Am Freitag begann die erste von sieben Wahlphasen für die Bestellung des 18. Parlaments. Premierminister Modi geht als haushoher Favorit ins Rennen. Doch seine Zielvorgabe ist ambitiös. Trotz seiner immensen Popularität könnte die Politisierung der Religion viele Hindus irritieren.
Wahlen sind, so heisst es, das Fest der Demokratie. In diesem Sinn könnte man folgern: Indiens Parlamentswahl ist das Festival der Demokratie. Statt an einem Tag wird sie – über sechs Wochen lang – in sieben Phasen durchgeführt. Sie ist auch das grösste Festival der Welt, und in diesem Fall, aller Zeiten: Noch nie wurden über 950 Millionen Menschen an die Urnen gerufen (darunter die neunzig Millionen, die seit der letzten Wahl von 2019 achtzehnjährig geworden sind), um 543 Abgeordnete auszulesen.
1,2 Millionen Wahllokale
Es ist die achtzehnte Wahl, die Indien durchführt. Seit der ersten Wahl von 1951 haben Frauen das volle Stimmrecht. Bereits 1951 – vier Jahre nach der Unabhängigkeit und ein Jahr nach Verabschiedung der Verfassung – war eine Frau eine der drei «Election Commissioners». (Als ein Schweizer Diplomat im Vorfeld der Aufnahme diplomatischer Beziehungen Indien bereiste, um dessen Bürgern den Vorbildcharakter der eidgenössischen «direkten Demokratie» nahezubringen, wurde er immer wieder gefragt, warum den Schweizerinnen der Zutritt zu den Wahllokalen versperrt sei).
Inder haben den Ruf, eine ungerade Zahl auch mal als gerade stehen zu lassen. Aber wenn es um die grossen Zahlen geht, dann sind sie Weltmeister – welche Sprache neben Sanskrit hat schon eine eigene Einheitsbezeichnung für «zehn Millionen», für «hundert Millionen» und für weitere elf Einheiten danach?
Zum leichthändigen Gebrauch der Zahlen mit vielen Nullen gesellt sich die Fähigkeit, mit Mega-Events umzugehen. Wenn selbst die Zahl der 100+-jährigen Wähler 250’000 übersteigt, wird Logistik zentral. Denn das Wahlgesetz schreibt zudem vor, dass jeder Bürger nicht mehr als 1,5 km bis zum nächsten Wahllokal zu gehen braucht. Etwa 1,5 Millionen Beamte sind im Wahlprozess tätig, um die 1,2 Millionen Wahllokale instand zu setzen, zu sichern und am Wahltag zu kontrollieren.
Rollstühle für Betagte und Behinderte
Dazu gehören nicht nur Rollstühle für die Methusalems. Als genügten die schieren Zahlen allein nicht, finden Wahlen normalerweise in der heissen Jahreszeit statt, wenn das Thermometer (wie etwa zurzeit in Mumbai) bereits im April vierzig Grad Celsius anzeigt. Der lokal zuständige «Commissioner» muss also dafür besorgt sein, den Wählerinnen in allen 2500 Wahllokalen der Stadt schattenspendende Vordächer – Zeltplanen oder Blechkonstruktionen – anzubieten.
Immerhin kann ein lokaler Wahl-Commissioner nicht nur auf die riesige Zahl von Staatsbeamten zugreifen (im Notfall sogar auf das Militär); er kann auch damit rechnen, dass sich die Zivilgesellschaft als Sukkurs anbietet, etwa für das Angebot von Trinkwasser, zur Bedienung der Rollstühle, oder für Personen, die ihre Wählerkarte zuhause vergessen haben und einen Motorrad-Kurier ansprechen können.
Nur für die disziplinierte Einhaltung der langen Warteschlangen braucht es keine Ordnungshüter. Man ist fast stolz, in der brütenden Hitze stundenlang anzustehen, als genösse man diesen einen Akt demokratischer Partizipation. Für viele der Millionen Armen ist es auch der einzige souveräne Akt, der ihnen nicht streitig gemacht wird. Denn Indien hatte sich nach 1947 nicht nur für das demokratische «Westminister»-Modell entschieden. Für wesentliche Aspekte der staatlichen Institutionen war das koloniale Modell des Obrigkeitsstaats und dessen Abschottung vom Volk das Vorbild.
Kein Schönheitswettbewerb, sondern Kampf um Macht
Umso wichtiger ist es für den demokratischen Staat, nicht nur dem Buchstaben der Legalität zu folgen. Auch die demokratische Legitimität gilt es zu erhalten. Das Wahlgesetz gibt dem Triumvirat der drei nationalen Election Commissioners eine weitgehende Autonomie, die fast so weit wie die des Obersten Gerichts geht. Sie können über den gesamten riesigen Staatsapparat verfügen. Bereits im Februar wiesen sie die Regierung an, alle Obersten Beamten der 603 Bezirke Indiens sofort zu ersetzen, wenn sie mehr als zwei Jahre dort ihr Amt ausgeübt hatten.
