Lockdown or Lock-up?, so bezeichnete ein Blogger aus Mumbai sein Dilemma. Der „Lock-up“ soll den Hausarrest aufheben, Menschen und Wirtschaft wieder aufatmen lassen. Doch im Wort schwingt ja auch die umgangssprachliche Bedeutung von „Lock-up“ mit, die bekanntlich „Haftanstalt“ und „Polizeigewahrsam“ meint.
Brandbeschleuniger statt Löschwasser
Nach zehn Wochen im Quarantäne-Klammergriff kann der Staat damit nicht fortfahren, will er nicht riskieren, dass die ökonomischen Kosten selbst die schlimmstmögliche Ausbreitung des Virus weit hinter sich lassen. So dekretierte er nun eine allmähliche, vierstufige Lockerung. Beziehungsweise eine fünfstufige. Denn gleichzeitig mit der Aufhebung des Lockdown wurde ... dessen fünfte Verlängerung dekretiert.
Wen wundert’s, dass auch dieser Schritt zu spät – und gleichzeitig zu früh kommt. Der Grund liegt in der Wahl der Strategie, die zur Feuerbekämpfung statt Löschwasser Brandbeschleuniger einsetzte. Der Lockdown hatte die Arbeiter aus ihren Arbeitsstätten verbannt, konnte sie aber nicht zuhause einsperren, da viele Millionen ein solches gar nicht haben.
Die Quarantäne bewirkte damit das Gegenteil ihres Zwecks. Sie erlaubte zwar die hastige Bereitstellung von Notfallstationen. Sie machte aber auch Millionen zu Flüchtlingen und stellte damit die Weichen für eine noch grössere Überlastung dieser Notfalleinrichtungen. Letzte Woche gab die Regierung erstmals eine offizielle Zahl bekannt: Im Mai waren 80 Millionen Menschen auf der Strasse; inoffiziell wird die Zahl auf das Doppelte geschätzt.
Wirrwar im Eisenbahnnetz
Immerhin traf die Modi-Regierung, gemassregelt vom Obersten Gericht, endlich Vorkehrungen zur Linderung dieser schwärenden gesellschaftlichen Wunde. Die Indian Railways, Herrin über das zweitgrösste Eisenbahnnetz der Welt, sollte die Migranten heimschaffen, und dies kostenfrei.
Doch wer gedacht hatte, dass eine Behörde mit 1,6 Millionen Angestellten dafür über die nötige Kapazität und Logistik verfügt, irrte sich. Die Bahn transportiert sonst jeden Tag 24 Millionen Passagiere. Doch diesmal fehlte sowohl die Kontrolle der zugelassenen Personenzahlen wie die Koordination von Fahrplänen und Routen. Über achtzig Züge endeten am falschen Ort, – in Südindien statt in Bihar, in Orissa statt im nördlichen Uttar Pradesh. Statt 25 Stunden sassen die Migranten doppelt so lange im Zug, mit nur einem Stück Brot und einer Chilli-Schote zum Knabbern.
Wie viele Passagiere sich in den dichtgedrängten Abteilen neu ansteckten, lässt sich lediglich erahnen. Und wegen der zahllosen ungeplanten Stopps setzten sich viele Passagiere ab, sobald sie sich in der Heimatregion wähnten. Sie legten die letzten Kilometer zu Fuss zurück, um der Ankunftskontrolle am Endbahnhof zu entgehen und damit einer weiteren zweiwöchigen Quarantäne, falls sie Symptome aufwiesen.
Steigende Neuinfektionen
Es ist daher unausweichlich, dass die Zahl der Neuansteckungen nun auch auf dem Land rasant zunimmt. Am 2.Juni erreichte sie mit 8’900 Neuinfektionen an einem einzigen Tag den bisherigen Höhepunkt, ohne Anzeichen einer Verflachung der Todeskurve (die Zahl der Toten liegt bei 5’800).
Doch auch in den bisherigen Hotspots der grossen Metropolen nimmt sie nicht ab. Mit der Zunahme der Tests steigt auch die Zahl der Krankheitsfälle. In Mumbai erreichte sie am 3. Juni 41’986 Patienten in den verschiedenen Spitälern (es gibt immer noch keine Feldspitäler, wie sie etwa die Armee innert Tagen errichten könnte). Beatmungsgeräte mit dem dafür einsatzfähigen Personal sind in der Minderzahl verfügbar. In den meisten Fällen erfolgt die Sauerstoffzufuhr über Standard-Sauerstoffmasken. Patienten mit anderen schweren Gebrechen werden unter Autobahnbrücken unter blauen Planen mit Bambusstützen ausquartiert.
Selbst die risikoreiche Luftzufuhr ist einer wachsenden Zahl von Covid-19-Patienten nicht mehr vergönnt. Die öffentlichen Spitäler sind überfüllt und private Krankenhäuser weisen selbst schwerkranke Patienten ab. Ambulanz-Notrufe sind überlastet. Es häufen sich Todesfälle zuhause, in einem Taxi oder im Rollstuhl, auf denen Kranke auf ein freies Bett warten.
