Indien vermag den Schandfleck des 16. Dezember 2012 – die Vergewaltigung und der Tod einer 23-jährigen Studentin durch fünf junge Männer – nicht zu löschen. Der BBC-Dokumentarfilm India’s Daughter wurde letzte Woche, kurz vor dem Welt-Frauentag, verboten. Die frauenfeindlichen Aussagen eines Vergewaltigers im Film seien eine Ohrfeige für die Frauen, sagte Innenminister Rajnath Singh im Brustton des Frauenfreunds. Dann fügte er treuherzig hinzu, schade der Film dem guten Ruf des Landes. Wie das? Finanzminister Arun Jaitley klärte auf: Er könnte die Tourismus-Einnahmen schmälern.
Schon 2012 kaschierte der frauenfreundliche Diskurs einen patriarchalischen Subtext. Das Parlament hatte damals zwar rasch und entschieden reagiert. Innert drei Monaten verabschiedete es ein scharfes Gesetz gegen sexuelle Nötigung und Gewalt. Doch eine Todesstrafe für Vergewaltiger bedeutet nicht, dass der Staat fest entschlossen ist, Frauen als gleichberechtigte Bürgerinnen zu behandeln. Im Gegenteil. Der Politiker-Diskurs lautet weiterhin: Frauen brauchen den Schutz der Männer – wie die Rose, die auf Dornen angewiesen ist. Am besten seien sie geschützt, wenn sie zuhause blieben und sich züchtig schürzten.
Die Frauen – „ein bisschen mitschuldig“
Die Vergewaltigungsfälle gingen nicht zurück, im Gegenteil. Und immer wieder hörte man, Frauen seien auch ‚ein bisschen’ mitschuldig. Wie können sie nur am Abend allein ausgehen? Wie können sie sich so provokativ kleiden? ‚Zum Klatschen braucht es zwei Hände’, meinte im BBC-Film Mukesh Singh, einer der Täter. „Hätte sie sich nicht gewehrt, hätten wir sie danach laufen lassen“. Nun mussten sie eben – buchstäblich – mit dem Brecheisen dahinter.
Aussagen wie diese bewog die Regierung, den Spiegel zu zertrümmern statt hineinzuschauen (und sei’s drum, wenn gerade dieser Zensurakt den Film weltweit in einen auf Indien gerichteten Scheinwerfer verwandelt). Fast noch peinlicher waren dem Staat die Aussagen der beiden Strafverteidiger. Einer äusserte die blumige Metapher von der Rose und den schützenden Dornen. „Landet die Blume im Dreck, wird sie eben von Hunden gefressen“. Sein Kollege ging noch weiter: Hätte seine Tochter ein voreheliches Verhältnis – er würde sie eigenhändig mit Kerosen übergiessen und anzünden.
Verpönte Hosen für Mädchen
Die Aussagen dieser drei Söhne Indiens zeigen eindrücklich, dass die Konfliktlinien nicht zwischen einem sozialreaktionären Staat und einer aufgeklärten Volksmehrheit verlaufen. Das Bild der modernen, selbständigen, fachlich ausgewiesenen Bürgerin stimmt für eine relativ kleine Minderheit. Mit einer Bevölkerung von 1.2 Milliarden ist auch eine kleine Minderheit rasch millionenstark. Das mediale Bild verzerrt, gerade im Ausland, die Realität.
Nach wie vor werden mehr Buben als Mädchen geboren, mit steigender Tendenz; nach wie vor sterben signifikant mehr Mädchen im Kindsalter. Die Diskriminierung endet nicht mit der Kindheit. Ein Untersuchungsbericht über Einstellungen zum Kleidertragen stellte die Frage, ob es in Ordnung sei, wenn Mädchen in der Öffentlichkeit Hosen tragen? Nur der Mini-Staat Goa antwortete mehrheitlich mit Ja. Im Landesdurchschnitt lag die Nein-Rate bei 77%. Und ‚Shorts’? 92% waren empört.
Festhalten an konservativen Normen
Politiker wissen, aus welcher Richtung der Wind der Volksmeinung weht. Rajnath Singh brauchte wenig Mut, um den BBC-Film zu verbieten. Mut hatte dagegen Premierminister Modi gezeigt, als er vor einem Monat ausrief: „Foetizid ist eine Geisteskrankheit. Wir können uns nicht Bürger des 21. Jahrhunderts nennen, solange wir ein solches Verbrechen ausüben“. Doch als sein Innenminister den Film verbat, war ihm der Mut vergangen, und er schwieg.
