Die Lebensbedingungen indischer Frauen sind ein wichtiges – und abschreckendes – Thema in der westlichen Sicht des Landes. Gewaltanwendung, Ehe-Schacher, das Stigma einer Mädchen-Geburt sind Missstände, die von den Medien angeprangert werden. Auch die Ausbeutung der weiblichen Arbeitskraft gehört dazu, sei es in der unbezahlten Hausarbeit oder in „typisch weiblichen“ Tätigkeiten wie Reisanpflanzen, Teepflücken, Holzsammeln, Gemüseverkaufen usf.
Die mediale Ausleuchtung solcher physischen und ökonomischen Praktiken tendiert allerdings dazu, sie als „schicksalshaft“ und unabänderlich zu beschreiben. Frauen sind tatsächlich Opfer eines ungerechten Systems, aber sie in dieser Rolle quasi zu „verewigen“ entmündigt sie, indem sie ihnen stillschweigend die Fähigkeit abspricht, auf diese Zustände kreativ und intelligent zu reagieren.
Der kürzliche Skandal des Corona-„Lockdown’, der Millionen Migranten aus ihren Jobs und Behausungen auf die Strasse trieb, warf ein Schlaglicht auf die wichtige Ökonomie der Wanderarbeit. Unausgesprochen blieb dabei, dass sie überwiegend von Männern ausgeführt wird. Das Kontrastbild zur Arbeitsmigration in die Städte sind Tausende von Dörfern, die aus Frauen-Haushalten bestehen.
Zwar führen Männer das grosse Wort, aber ...
Wer je mit Entwicklungsarbeit im ländlichen Indien in Berührung gekommen ist, weiss, dass vorwiegend Dorffrauen Überleben und Zusammenhalt der Familie sicherstellen. Sie üben oft auch Funktionen aus, die dasselbe für das Dorf oder einen Slum tun.
Das patriarchalische System stellt sicher, dass (ältere) Männer im Dorfrat immer noch das grosse Wort führen. Aber es sind oft Frauen, die sicherstellen, dass Strassen oder verstopfte Abwässer gereinigt werden, dass Lehrer in der Schule präsent sind, oder dass ein gemeinsamer Transport organisiert wird, um im nächsten Markt das Gemüse zu verkaufen.
Für NGOs sind Frauen die natürliche und erfolgversprechende Zielgruppe, wenn sie Interventionen planen, die auf die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage oder der sozialen Infrastruktur abzielen. Sie reagieren meist enthusiastisch auf Impulse zur Gruppenbildung und -solidarität, und es ist leichter, Frauen mit Leadership-Talent zu finden als Männer.
Frauen, die Kleinstunternehmerinnen
Ich bin auch schon Frauengruppen begegnet, die sich ohne Impuls oder Führung von aussen gebildet haben. Ich denke etwa an eine Gruppe muslimischer Frauen im Indiranagar-Slum in Mumbai. Sie bildete sich als Kontaktstelle für den heiklen Umgang mit dem lokalen Polizeiposten, wenn es darum geht, bei Missständen häuslicher oder gemeinschaftlicher Art an den Staat zu appellieren. Um nicht einfach als hilflose Bittsteller dazustehen, bot die Gruppe der Polizei an, ein waches Auge über kriminelle Tätigkeiten im Slum zu halten und diese zu melden.
Die soziale und psychologische Mobilisierung der Frauen wird substantiell verstärkt durch die Notwendigkeit, sich auch ökonomisch abzusichern. Die Armut macht die Not zur Tugend. Die Lohnüberweisungen der Männer von ihrem städtischen Job sind oft ungenügend – oder bleiben zwischendrin ganz aus. Viele Frauen sind daher Kleinstunterehmerinnen, die eine Lücke ausfindig machen, um hie und da einen Geldschein in der Bambusröhre in der Decke ihrer Hütte zu verstecken.
Energie und Erfindungsreichtum sind allerdings wenig wert, wenn sich die strukturellen Bedingungen des traditionellen Rollenzwangs nicht verändern. Wenn Mädchen bei der Gesundheitsversorgung und Nahrung vernachlässigt werden, wenn sie beliebig aus der Schule genommen werden, um die Geschwister zu hüten, oder wenn sie mit sechzehn verheiratet werden und mit zwanzig bereits zwei Kinder haben – dann wird soziale und ökonomische Handlungsfähigkeit im Keim erstickt.
Mädchen haben bessere Noten als Knaben
Der intergenerationelle Teufelskreis als Folge kann nur von aussen durchbrochen werden. Am wirksamsten tut dies die Schulbildung. Seit zwölf Jahren ist sie ein einklagbares Grundrecht. Dies hat dazu geführt, dass heute die überwiegende Mehrheit der Kinder – 94 Prozent – eingeschult werden, sowohl Mädchen wie Knaben.
Zwei Statistiken sind für Mädchen noch relevanter. Es ist einmal die stark gesunkene Zahl von Drop-outs, gerade in der unteren Primarstufe, meist als Folge häufiger Abwesenheit wegen familiären Pflichten. Allein das Erreichen der achten Klasse gibt vielen Mädchen inzwischen so viel Selbstvertrauen, dass immer mehr von ihnen den Sprung in die Realstufe anstreben – und schaffen.
