Sommer 2022: An der Oberfläche ist in Griechenland alles wie immer – aber wer genau hinschaut, sieht: Es brodelt.
Es sah aus wie im Juni, als ich auf der Insel Euböa eintraf – und die Touristensaison sollte schon voll im Gange sein. Es handelt sich bei dieser Insel um einen Mikrokosmus von nachhaltigem und sanftem Binnentourismus mit vielen Wochenend- und Ferienhäusern. Ausländer verirren sich kaum auf die Insel, wenn man von den Bettenburgen um Eretria absieht. So sieht es wohl in allen Gebieten aus, die auf Binnentourismus setzen. Während auf den Ferieninseln die Post abgeht wie vor COVID, sieht es bei uns ganz anders aus: Restaurants sind halb leer und Zimmer findet man auch in der ersten Augusthälfte allenthalben. Dazu kommt, dass die Regierung den Kleinunternehmern das Leben immer noch unnötig erschwert. An einem Strand, den wir oft besuchen, wenn es Wind hat, weil er davon geschützt ist, gibt es eine kleine Kantine. Dort gibt es frische, selber geschnittene Pommes Frites (wo gibt es das sonst noch in Europa?), Souvlaki, Tsatsiki, grilliertes Lammfleisch und feine Salate. Anfangs Juli war die Kantine noch nicht offen – Probleme mit der griechischen Bürokratie. Ende Juli war dann nach ein paar Tagen schon wieder Schluss. Ein Coronafall zwang das gesamte Personal in Quarantäne. Während Geimpfte in vier Tagen wieder frei sind, gilt für Ungeimpfte eine Quarantäne von 14 Tagen. Die Kantine war danach 2 Wochen geschlossen, was einen herben Umsatzverlust bedeutete. Und nota bene: Erkrankt eine ungeimpfte Touristin in Griechenland an Corona, dann verlängert sich der Aufhenthalt zwangsweise und auf eigene Kosten, bis die 14 Tage Quarantäne abgesessen sind!
Dieser im Binnentourismus bisher sehr verhaltene Sommer zeigt, was die Inflation und die starke Inflationserwartung angerichtet haben. Die Griechinnen und Griechen sitzen auf ihrem Geld, drehen den Euro zweimal um und es sind die Ferien, die zuerst verkürzt oder ganz gestrichen werden. Das war schon während der Finanzkrise so, aber in Hellas dachte man, dass das Land eine derartige Krise nur einmal im Leben eines Menschen durchmachen müsste.
Ängste verändern die Gesellschaft
Während früher der Sommer eine Zeit des unbeschwerten Innehaltens war, kommen in diesem Jahr sehr schnell die Sorgen und Nöte der Menschen zum Vorschein. Es braucht wenig, bis man sich streitet und bei der Frage «Wie geht es dir?» kommt als Antwort nicht nur das deutliche «καλά» – «gut», sondern ein καλά mit Zögern, oder mit einem «aber». Über Corona wird wenig gesprochen, über die gestiegenen Energiepreise hingegen schon. Es gilt aber als ausgemacht, dass, sobald die Touristen weg sind, wieder Massnahmen in Kraft treten werden wie Zertifikatspflichten oder Zugangsbeschränkungen. Dass der 7-Tage-Mittelwert bei den Todesfällen wieder bei fast 50 liegt (Schweiz: 3), ist zwar bekannt, verursacht aber kaum Schlagzeilen. Und dass die COVID-Bilanz Griechenlands sowohl in Bezug auf die öffentliche Gesundheit wie in Bezug auf die Wirtschaft katastrophal ist, habe ich hier gezeigt.
Abhörskandal, digitale ID-App und Grundrechte
Ich kannte vor Jahrzehnten den ehemaligen Spiegel-Korrespondenten in Athen. Er wurde zu Zeiten der Militärjunta eingesperrt und gefoltert und versuchte noch in den Neunzigerjahren bei jedem Telefongespräch mit einem Trick herauszufinden, ob er abgehört wurde. Dem griechischen Staat vertraute er nie wieder.
Es zeigt sich immer mehr, dass der alte Mann wusste, was er tat. Und es ist interessant, dass nun auch die Schweizer Medien langsam dahinterkommen, dass in Griechenland Grundrechte wie die Pressefreiheit oder die Privatsphäre grob verletzt werden. Ich habe schon hier darüber berichtet.
Kürzlich erfuhr der Chef der oppositionellen Partei PASOK, Nikos Androulakis, vom Sicherheitsdienst des Europäischen Parlaments, dass er vom griechischen Geheimdienst bespitzelt wird.
Nachdem das Abhören des Smartphones des PASOK-Chefs aufgeflogen war, traten der Geheimdienstchef und der Büroleiter des Premierministers zurück. Der Letztere ist aber nicht nur Büroleiter, sondern zufällig Neffe des Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis.
