"Sehr geehrte Damen und Herren
Als ich 1957 bei der Neuen Zürcher Zeitung als Volontär eintreten durfte, waren Bilder verboten. Chefredaktor Willy Bretscher wollte keine Bilder in seiner Zeitung sehen. Willy Bretscher war ein bedeutender Mann, einer der wichtigsten Chefredakteure, die die Zeitung je hatte. Ihm war es zu verdanken, dass die NZZ in den Vorkriegsjahren nicht von Agenten aus Hitler Deutschland aufgekauft wurde, und er hat sie über die Jahre des Krieges auf Linie gehalten. Damals brauchte es Mut, um der nazistischen Dampfwalze entgegenzutreten.
Bretscher hatte seine Gründe, wenn er sich der Veröffentlichung von Photos in seiner Zeitung widersetzte. Er sagte:"Wir sind ein geschriebenes Blatt. Wenn die Leute Bilder anschauen wollen, können sie das in einer Illustrierten tun. Die sind dafür da. Bilder lenken von Geschriebenen ab. Lesen und das Gelesene aufzunehmen ist Arbeit. Die Bilder gehen leicht ein. Die Leute beschauen sie sich und glauben, sie seien informiert. Sie gewöhnen sich daran, nicht nachzudenken."
Es gab eine jahrelang dauende innere Diskussion über die Bilder. Bretscher liess sich nicht leicht überzeugen. Dass die anderen Zeitungen Bilder publizierten, war für ihn kein Argument, eher im Gegenteil.Seine Zeitung sollte sich dadurch auszeichnen, dass sie anders war - ja den Anspruch erhob und zu rechtfertigen suchte, besser zu sein, als die Anderen. Konkurrenzdruck gab es damals eigentlich nicht. Der Zeitung ging es gut, sie blühte. Kein Anlass etwas zu ändern, im Gegenteil.
Doch EIN Argument setzte sich über die Jahre hinweg auch bei Bretscher durch. Redaktoren wie Eric Streiff, der ein feines Sensorium für Bilder besass, legten es immer wieder in neuen Variationen vor. Sie belegten es mit konkreten Beispielen: "Es gibt Bilder, die mehr aussagen als ein geschriebener Text. Sie können ihn auch ergänzen und vervollständigen." Bretscher war allzusehr Vollblutjournalist, um sich diesem Argument auf die Dauer entziehen zu können. "Wenn ihr wirklich glaubt, dass es Bilder gibt, die mehr aussagen als ein geschriebener Text, und wenn ihr die finden könnt", so entschied er schlussendlich, "dann meinetwegen: Ein Bild auf Seite drei !"
Dazu gab es auch eine illustrierte Wochenendbeilage, die niemand geringeres als Gotthardt Schuh besorgte. Schwarz weiss natürlich. Farbphotos waren noch nicht erfunden.
Die Bildinformation stieg in den nächsten Jahrzehnten kometenhaft an. Heute hat sogar die NZZ fast jeden Tag ein farbiges Bild auf der ersten Seite. Das Fernshen begann den Ton anzugeben. 1960 wurde Nixon nicht gewählt, als man ihn von der Seite zeigte und so gesehen seine krumme Nase unangenehm wirkte. Kennedy gewann die Wahl. Doch 1968 gewann Nixon, nachdem seine Photofachleute bestimmt hatten, dass er nur noch von vorne photographiert werden dürfe.
Wer sich heute im Internet umtut, spürt wie die Bilder immer zunehmen. Ganz abgesehen von You Tube finde man heute eine wahrscheinliche Mehrheit von textlichen Darstellungen, die oben ein Bild voranstellen. Routinemässig, manchmal mit wenig Bezug auf den Text, als ob die Meinung vorherrsche, ohne Bild würde man sowieso nicht gelesen.
Rückschauend muss ich Bretscher ein wenig recht recht geben. Eine Hochflut der Bildinformation hat eingesetzt. - Und sie zwingt dazu, darüber nachzudenken, was das Bild kann und was es nicht kann.