Die schulische Zäsur fällt altersmässig zusammen mit der Geschlechtsreife. Sie ist deshalb für viele Eltern der Anlass zu verstärkter Umsorgung (bzw. Kontrolle) des Mädchens. Damit haben sie einen Grund, sie nach Hause zu nehmen und auf ihr Leben als Hausfrau vorzubereiten. Auch hier zeigt die Statistik, dass immer mehr Mädchen gegen den Widerstand der Eltern mit dem Schulbesuch fortfahren. Was deren Widerstand meistens bricht, ist die ebenfalls interessante Statistik, dass Mädchen im Schnitt bessere Noten haben als Knaben.
Fortschrittlichere Frauen
Der Anlass für diese Überlegungen ist eine vor kurzem veröffentlichte Studie über Einstellungen von Frauen und Männern (je 10’000) im städtischen Indien, das inzwischen 40 Prozent der Bevölkerung abdeckt (183 Städte wurden einbezogen; die Resultate sind also für Gesamtindien nur beschränkt aussagekräftig). Die Fragen sollten Einstellungen zu Heirat und Ehe, Berufsausübung, Sozialbeziehungen und politischer Mobilisierung freilegen.
Zum Erstaunen der Meinungsforscher lagen die meisten Antworten von Männern und Frauen nahe beieinander. Sie widerlegten damit die Hypothese, dass die Männer dank ihrem privilegierten Zugang zu gesellschaftlichen Gütern – Partnerwahl, Berufswahl, sozialer Radius – weniger traditionsgebunden sind als die Frauen. In einzelnen Bereichen waren die Frauen „fortschrittlicher“ als die männlichen Testpersonen.
Zwei Drittel in beiden Kohorten sehen die Ehe als vorrangiges Ziel, und eine überwältigende Gesamtmehrheit von 91% wollen nicht mehr als 1 bis 2 Kinder. Aber mehr Frauen (70%) als Männer (62%) bevorzugen eine Liebesheirat oder zumindest Partner ihrer persönlichen Wahl.
Frauen sind offener, je jünger sie sind
Auch bei der Berufswahl sind die Ansichten zwischen den Geschlechtern sehr ähnlich (eigene Firma an erster Stelle, gefolgt von IT, dann öffentlichem Dienst). Die Forscher interpretieren diese Präferenzen als eine bemerkenswerte Schwächung geschlechtsspezifischer Prägung des Berufs. Nur bei den Gesundheitsberufen oder der Arbeit in NGOs wollen signifikant mehr Frauen als Männer diese wählen.
Interessant sind auch die Präferenzen bei der Frage, ob man eher Freundschaftsbeziehungen mit Mitgliedern der gleichen Kaste oder Religion pflegen möchte oder solche ohne Kasten- und Religionsgrenzen. Beide Gruppen sind eindeutig gegen eine Kasten/Religionswahl – im Verhältnis von 1:5. Wiederum sind es aber die Frauen, die ihre Peers in dieser Option ausstechen: Nur 13% ziehen Kastenfreundschaften vor, gegenüber 20% bei den Männern. Und sogar nur 18% der Frauen suchen exklusive Frauenfreundschaften, im Gegensatz zu ihren männlichen Geschlechtsgenossen, bei denen jeder Vierte ausschliesslich Männerfreundschaften pflegen möchte.
Ein Ergebnis, das nicht weiter interpretiert wird, aber interessante Indizien verbergen könnte: Männer sind offener, je älter sie sind, Frauen sind offener, je jünger sie sind.
Weniger Frauen in Lohnberufen
Unerklärt bleibt auch eine beunruhigende Entwicklung: Obwohl Frauen inzwischen bei der höheren Bildung bessere Studienabschlüsse erreichen als Männer, schlägt sich dies nicht in einem steigenden Anteil berufstätiger Frauen nieder. Im Gegenteil: Der Trend ist gegenläufig, und inzwischen ist der Anteil der Frauen in Lohnberufen auf unter 30 Prozent gesunken.
Der Verdacht steht im Raum, dass immer mehr Inderinnen zwar einen Beruf erlernen wollen; aber just im Augenblick des Eintritts in den Arbeitsmarkt wächst der soziale Druck – und der eigene Wunsch – für Heirat und Kinder.
Auch bei der politischen Mobilisierung sind die Frauen inzwischen offener als Männer – allerdings nur beim Interesse an Fragen und Problemen des Gemeinwesens. Wenn es darum geht, auch in den politischen Prozess einzugreifen – durch Partei-Mitgliedschaft oder politische Proteste – sind die Frauen allerdings zurückhaltender als die Männer.
Aber dies ist wohl nur eine Frage der Zeit. Bei den Kundgebungen im letzten Winter gegen ein diskriminierendes Bürgerrechtsgesetz waren es Frauen, die ihre Sitzstreiks über Monate durchhielten.