Vor zehn Tagen kam es am frühen Morgen bei einem Kreisel im Regierungsquartier von Delhi zu einem Verkehrsunfall. Ein Auto fuhr seitlich in einen Suzuki 4X4 hinein. Der Passagier im Fonds des Suzuki schien verletzt, und sein Fahrer raste mit ihm ins AIIMS-Krankenhaus, keine zwei Kilometer davon entfernt. Bei der Ankunft konnten die Aerzte nur noch den Tod des Manns feststellen.
Es wäre ein Alltagsereignis geblieben, wäre das Opfer nicht Gopinath Munde gewesen, ein Politiker, der nur eine Woche zuvor ins Kabinett von Narendra Modi berufen worden war. Sein Auto war zum Flughafen und von dort zu seinem Wahlkreis unterwegs gewesen, wo er für Wahlsieg und das neue Ministeramt gebührend gefeiert werden sollte.
Eine Hunderter-Note bereit
Dennoch war der Unfall insofern alltäglich, weil er sich jeden Tag durchschnittlich ca. 360 Mal wiederholt. Inzwischen hat Indien China als Weltmeister in Autounfällen mit Todesfolge abgelöst – 2012 betrug die Statistik 132’000 Opfer. Für Unfälle ohne Tote gibt es keine verbindlichen Zahlen, da viele gar nicht gemeldet werden. Man fürchtet sich vor Scherereien mit der Polizei; zudem nützen Polizei-Rapporte oft wenig, denn Versicherungen zahlen nicht, wenn die Fahrer fahrlässig handeln.
Und das tun sie oft. Eine Mehrzahl von Motorradfahrern trägt immer noch keinen Helm, und Mitfahrer ohnehin nicht, von (Mit-)Fahrerinnen ganz zu schweigen. Dafür haben viele eine Hunderter-Note bereit, für den Fall, dass sie in eine Kontrolle geraten. Dasselbe gilt für die Sicherheitsgurten. Ein grosser Teil der Fahrzeuge in den indischen Städten wird von Berufschauffeuren gelenkt. Der Besitzer sitzt im Fonds und fühlt sich sicher. Sein Fahrer?...nun, das ist dessen Verantwortung.
Der letzte Ambassador
Die meisten Fahrer haben ihr Handwerk noch in den alten Ambassadors gelernt, und dort gab es Sitzbänke statt Sitze, sodass die Gurtenklemmen meist unter den Schutzdecken zugedeckt wurden. Eine weitere Eigenart, die sie sich beim Ambassador angeeignet hatten, war das langsame Fahren. Es waren alte Motoren ohne Beschleunigungsmoment, die Schaltungen gingen schwer, und in den Kurven gaben die langen Sitzbänke keinen Seitenhalt.
Doch letzte Woche lief der letzte Ambassador vom Band, und bald einmal wird man sie nur noch in Oldtimer-Rennen sehen – wofür sie sich sofort qualifizieren dürften, denn sie wirkten immer schon am ersten Tag alt. Das gemächliche Ambassador-Fahren änderte sich fast von einem Tag auf den anderen, als mit der Liberalisierung der Wirtschaft auch in der Autoindustrie plötzlich das technologische Zeitalter anbrach. Der technische Wandel punkto Stärke, Komfort und Geschwindigkeit hatte sich in den Industrieländern über Generationen eingebürgert – in Indien kame er praktisch über Nacht.
50 % Steuern auf einen Autokauf
Wen wundert’s, dass Autofahren nach der Verdrossenheit des Ambassador-Erlebnisses im Handumdrehen lustvoll-gefährlich wurde. Meist nimmt das Vergnügen ein rasches Ende, wenn die Millionen von Neuwagen auf denselben alten Strassen in endlosen Kolonnen und Verkehrsknäueln steckenbleiben. Es sei denn, man habe eine Formel Eins-Strecke in Form einer neuen Autobahn vor der Türe. Auf dem ‘Expressway’ zwischen Bombay und Pune zum Beispiel kann man sich mit ein bisschen Achterbahn-Feeling aufpumpen. Auch dort landet man dann, wenn man’s zu bunt treibt, im Heck eines überbeladenen Lastwagen, der mit zehn Stundenkilometern die Ghats hinaufkriecht.
