Für manche Beobachter wackeln die Grundfesten von Indiens Demokratie. Bis das Ereignis einer ungewöhnlichen Präsidentschaftswahl diese Befürchtung wieder zerstreut. Doch tut sie dies?
Am Montag wählten die beiden Kammern des Indischen Parlaments eine neue Staatspräsidentin. Nach 75 Jahren Unabhängigkeit und vierzehn Vorgängern ist die Gewählte, Droupadi Murmu, erst die zweite Frau in diesem Job. Noch wichtiger: Murmu ist die erste Vertreterin der Adivasi, wie die über 700 Stammesgemeinschaften in Indien heissen.
Politische Intelligenz
Dass es eine Frau aus der ostindischen Santhal-Bevölkerung ist, die dieses Amt nun mindestens fünf Jahre bekleiden wird, ist dabei weniger erstaunlich als der lange Weg, den die 64-jährige Witwe zurückgelegt hat. Auch in Indien geniessen Frauen in ihren Stammesgruppen weit mehr Rechte als in der Kastengesellschaft. Aber dass ein Mädchen aus einer der ärmsten Regionen Indiens – dem Mayurbhanj-Distrikt im westlichen Odisha, wie Orissa heute heisst – den Weg ins höchste Staatsamt findet, ist selbst für eine reife Demokratie ausserordentlich.
Dennoch – ohne den demokratischen Prozess wäre die 64-jährige Witwe kaum dort gelandet. Als erstes Mädchen in ihrem Dorf (und aus ihrer Familie) ging sie zur Schule. Dies allein prädestinierte sie dafür, kaum hatte sie acht Schuljahre hinter sich gebracht, als Hilfslehrerin angestellt zu werden. Und auch wenn sie Jahre später nur als «Quotenfrau» Gemeinderätin wurde – die Plattform genügte, um ihre politische Intelligenz zu wecken und sich als Verfechterin sozialer Rechte zu profilieren.
Eigenständigkeit
Der nächste Schritt war die Wahl in den Regionalrat, darauf das Provinzparlament, nachdem sie der BJP beigetreten war – wohl weniger aus ideologischen Gründen, sondern weil sich die Partei in Opposition zu beherrschenden Regionalpartei in Odisha für Minderheitenrechte stark machte. Als beide Parteien später eine Koalition eingingen, wurde Murmu ins Provinzkabinett berufen – nun kaum mehr nur als eine der wenigen Stammespolitikerinnen, sondern weil sie sich als Kämpferin für die Rechte der Adivasis hervorgetan hatte.
2010 zog sie sich aus persönlichen Gründen – sie hatte in kurzen Abständen ihren Ehemann, ihren Bruder und zwei Söhne verloren – aus der Tagespolitik zurück. Im Jahr 2015 berief die neue Regierung unter Narendra Modi Droupadi Murmu zur Gouverneurin von Jharkhand, einem der beiden indischen Bundesstaaten mit einem grossen Bevölkerungsanteil von Adivasis.
Wie das Amt des Staatspräsidenten hat der Gouverneursposten weitgehend symbolisches Gewicht. Als oberste Staatsvertreterin muss die Gouverneurin aber jedes Gesetz absegnen. Murmu bewies ihre Eigenständigkeit, als sie ein Gesetz ans Lokalparlament zurückverwies, obwohl ihre eigene Partei dort am Ruder war. Als sich Murmu 2021 ins Privatleben zurückzog, hatte sie wohl nicht mit dem Spürsinn des Premierministers gerechnet.
Kampf um Rechte
Dieser Werdegang der fünfzehnten Staatspräsidentin Indiens suggeriert eine Geradlinigkeit, wie sie in westlichen Demokratien immer wieder vorkommt. Im Fall dieser Adivasi-Frau ist sie alles andere als selbstverständlich. Zwar räumt die Verfassung den Ureinwohnern (wie auch den Dalits) spezielle Vorrechte ein, etwa für den Staatsdienst und den Zugang zu Bildungsinstitutionen. In der Realität sind die rund 120 Millionen Adivasi (rund 8,6 Prozent der Bevölkerung) die am stärksten marginalisierte Gesellschaftsgruppe des Landes.
Bereits die englischen Kolonialherren hatten sich den Umstand zunutze gemacht, dass die Stammesregeln keinen Privatbesitz kennen und ebenso wenig eine dokumentarische legale Basis ihres extensiven Landbesitzes. Die Stammesgegenden wurden kurzerhand als Staatsbesitz reklamiert und dienten als Ressourcenlieferanten – zuerst von Hölzern, und im Zug der Industrialisierung von mineralischen Rohstoffen. Die Adivasi wurden zu illegalen «Besetzern» ohne politische Rechte, ein riesiges, gefügiges Arbeitsreservoir.
Den Verfassungsautoren des unabhängigen Indiens bot sich die Chance, dieses Unrecht zu beseitigen. Doch sie anerkannten nur ihren Status als Bürger, mit den besagten «Quoten» als Zückerchen. Es brauchte beinahe sechzig Jahre, bis ihre traditionellen Rechte auf Land und Wasser restituiert wurden. Doch immer noch sind sie die am stärksten marginalisierte Bevölkerungsgruppe Indiens, ein Mündel quasi, das in seiner Unmündigkeit belassen wurde.