Es war eine Novität und sollte der weitverbreiteten Volksmeinung begegnen, die – aus eigener Erfahrung – als selbstverständlich annimmt, dass Beamte korrupt sind. Der vielgerühmte Einsatz des Staats trägt auch dessen Schwächen in den Wahlprozess. Denn eine Wahl ist ja nicht ein Schönheitswettbewerb. Es ist eine Entscheidungsschlacht. Und deren Sieger sitzen nicht einfach im Parlament und machen Gesetze im alleinigen Interesse des Landes. Sie sind auch der Lobbyarbeit privater Unternehmen und Personen ausgesetzt, die – wenn es denn schon Gesetze geben muss – diese möglichst kostengünstig haben wollen.
Undurchsichtige Wahlkampf-Finanzierung
Natürlich hat das Wahlgesetz auch in diesem Fall hohe Mauern errichtet, damit sich der Wählerwille ungefiltert in der Zusammensetzung des Parlaments abbildet. Aber wie in vielen Ländern gibt es auch in Indien keine klare Regelung der Wahlfinanzierung. Im Gegenteil; das zugelassene Budget einer Kandidatin lag immer schon lächerlich viel tiefer als die Kosten des Wahlkampfs. Und mit dem Wirtschaftswachstum der letzten Jahre hat sich der Graben noch ausgeweitet.
Die Verabschiedung eines entsprechenden Gesetzes durch die Modi-Regierung im Jahr 2017 hat den Korruptionsverdacht statt zu beseitigen weiter verhärtet. Statt die Politiker mit Cash zu beeinflussen, dürfen sie nun Parteien legal unterstützen – bleiben aber anonym, ausser für die Beschenkten, die sich dann erkenntlich zeigen werden. Gerade noch rechtzeitig vor der Wahl folgte der Supreme Court im März einer Petition aus der Zivilgesellschaft, die diese Legalisierung einer korrupten Einflussnahme als verfassungswidrig vom Tisch wischte.
Trotz dieses Entscheids – er kann die anstehende Wahl ohnehin nicht mehr beeinflussen – bedauert ihn der Premierminister in seinen Wahlreden weiterhin. Er verletzt damit den «Model Code of Conduct» für jeden Kandidaten. Modi wurde von der Wahlkommission jedoch nicht zurechtgewiesen oder gar bestraft. Die Verulkung des Gegners, etwa Rahul Gandhi von der Kongresspartei, gehört zu jedem demokratischen Schlagabtausch. Doch die Seitenhiebe gegen muslimische Minderheit sind eine offene Herausforderung der Wahlkommission (und der Verfassung), genauso wie die X-Twittermeldung am Tag vor der ersten Wahlrunde am Freitag: Neben der Aufforderung zur Wahl steht die Gestalt von Gott Ram.
Modi will eine Dreiviertelmehrheit
Dabei hat Narendra Modi eigentlich nichts zu befürchten. Er geht als haushoher Favorit ins Rennen, und selbst seine Gegner scheinen sich mit einem BJP-Sieg abzufinden. Aber Modi wäre nicht dieser begnadete Wahlkämpfer, wenn er sich die Latte nicht selber höher setzen würde. Nicht eine simple Mehrheit soll es werden – sondern eine Dreiviertelmehrheit, die zusammen mit den Stimmen des Oberhauses genügen würde, die Verfassung zu ändern.
Solche Nadelstiche gegen das Wahlrecht, die von der Wahlkommission offenkundig hingenommen werden, nähren bei der Opposition das Misstrauen gegen die neubestellte Wahlkommission. Einsprachen, wonach die elektronischen Wahlgeräte (EVMs) manipulierbar seien, hat sie zurückgewiesen. Auch den Vorschlag eines zusätzlichen «Paper Trail» für jeden Wahlzettel, um mit Zufallsproben jeden Verdacht auszuschliessen, lehnte die Kommission als unverhältnismässig ab.
«There is safety in numbers» lautet die englische Redensart. Dies mag auch für eine Wählerschicht in beinahe vierstelliger Millionenzahl zutreffen. Sie macht selbst zahlreiche Regelverstösse vernachlässigbar. Zudem zeigt die Energie, mit der sich Modi in jede Wahlveranstaltung wirft, dass er das Wahlvolk, so sehr es ihn verehrt, nicht einfach als sichere «Stimmen-Bank» abhaken kann. Er kann es sich ohne weiteres leisten, die Grenzen der Legalität zu sprengen; aber bei der «Legitimität» sieht es vielleicht etwas anders aus.