Das Muster ist bekannt: Die tiefen Verwerfungen der Modernität – Globalisierung, Mobilität, Migration, Urbanisierung, Schulbildung – führen zu Verunsicherung, zum Festhalten an konservativen Normen, gerade wenn die Früchte der Modernität auf sich warten lassen. Der Staat nutzt sie und verengt die Freiheitsrechte, die eine weitsichtige Verfassung garantiert. Und in dessen Windschatten melden sich die alten Sicherheitsgaranten Religion und Kaste, um dem indischen Bürger seinen Platz zuzuweisen.
Gefängnis für ein Beefsteak im Kühlschrank
Seit einem Jahr hagelt es, sobald sich unabhängige Stimmen zu Wort melden, Verbote, Proteste, Gerichtsklagen, konservative Gesetzesinitiativen. Manche gleichen eher Realsatiren. Sie würden zum Lachen reizen, hätten sie nicht den beabsichtigten Einschüchterungseffekt: Einem Pop-Sänger drohte Auftrittsverbot in Bombay, falls er in einem Song ‚Bombay’ nicht mit ‚Mumbai’ ersetzt, der oberste Filmzensor veröffentlichte eine Liste von Tabu-Ausdrücken, darunter das Wort ‚lesbisch’.
Eine Comedy Show in Bombay wurde vor den Kadi gezerrt, weil darin mit dem Wort ‚homosexuell’ hantiert wurde. Der Bundesstaat Maharashtra erliess ein Gesetz gegen die Schlachtung von ‚heiligen’ Stieren (Kühe sind bereits geschützt). Wer mit einem Beefsteak im Kühlschrank erwischt wird, riskiert Gefängnis bis zu fünf Jahren.
Mit dem Tod bedroht
Es kann auch todernst werden. Anfangs Januar druckte ‚The Hindu’ eine Notiz, die an der Facebook-Wand des Schriftstellers und Lehrers Perumal Murugan erschienen war: ‚Perumal Murugan, der Schriftsteller, ist tot. Da er nicht Gott ist, wird er nicht mehr auferstehen. Er wird als gewöhnlicher Lehrer P. Murugan leben. Lasst ihn allein!“.
Was war geschehen? Vor vier Jahren hatte Murugan einen Roman mit dem Titel ‚Ein Teil Frau’ veröffentlicht. Er handelt von einem kinderlosen Ehepaar. Die Frau besucht den Tempel von Tiruchenode, in dem der Gott halb als Mann und halb als Frau dargestellt wird. Er wird vor allem von Paaren der lokalen Gounder-Kaste besucht, die Shiva um ein Kind anflehen. Im Roman besucht die Frau den Tempel und lässt sich von einem Fremden dort schwängern.
Das Echo auf den Roman war mässig, bis letztes Jahr die englische Ausgabe – ‚One Part Woman’ – erschien. Es kam zu Protesten. Unbekannte druckten Tausende von Flugblättern mit Passagen aus dem Buch, das Buch wurde öffentlich verbrannt. Murugan wurde mit dem Tod bedroht, musste untertauchen, es regnete Gerichtsklagen. Selbst das Facebook-Autodafé genügt den Gegnern nicht. Nachbarn, die in Murugans Abwesenheit Vorladungen eines der Gerichte annahmen, wurden mit sozialem Boykott bedroht.
Schwere Zeiten für Filmemacher
Die Rädelsführer waren bald ausgemacht – aber nicht bestraft. Denn es war eine Organisation der lokal mächtigen Gounder-Geschäftskaste, unterstützt vom RSS, dem Kaderverband der Hindu-Nationalisten. Dieser sah im Protest gegen die ‚unsittliche’ Darstellung eines Tempelrituals eine Chance, sich in Tamil Nadu einzunisten – Tiruchenode ist das kulturelle Herzland des Bundesstaats. Die Gounders sahen eine geschäftsschädigende Bedrohung ihres neuerworbenen ökonomischen Status.
Der eigentliche Feind war weder Murugan noch das Buch. Es ist Liberalität und Modernität. Wie anders wäre zu erklären, dass erst die englische Übersetzung zu Protesten führte? Tiruchenode ist zudem nicht ein abgelegenes Hinterland. Der Bezirk von Namakkal hat am meisten englischsprachige Colleges im Staat, die Stadt gilt, wegen seiner strategischen Verkehrslage zwischen Chennai, Bangalore, Madurai und Coimbatore als Trucker Capital of India. Die Botschaft war klar: Wir wollen keinen Nestbeschmutzer – Murugan ist ein Gounder – der die Vermählung zwischen ökonomischem Erfolg und Kastenstolz stört.
Schwere Zeiten für Filmemacher und Literaten. Es bleibt nur der Trost, dass ein Dokumentarfilm und ein literarisches Buch so viel Sprengkraft entwickeln können, dass sie verboten werden müssen. Und dass der Zensor ihr bester Propagandist ist.