Mitsotakis wollte sich damit herausreden, er habe davon nichts gewusst, hätte das nie genehmigt, das Ganze sei ein Fehler gewesen, aber legal, weil von einem Staatsanwalt bewilligt. Es ist aber nicht sicher, dass die Affäre für die Regierung schon ausgestanden ist, denn nun haben die Medien Lunte gerochen. Nicht nur der Fall des PASOK-Chefs wurde breit ausgerollt, es wurde auch bekannt, dass ein griechischer Journalist vor Gericht ging, weil sein Telefon mit Spionagesoftware infiziert war.
Es wurde bekannt, dass die Bespitzelung von Androulakis auf Initiative des ukrainischen und des armenischen Geheimdiensts gestartet wurde. Diese Länder hätten Auskunft gewünscht über die Beziehung des Oppositionspolitikers zu Russland, China und der Türkei. Die ukrainische und die armenische Botschaft in Athen dementierten dies.
Bisher hat es im Ausland praktisch niemanden interessiert, dass Griechenland die Pressefreiheit einschränkt und im Rahmen der Corona-Pandemie die Grundrechte massiv beschnitt. Ob sich das jetzt ändert, wenn ein prominentes Opfer bekannt wird? Immerhin wurde auch die EU-Kommission nun auf diese Missstände aufmerksam. Bevor es einen Prominenten erwischte, interessierte das aber niemanden. Auch Staatspräsidentin Katerina Sakellaropoulou, früher Richterin am Areopag, am obersten Gericht, betonte das Recht auf Privatsphäre und forderte eine Aufklärung der Spitzelaffäre.
Wenn man bedenkt, dass die griechische Rechte zu den Grundrechten – verharmlosend ausgedrückt – ein pragmatisches Verhältnis hat und dass Dinge wie Datenschutz dort allzu oft als ein überflüssiger Luxus empfunden werden, stimmt es nachdenklich, dass kürzlich eine neue digitale App eingeführt wurde, die Führerscheine und Identitätskarten ersetzen soll. Die App werde auf «Fahrzeugregistrierung, Kfz-Steuerzahlungen, Ergebnisse der Technischen Fahrzeuginspektion (KTEO), Versicherungsdetails und mehr» ausgedehnt. In der nächsten Phase könne die App genutzt werden, um ein Bankkonto zu eröffnen, auf elektronische Behördendienste zuzugreifen und andere Online-Aktivitäten durchzuführen. Der Minister für digitale Verwaltung, Kyriakos Pierrakakis, war in Bezug auf die wahren Gründe für diesen Digitalisierungsschub immerhin ehrlich: Er erklärte, dass das digitale Ausweissystem gegenüber dem herkömmlichen Ausweis für die Regierung von Vorteil sei, da «eine digitale Spur anstelle von Ausweiskopien erstellt werde». Zu welchem Zweck wohl?
Fertig mit der lästigen Überwachung
Für den griechischen Finanzminister Christos Staikouras war das ein grosser Tag: Die verschärften Kontrollen der griechischen Finanzen durch die EU-Kommission haben ein Ende. Damit ist die Schuldenkrise, die das Land im Frühjahr 2010 an den Rand des Zahlungsausfalls und des Bürgerkriegs geführt hatte und Motivation für den Start dieses Blogs war, offiziell ausgestanden. Das Land wurde mit dem grössten Unterstützungsprogramm der Geschichte unterstützt. 278 Milliarden Euro wurden auf den Finanzmärkten aufgenommen, Institutionen wie der IWF, die EU-Kommission und der Euro-Rettungsschirm garantierten dafür und das Geld floss nach Athen – und meist direkt zurück an die Gläubiger für die Ablösung alter Darlehen. Oft wird – vornehmlich in Deutschland – behauptet, der deutsche Steuerzahler habe mit sauer verdientem Geld die Griechen unterstützt. Das ist nicht so. Es wurden nur Garantien ausgesprochen und dadurch, dass Athen das Geld – allerdings moderat – verzinst hat, verdienten die Gläubiger damit noch Geld.
2018 lief das Programm aus und Athen finanziert sich seither wieder an den Finanzmärkten. Da die Zinsen niedrig sind, ist das nicht allzu schwierig. Allerdings lasten die Folgen der Krise schwer auf den Griechinnen und Griechen. Das Land verlor kumuliert fast 28% der Wirtschaftsleistung und hat heute den grössten Schuldenberg und eine der höchsten Arbeitslosenraten Europas. Dieses Manko wurde bisher nicht kompensiert. Von 2015 bis zum Beginn der Pandemie wuchs zwar Griechenland und nach einem coronabedingten Einbruch im 2020 wuchs die Wirtschaft 2021 um 8%, während dieses Jahr 6% erwartet werden. Auch diese optimistische Schätzung bedeutet, dass die Wirtschaftsleistung 2022 bei einem Bruttoinlandprodukt (BIP) von knapp 190 Mrd. Euro liegt, während es 2008 noch 242 Mrd. Euro waren. Die Leidtragenden waren die Mittelständler – viele Geschäfte und kleine Firmen machten dicht, was vor allem in der Athener Innenstadt augenfällig ist.