Das Bild berührt unmittelbar. Der Beschauer wird vor ein Geschehen, oder ein Bestehen gestellt. Es tritt ihm entgegen. Er reagiert, zunächst ohne zu analysieren. Schnelle Reaktionsmenchanismen. vermutlich aus uralter Zeit, als wir darauf angewiesen waren, schnell und instinktiv auf die Präsenz eines Löwen oder eines Mamut zu reagieren, werden aktiviert mit dem Impakt einer Begegnung. - Die Analyse muss warten. Reagieren kommt vor dem Verstehen. Je rascher die Bildfolge desto weniger kommt das verstehen Wollen überhaupt zum Zuge.
Die Bildinformation ist sehr viel intensiver als eine Beschreibung, sogar wenn diese aus Dichtermund stammt. Doch sie hat drei Beschränkungen: - räumlich,- zeitlich,- kausal. Das Bild zeigt nur einen AUSSCHNITT der ganzen Realität. Nie den ganzen Horizont des Raumes, in dem sich abspielt. Es wird immer "geschossen". Es zeigt stets eine Gegenwart, keine Vergangenheit und keine Zukunft. Es zeigt was ist, nicht warum es so ist.
Der Impakt seiner Präsenz ist so stark, dass diese Präsenz zunächst die drei Beschränkungen in den Schatten stellt. Man steht einfach davor. Dann liest man vielleicht den Text der Legende, der eine erste Orientierung vermittelt. Geschriebene Identifikation von Person, Ereignis, Ort, Zeit, erlauben wenigstens andeutungsweise die drei Beschränkungen zu überbrücken: Zusammenhänge werden hergestellt.
Doch das Bild hat seine Wirkung schon ausgeübt. Es greift in die Tiefe. Weil es unmittelbar als Begegnung wirkt, stellt es den Beschauer in das Geschehen hinein. Er ist dabei. Und das geschieht so gut wie von selbst. Es genügt einen Augenblick hinzuschaun. Wer kann solche Wirkung auf Grund des geschriebenen Wortes erreichen? - Ein Dichter, im besten Fall. -- ABER und hier hatte Bretscher recht: die Zusammenhänge fehlen.
Wer sich an Bildern allein orientieren wollte, machte Gefühlswellen durch: je nachdem, himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, mitschwingend, verblüfft, abgestossen, erschreckt, berührt und gerührt ohne wieso und woher. - Die Reklamefachleute wissen das natürlich schon lange.
Doch wenn es um wirkliche Information gehen soll- das heisst letzten Endes und besten Falls:um Verständnis - braucht es ein Gleichgewicht, das leicht gestört werden kann. Ein Gleichgewicht zwischen dem unmittelbaren Ereignis (das vom Bild vermittelt werden kann) und den Zusammenhängen, in denen es steht.
Das Bild erlaubt Betroffenheit und diese ist Teil des Verstehens, genauer: ein erster Schritt auf Verstehen hin. Um von Information sprechen zu können, müssen weitere Schritte folgen, die die Zusammenhänge aufzeigen. das heisst den Kontext, in dem Bild steht: örtlich, zeitlich, kausal.
Solche Zusammenhänge kennen wir, wenn die Bilder vertraute Gegenstände und Ereingisse spiegeln. Wir ordnen die Bilder dann automatisch in die Zusammenhänge ein, die uns aus unserer Erfahrung präsent sind. Doch wenn es um ferne Gesellschaften geht, etwas anders organisert als die uns vertrauten, entlegene Orte, Geschehnisse jenseits unseres eigenen Horizonts, sind wir darauf angewiesen, den Kontext kennen zu lernen, aus dem heraus das Bild uns entgegentritt.
Das ist, wie Bretscher wusste, zähere Arbeit als "Bilder beschauen". Es ist genau besehen eine Arbeit, die wir heute schlechterdings nicht mehr leisten können - nicht für die ganze Welt und alles das heute täglich für sie und damit für uns relevant geworden ist, seitdem wir in einer globalisierten Welt leben. Wir sind dabei überfordert.
Die Bilderflut, in die wir heute gestellt sind - soll ich sagen, in der wir heute ertrinken? - bewirkt leicht, dass man sich nur noch berieseln lässt, von einem zum anderen springt, ohne nach den Zusammenhängen zu fragen. Zum Schluss bleibt in diesem Fall Verwirrung statt Information. Womit dann auch grade Jenen das Bett gemacht wird, die Bilder einsetzen, um ihre Absichten unterschwellig und undiskutiert an den Mann zu bringen, den Reklamefachleuten und den politischen Propagandisten.