Vernachlässigung der Ureinwohner
Dies zeigt sich sowohl in politischen Auseinandersetzungen wie in ökonomischen Programmen. Die maoistischen Untergrundbewegung – in Indien unter dem Sammelbegriff «Naxaliten» bekannt – machten sich die kaum erschlossenen Rückzugsgebiete namentlich in Zentralindien zunutze, um sich der Staatsgewalt zu entziehen und ihre revolutionären Kampagnen zu planen. Adivasi-Gruppen wurden für sie zu willkommenen Rekrutierungsbasen – und dies machte sie für den Staat zu Kollaborateuren der Terroristen. Erst vor einer Woche wurden mehrere Dutzend Adivasi nach sieben Jahren Untersuchungshaft ohne Anklageerhebung entlassen. Sie waren routinemässig verhaftet worden, nur weil ihr Dorf in der Nähe eines Naxaliten-Hinterhalts lag, bei dem Regierungssoldaten ums Leben kamen.
Dieselbe Vernachlässigung von Anliegen der Ureinwohner zeigt sich in der ökonomischen Gesetzgebung. Schon Indiens erster Premierminister Jawaharlal Nehru hatte mit den Adivasi folkloristisch fraternisiert, deren Landrechte aber auf dem Altar des industriellen Ressourcenabbaus geopfert. Alle folgenden Regierungen, einschliesslich jener der BJP, hielten sich an dieses paternalistische Regelbuch. Wie Nehru liebt es Modi im Stammeskostüm als gütiger Landesvater zu posieren, als genügte dies, um die Schürf-Konzessionen für Industriekonzerne für ganze Landstriche zu rechtfertigen – über die Köpfe der Adivasi hinweg und ohne Royalties für die Nutzung ihres Landes.
Politische Emanzipation
Die Ernennung einer Adivasi als Präsidentschaftskandidatin durch Premierminister Modi kann als ein erster Schritt in der politischen Emanzipation dieses «Mündels» willkommen geheissen werden. Aber es kann ebensogut der Symbolpolitik zugeordnet werden. Zweifellos steckt auch Wahlkalkül dahinter. Obwohl nur knapp zehn Prozent der Bevölkerung, weisen die Stammesgruppen in zahlreichen Wahlbezirken mehrerer Bundesstaaten relative Bevölkerungsmehrheiten auf – in einem Majorz-Wahlsystem mit zahllosen Parteien gewiss eine potente Trumpfkarte.
Zudem war Modis Schachzug ein Meisterstück im parlamentarischen Schlagabtausch. Einmal mehr gelang es ihm, die Oppositionsparteien in die Enge zu treiben und ihre Zersplitterung vor der Öffentlichkeit blosszulegen. Zwar einigten sich die BJP-Gegner mit dem Ex-BJP-Finanzminister Yashwant Sinha auf einen valablen Gegen-Kandidaten. Aber selbst dessen Profil verblasste vor der Symbolkraft von Murmus Kandidatur. Mehrere Kleinparteien stimmten für sie, andere übten Stimmenthaltung.
Langfristige Strategie Modis
Ist dies ein weiteres Beispiel für Modis Spiel mit politischer Symbolik als Samthandschuh um die geballte Faust? Es wäre gefährlich, Modi nur taktisches Kalkül zu unterschieben. Wie BJP-nahe Kommentatoren nach der Wahl betonten, ist Modis «Hattrick» in Wahrheit wohlüberlegter Bestandteil einer langfristigen Strategie, marginalisierte Gruppen als Akteure in den gesellschaftlichen Prozess einzubringen. Bereits der letzte Präsident war ein Dalit gewesen – erst der zweite in 70 Jahren.
Modi stellt sich damit einmal mehr gegen die «verwestlichten» Eliten, die bisher die Macht unter sich aushandelten, während sie für die «Subalternen» bloss Lippenbekenntnisse übrig hatten. Mit der Einbindung in seine «Volkspartei» kann er nicht nur mit Stimmen rechnen. Es erlaubt ihm auch, das Hindutva-Projekt weiterzuverfolgen, das diverse «indische» Glaubensbekenntnisse auf eine quasi monotheistische Hindu-Identität trimmt (sodass am Ende nur die Muslime ausgegrenzt bleiben). Die Wahl von Droupadi Murmu ist zweifellos ein wichtiger Schritt in dieser sowohl politischen wie ideologischen Integration.
Ob sich die Mehrheit der Adivasi einer weiteren Instrumentalisierung als Schachfiguren fügen werden, ist dennoch nicht sicher. Ökonomisch bleiben sie eine Manövriermasse, die den Zielen einer forcierten Industrialisierung durch Staat und Grossunternehmen untergeordnet ist. Und die Entsakralisierung ihrer Lebensräume – die auch symbolische Gefässe ihrer Glaubensformen sind – bleibt eine kulturelle Wunde, die das «Heftpflaster» eines Präsidentschaftspostens nur übertüncht.