Während dieses Jahr ein Primärdefizit von 2% des BIP erwartet wird, will die Regierung 2023 bereits wieder einen Primärüberschuss von 2,1% und im Folgejahr einen solchen von 2,4% erwirtschaften. Überschüsse sind zwar wichtig, dass der Schuldenberg abgetragen werden kann, aber dieser ist so gigantisch, dass das dauern wird. 2020 erreichte der Schuldenstand eine Spitze von 206% – etwa das Doppelte gegenüber dem März 2020, als das Land pleite war. Ende dieses Jahres sollen es noch 180% sein. Kann sich das Land in dieser Situation noch finanzieren? Es gilt als gesichert, dass eine erneute Staatsschuldenkrise nicht unmittelbar droht, wenn sich die Zinsen nicht schnell und radikal nach oben bewegen. Der Durchschnitt der Zinsen bei den griechischen Staatsschulden liegt bei 1,4% und deren mittlere Laufzeit ist extrem lang. Es droht also keine unmittelbare Finanzierungslücke. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist, dass die Inflation, die mittlerweile über 10% liegt, die Staatsschulden langsam aber stetig weginflationiert, etwa so, wie das in Grossbritannien und den USA nach dem 2. Weltkrieg gemacht wurde, aber dies wiederum auf Kosten des Mittelstandes und der Ärmsten geschieht. Die Krise mag vorbei sein, die Folgen haben die Griechinnen und Griechen aber immer noch zu tragen.
Die Überwachung geschieht jetzt nur noch alle sechs Monate, nicht mehr alle drei – allerdings bis drei Viertel der Kredite zurückgezahlt sind. Wenn alles gut geht, ist das 2059 der Fall. Immerhin erhält Hellas jetzt 784 Millionen Euro – das ist Geld, das die Gläubiger mit den Griechenlandkredite verdient haben. Was damit passiert? Spätestens nächstes Frühjahr sind Wahlen. Wetten dass die Regierung jetzt die Geldschleusen öffnet, Wahlgeschenke macht und das mit neuen Schulden finanziert?
Waldbrände: Ist der Klimawandel schuld?
Griechenland hat einen vergleichsweise kalten, regen- und schneereichen sowie langen Winter hinter sich. Trotzdem stellte ich bei meiner Ankunft fest, dass auch in diesem Jahr das Wasser ständig abgestellt wird. Obwohl an sich im Moment reichlich vorhanden, gelingt es den staatlichen Wasserwerken nicht, dieses Gut zuverlässig zu den Menschen zu bringen. Grosse Teile versickern, ständige Reparaturen und Abschaltungen sind die Folge. Ich selber merke wenig davon, da wir in unserem Haus eine Zisterne haben, die wir rechtzeitig füllten. Das führt mich zu den Waldbränden. Aufgrund des vielen Regens – es regnete noch im Juli einige Tage und im August wieder – ging ich davon aus, dass wir diesmal mehr oder weniger verschont würden. Weit gefehlt! Ich habe hier und hier auf die verheerenden Brände im letzten Jahr auf unserer Insel Euböa hingewiesen. Die Brände konzentrieren sich (jedenfalls bisher) auf andere Regionen: Wie letztes Jahr ist der dicht besiedelte Norden von Athen betroffen, aber auch die Verkehrsachse gegen Korinth. In der Kommunikation der Regierung wird in Bezug auf die Waldbrände bei jeder Gelegenheit auf den Klimawandel hingewiesen. Das ist aber höchstens die halbe Wahrheit. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Waldbrände in Griechenland grösstenteils auf Nachlässigkeit zurückzuführen sind (Wälder werden nicht mehr gepflegt, Glas oder Zigarettenstummel weggeworfen, fehlende Brandwachen) oder sogar gelegt werden. Die Feuerwehr jagt dann jedem Brand nach im Bemühen, Menschenleben und privaten Besitz zu schützen. Sie nimmt aber in Kauf, dass grosse Waldflächen abbrennen. Gerade in einem Jahr, in dem es reichlich geregnet hat, ist der Verweis auf den Klimawandel eine billige Ausrede.