Die Explosion des motorisierten Verkehrs in Indien wurde möglich, weil die grossen Weltmarken – VW, Suzuki, Toyota, Ford, Hyundai etc. – ihren Erstkunden die neuesten Motoren und Getriebe liefern, ihnen aber die dafür nötigen Sicherheitseinrichtungen vorenthalten, damit sie preisgünstig bleiben. Der Staat zwingt sie dazu, gleich auf doppelte Weise: Er hat immer noch viel der laxen Sicherheitsregeln aus dem Ambassador-Zeitalter. Gleichzeitig erhebt er auf jedem Autoverkauf exorbitante Steuern von rund 50 Prozent, die jede Preiskalkulation über den Haufen werfen.
In die Testmauern gekracht
Das Publikum horchte letztes Jahr kurz auf, als die britische Sicherheitsbehörde für Neuwagen fünf indische Kleinautos einem ‘New Car Assessment Programme’ (NCAP) unterzogen. Alle Modelle – Suzuki Alto, Hyundai i10, Tata Nano, VW Polo, Ford Figo – bekamen Null von fünf Punkten. Sie krachten in die Testmauern und kollabierten, mit ‘high risks of life-threatening injuries to occupants’. VW Polo und Ford Figo hatten um eine Spur robustere Fahrgestelle, aber ohne Airbags gefährdeten auch sie bei einem ‘Frontalen’ das Leben der Insassen.
Nur VW beschloss darauf, vorne zwei Airbags als Standardbestandteile einzubauen. Die anderen beriefen sich darauf, die indischen Standards bereits einzuhalten. Der VR-Präsident von Suzuki Indien, R.C.Bhargava, war kurz angebunden:“Befolgen wir globale Sicherheitslimiten, können sich die meisten indischen Käufer kein Auto mehr leisten. Sie müssen aufs Zweirad zurück – ist das etwa sicherer?”. “Stimmt nicht”, replizierte darauf der Automobilexperte Dinesh Mohan. “Airbags, ABS und Scheibenwischer hinten kosten nicht mehr als 20’000 Rupien”, also etwa fünf Prozent eines dieser Kleinwagen.
Verkehrsregeln – eine Opotion
Auch die Strassen tragen zur Unfallträchtigkeit bei. In ihrer grossen Mehrzahl wurden sie nicht für Autos gebaut, sondern für Fuhrwerke. Ich bin bei meinen Reisen in Indien immer wieder auf Nebenstrassen unterwegs. Sie sind oft in schlechtem Zustand – aber gefährlich werden sie erst dann, wenn sie mit guten Belagen und Markierungen versehen sind. Es sind die Trassen uralter Verkehrswege, wo früher Kutschen und Ochsengespanne verkehrten, mit engen Kurven, die jede Bodenerhebung umgehen. Für Fahrzeuge, die in fünfzehn Sekunden von Null auf Fünfzig beschleunigen, sind sie Todesfallen.
Die grösste Gefahr kommt aber immer noch vom Fahrer. Für einen Grossteil der Automobilisten sind Verkehrsregeln immer noch eine Option, kein Gebot. Wie in anderen Lebensbereichen sind sie brav und folgsam, wenn die Polizei irgendwo lauert. Aber es fehlt ihnen quasi das individuelle ‘Über-Ich’, das einen Autofahrer auch dann bei Rot warten lässt, wenn von der Gegenseite kein Verkehr kommt. Einbahnstrassen werden durchfahren, Geschwindigkeitslimiten gar nicht wahrgenommen. Selbst Fahrradfahrer, neben Fussgängern die am meisten gefährdete Verkehrs-Spezies, kurven aus Seitenstrassen in eine Schnellstrasse hinein, als scherten sie sich einen Deut um ihr Leben.
Eine Wagenkralle – selbst montiert
Der Staat reagiert auf das rasende Wachstum von Fahrzeugen und Passanten auf den Strassen hilflos. Er montiert auf Autobahnen Temposchilder, deren Limit so irreal ist, dass sie gar nicht wahrgenommen werden, weil die Autos mit hundert daran vorbeiflitzen. Und da die Polizei korrupt ist, macht man sich einen Sport daraus, sie zu überlisten. Mein Schwager erzählt mir von einem Geschäftsfreund, der eine Wagenkralle der Polizei im Auto mitführt. Wenn er illegal parkiert, heftet er einfach seine Kralle ans Rad. Jede vorbeifahrende Polizeipatrouille meint befriedigt, ihre Kollegen hätten wieder einen Parksünder erwischt – und lässt den Wagen in Ruhe.