Ein Bild der Konfusion
Mitten in dieser Ausbreitungsphase der Pandemie kommt nun die gestaffelte Lockerung des Lockdown. Und so wie der Lockdown die Krankheit beschleunigte, wird es wohl auch dessen Lockerung tun. Während Züge und Busse immer noch hunderttausende Arbeiter in ihre Heimat zurückbringen, fordern Regierungspolitiker bereits wieder eine Rückkehr an die Arbeitsplätze.
Vier Monate nach den ersten Virus-Erkrankungen bietet Indien ein Bild von Konfusion, Unsicherheit, Hektik und Leerlauf. In Mumbai etwa, dem viralen Ground Zero und gleichzeitig Schlüsselpunkt für einen Wiederaufschwung, dürfen nun bestimmte Bevölkerungsgruppen je nach Berufsausübung wieder auf die Strasse, andere müssen zuhause bleiben. Dies gilt aber nur in bestimmten Stadtbezirken, nur für ausgewählte Dienstleistungen, und ändert je nach Tageszeit. Nur das nächtliche Ausgehverbot gilt für die ganze Stadt.
Das Resultat ist eine Kakophonie von Verboten und Genehmigungen – ein fruchtbarer Boden für Gerüchte und Warnungen. Widersprechende Ratschläge neutralisieren sich, die Unsicherheit steigert sich zu Angst und Groll. Dies wird durch einen überforderten Polizeiapparat verschärft, der seine eigene Konfusion durch Dreinschlagen überspielt.
Wirbelstürme im Vorfeld des Monsun
Inzwischen nähert sich diesem Notstand die Regenzeit und deren Disruptionen. Auch dieses Jahr kündigt der Südwest-Monsun sein Kommen mit Sturmwarnungen an. Bereits wurden sieben Wirbelstürme registriert, darunter der Orkan Amphan, der vor Wochenfrist in Teilen von Ost-Indien und Bangladesch verheerende Schäden anrichtete, mit über zwei Millionen Obdachlosen.
Ein weiterer Wirbelsturm, Nisarga, erreichte am Mittwoch die indische Westküste, just auf der Höhe von Mumbai mit seinen zwanzig Millionen Einwohnern. In meinem – nun fernen – Wohnort Alibagh wirbelte er Bäume, Strommasten, Wellblech und Wassertanks durch die Luft. Mehr liess sich bisher nicht in Erfahrung bringen, da sowohl Stromleitungen wie Telekom-Verbindungen unterbrochen sind.
Die Meteorologen künden dennoch standhaft einen „normalen“ Monsun an; er soll nicht nur reichlich Regen bringen, sondern soll ihn für einmal gleichmässig über den Subkontinent verteilen. Auch die Frühjahrsernte war eigentlich zufriedenstellend gewesen, nach Jahren von Missgeschicken.
Mango-Reichtum und biblische Plagen
Für einmal waren es die Grossbauern im Panjab und in Maharashtra, die wegen der Pandemie auf Saisonarbeiter verzichten mussten und daher ihre Ernte nur lückenhaft einbringen konnten. Von Alibagh erreichten mich letzte Woche Fotos mit vollen Körben von Alfonso-Mangos; ein Bekannter hatte die Ernte eines einzigen Baums Frucht um Frucht auf dem Boden ausgebreitet – nahezu eintausend Mangos.
Doch während sich das Angebot der Landwirtschaft für einmal sehen lassen kann, fällt die Nachfrage weg. Die Versorgungs- und Verteilketten sind wie kaum ein anderer Zweig des Dienstleistungssektors durch die Pandemie lahmgelegt worden, ebenso wie Märkte und Geschäfte. In meiner Alibagh-WhatsApp-Gruppe werden Mangos kostenlos angeboten, solange man sie nur selber abholt.
Mit Lärm gegen Heuschrecken
Um das Mass biblischer Plagen voll zu machen, werden grosse Teile Indiens dieses Jahr von Heuschreckenschwärmen heimgesucht. Da sie für Indien sehr ungewöhnlich sind, wissen sich die meisten Bauern nicht zu helfen. Ein Bauer in Uttar Pradesh versuchte es mit einem windgetriebenen Propeller an einer langen Holzstange, den er mit einem Holzklöppel in einem Blechkanister verband. Das Klopfgeräusch war offenbar laut genug, um die Heuschrecken von seinem Feld zu vertreiben. Wie weit verbreitet die Ratlosigkeit ist, zeigt die Anzahl von Besuchern, als TicToc ein kurzes Video aufschaltete: 26 Millionen sollen es angeschaut haben.
Nicht alle brachten die Geschicklichkeit des Bauern zustande, aber immerhin verstanden sie dessen Lektion. Sie nahmen ihr Blechgeschirr zur Hand, um beim nahenden Summen aufs Feld zu eilen und Lärm zu schlagen. Hatte nicht Premierminister Modi selber sein Volk aufgerufen, zum Schutz vor dem Corona-Virus „Blechmusik“ einzusetzen? Genützt hatte es wenig, aber in der Not ...