Building während einer Architekturaufnahme zu sehen ist. Margaret Bourke-White trat aber auch als politische Fotografin in Erscheinung. Sie war die erste Frau, die Stalin porträtiert hat.
Witz und Charme
Interessanterweise fehlt – mit Ausnahme von Margaret Bourke-White – das Thema der Kriegsfotografie. So findet man nichts von Gerda Taro, die an der Seite von Robert Capa arbeitete. Ebenso fehlt die bei ihrer Arbeit ums Leben gekommene Anja Niedringhaus.
Es gibt auch andere Ungleichgewichte. So hat Boris Friedewald einen sehr schönen Text zu Gisèle Freund verfasst. Man findet dort ein beeindruckendes Portrait von Virginia Wolf. Aber das ist schon alles. Bei anderen Fotografinnen sind mehr Proben ihrer Kunst zu sehen.
Am Ende des Bandes bietet ein ausführliches Literaturverzeichnis Angaben zu Werken über die behandelten Fotografinnen. Das ist sehr hilfreich, aber man ist gut beraten, im Einzelfall darauf zu achten, ob es nicht auch noch Kataloge zu den jeweiligen Ausstellungen gibt.
Auch wenn man die eine oder andere Fotografin vermisst, gibt der Band einen recht umfassenden und vor allem beeindruckenden Einblick in die Entwicklung der Fotografie aus weiblicher Hand. Gibt es einen spezifisch weiblichen Blick? Zumindest gibt es Witz und Charme.
Boris Friedewald, Meisterinnen des Lichts. Grosse Fotografinnen aus zwei Jahrhunderten, Prestel Verlag, München 2014