Zusammenfassend:
Information ohne Bilder ist heute fast nicht mehr denkbar. Die Bilder verschaffen ihr emotionale Tiefe. Die Bildinformation ist aber nicht ohne Gefahr, weil sie impaktiert, ohne zu informieren.
Gerade aus diesem Grund ist es wichtig, nach der Qualität der Bilder zu fragen. Die besten von ihnen schlagen ein, aber tönen auch gleichzeitig an. Sie beeindrucken und sie fragen. Die Fragen tauchen erst auf, wenn man genauer hinschaut. Wenn sie wahrgenommen werden, zwingen sie nach den Zusammenhängen zu forschen. Wo genau ist es so? bei wem? aus welchen Gründen? seit wann? und wie lange noch? Die besten Bilder sind zweidemensional: impakt plus Fragestellung. Das ist ein wirkliches Pressebild! -- und hier haben wir sie!
Kurz noch die Probe aufs Exempel. Ich bin nicht in der Lage, Ihnen die Zusammenhänge, den Kontext, für alle die vielen und eindrücklichen Bilder zu liefern, die Sie hier sehen. Doch es gibt eine Gruppe bei der ich es kann. Das sind die Bilder, die aus dem Nahen Osten stammen. Eines davon hat ja hier den ersten Preis erhalten. Und es ist wirklich ein Bild, das nicht nur beeindruckt sondern auch fragt. Es handelt von Gaza und es gibt die Beerdigung wieder von zwei kleinen Kindern und - im Hintergrund schwer zu sehen - auch ihres Vaters. Das Jahr ist 2011; im November dieses Jahres führte Israel einen Bombardierungskrieg gegen die Gaza Enklave durch. Dies ist eine von Israel hermetisch verschlossen gehaltene Enklave, in der anderthalb Millionen Menschen leben und die zu den dichtest besiedelten Territorien der Welt gehört.
Warum? und wie kann das weiter gehen? sind Fragen, die sich sofort aufdrängen. Ich kann sie ihnen beantworten. Allerdings schwerlich in einem einzigen Satz. Ausserdem wird meine Antwort nicht von allen Beteiligten akzeptiert werden. Hier möchte ich mich darauf beschränken zu sagen: Es gibt zwei gegensätzliche Narrative über den Streit, der den Ereignissen von Gaza und damit dem ganzen Schmerz, den das Bild spüren lässt, zugrunde liegt. Die eine Erzählung ist jene Israels. Sie besagt: "das Land Palästina, um das es hier geht, gehört uns, und wir haben ein Recht darauf, über es zu verfügen". Die andere Erzählung besagt das Gegenteil: "das Land Palästina gehört den Palästinensern. Die Israeli sind Eindringlinge, denen es nicht gehört." Wie König Salomon seinerzeit im Streit um das Neugeborene, befindet heute die internationale Staatenwelt: das Land wäre zu teilen. Doch weil die eine Seite die stärkere ist, die andere sehr viel schwächer, kommt eine wirkliche Teilung nicht zustande. Die stärkere Seite will mehr als bloss die grosse Hälfte, genauer die 77 Prozent, die ihr die internationale Gemeinschaft zusprechen will. Sie findet Gründe und Vorwände, um deren Schiedsspruch nicht nachzukommen.
Wollen Sie mehr wissen? - es gibt ganze Bibliotheken, die über das Thema geschrieben wurden. - Doch wir haben hier das Bild. Es zeigt uns besser als alle Bibliotheken, wie schmerzlich das Thema ist: seine menschliche Tiefendimension. Sie ist ein wichtiger Bestandteil des immer noch unbewältigten Palästinaproblems.
Vergleichbares wäre über die Bilder sagen, die von der Zerstörung der heute umkämpften Stadt Aleppo in Syrien zu sehen sind. Das Warum? drängt sich auf. Die Erklärung ist wiederum lang, kompliziert und kontrovers. Zwei Seiten und ihre Widersprüche. Ein Gewaltherrscher, der sich auf seine Vertrauten stützt, um an der Macht zu bleiben, und ein Teil seiner Bevölkerung, der ihn zu Fall bringen will. Äussere Kräfte haben sich eingemischt, auf beiden Seiten. Der Bürgerkrieg ist zu einem Stellvertreterkrieg geworden. Was das für die Bürger heisst, das helfen die Bilder nachzuempfinden."
Arnold Hottinger, Mai 2013