Der «Schyssalpino» in Griechenland
In den Neunzigerjahren pendelte ich täglich von Bern nach Basel. Mit viel Vorschusslorbeeren versehen starteten damals die sogenannten Cisalpino-Züge auf der Strecke Basel-Mailand. Es handelte sich um ein italienisches Fabrikat mit der Bezeichnung ETR 470. Die Züge waren zu lange, um in Doppeltraktion geführt zu werden und zu kurz, um in den Stosszeiten im schweizerischen Binnenverkehr kapazitätsmässig zu genügen. Die Idee war, dass die Züge durch das Neigesystem höhere Kurvengeschwindigkeiten erreichen sollten und der Halt an der Grenze entfällt, da die Züge sowohl mit dem schweizerischen als auch mit dem italienischen Stromsystem kompatibel sind. Die Kompositionen waren extrem pannenanfällig, verursachten ständig Verspätungen und es kam sogar zu Bränden an Bord, was in der tunnelreichen Schweiz besonders gefährlich ist. Nach einigen Jahren war der Ruf ruiniert (im Volksmund hiessen die Züge «Schyssalpino», nicht «Cisalpino»), denn die Züge gingen direkt von den Kinderkrankheiten zu den Altersgebrechen über und wurden ruhmlos aus dem Verkehr gezogen.
Ich dachte, dass diese Züge längst verschrottet seien. Nun tauchen sie aber auf der Strecke Athen-Thessaloniki wieder auf. Es sind genau die gleichen Züge vom Typ ETR 470 und das kam so: Während der Finanzkrise musste Griechenland überstürzt zu Geld kommen. Das Land verkaufte notgedrungen für ein Butterbrot seine Bahnen an die italienischen Staatsbahnen (man nannte das damals Privatisierung, es ist aber eher ein «fire sale»). Es folgten Streckenstilllegungen und Fahrplanverdünnungen. Auslandsverbindungen gibt es kaum mehr und die Eisenbahnorganisation OSE konzentriert sich im Wesentlichen auf die Hauptstrecke Athen-Thessaloniki, die mit grosser Verspätung elektrifiziert, begradigt und auf Doppelspur ausgebaut wurde. Die italienischen Staatsbahnen überholten nun das ehemalige Cisalpino-Rollmaterial, schickten es nach Griechenland und genau diese Züge werden nun auf der griechischen Paradestrecke eingesetzt. «Viel Glück damit», kommentierte der ehemalige SBB-Chef Benedikt Weibel diese Entwicklung.
Grüne Karte und Fährticket mitführen
Die Ferien waren praktisch zu Ende. Der letzte Tag, das letzte Bad im Meer. Und dann, auf dem Weg vom Strand ins Haus: Polizei: «Führerschein, Fahrzeugausweis, Versicherungskarte.»
Mit einem Schweizer Auto in Griechenland von der Polizei gestoppt werden ist nicht ungewöhnlich. Normalerweise wollen die Hüter des Gesetzes aber das Fährticket sehen, um zu kontrollieren, dass sich das Auto nicht zu lange in Hellas aufhält. Diesmal war es anders. Ich hatte keine grüne Versicherungskarte dabei. Das ist auch nicht obligatorisch. Aber erklären Sie das einmal einem Dorfpolizisten. Der Verdacht: Mein Auto sei nicht versichert! In Griechenland zirkulieren viele unversicherte Fahrzeuge; deshalb ist der Vorwurf nicht abwegig. Und ein Schweizer Fahrzeugausweis mit dem Vermerk, bei welcher Gesellschaft das Fahrzeug versichert ist, wurde nicht als genügend bezeichnet.
Resultat: Kontrollschilder wurden an Ort und Stelle eingezogen, Führerschein und Fahrzeugausweis auch und eine Busse von 500 Euro wurde ausgefällt, wegen Fahrens mit einem unversicherten Fahrzeug. Falls ich beweisen könne, dass das Fahrzeug versichert sei, könne ich bei der Polizei eine Einsprache gegen die Busse machen und dann die Papiere und die Nummernschilder wieder abholen.
Es war Sonntag, am Montag wollte ich abreisen, ich rief die Versicherung an, sie übermittelte das Dokument am gleichen Tag. Ich liess mich zur Polizei fahren und machte, natürlich in griechischer Sprache, eine Einsprache gegen die Busse. Nach etwa einer Stunde des Argumentierens hatte ich die Polizei davon überzeugt, dass das Fahrzeug versichert sei und konnte mich, mit Ausweisen und Kontrollschildern, zurückfahren lassen.
Fazit: In jedes ausländische Fahrzeug, mit dem nach Griechenland gefahren wird, gehört nebst dem Fährticket eine gültige grüne Versicherungskarte. Ein Fehlen dieses Dokuments ist zwar nicht illegal, kann aber zu bösen Überraschungen führen. Dass die geschilderte rabiate Vorgehensweise der Polizei dem Tourismus nicht förderlich ist, muss nicht extra betont werden.