Am 15. August 1947 um Mitternacht wurde Indien unabhängig. «Mitternachtskinder» nannte Salman Rushdie seine Generation. Heute, mit dem Lebensende im Horizont, leben diese in einem Indien, das von den Idealen ihrer Jugend weit entfernt ist.
Mit grossem akustischem und visuellem Getöse feierte Indien vor Wochenfrist den 75. Jahrestag seiner Unabhängigkeit. Im Zentrum stand, wenig erstaunlich, Narendra Modi. Einem Avatar gleich tauchte er aus einem Meer von Grün-Weiss-Orange – den Nationalfarben – auf. Dann dröhnte seine Stimme dank dem Multiplikator-Effekt der devoten Medien eine Stunde lang aus allen Häusern des Landes. Sie verband sich mit den Farben der Trikolore, die über jedem Dach wehte. Die Regierung hatte die Bevölkerung zu ihrem Hissen aufgefordert. Selbsternannte Bürgerwehren mit Stöcken stellten sicher, dass der Empfehlung nachgelebt wurde.
Einmal mehr zeichnete der Premierminister das Bild einer stolzen Zivilisation, die trotz ihrer fünftausend Jahre die Vitalität einer jungen Nation ausstrahlte. Beides, Alter und Jugend, Erfahrung und Lebenslust machten aus Indien die weltweit wirkende «Mutter der Demokratie». Er sah den Beweis in der jüngsten Wahl der Staatspräsidentin – eine Frau und Ureinwohnerin. Landesvater Modi hob aber auch den Zeigefinger. Missstände wie Korruption müssten verschwinden und unerfüllte Versprechen wie die Ermächtigung der Frauen eingelöst werden.
Bei jedem grossen Geburtstag Indiens wird gebetsmühlenhaft das Klischee vom halbvollen und halbleeren Glas bemüht. Die verschiedenen Perspektiven sind ein Versuch, die komplexe Realität einer Gesellschaft auf eine von zwei Formeln zu bringen, je nachdem, ob der Scheinwerfer auf verstörende Armut oder die Spitzentechnologie, auf internationale Brillanz oder den Analphabetismus der Hinterhöfe gerichtet wird.
Nationales «Haus»
Einig sind sich alle, dass das Weiterbestehen des Landes in den Grenzen von 1947 bereits eine historische Leistung darstellt. Auch dieses Jahr verwiesen Kommentatoren diesbezüglich auf die weitverbreitete Skepsis in den Gründungsjahren. Nach der gewaltsamen Teilung des Landes kam der erste Krieg mit Pakistan, eine Rebellion im Nordosten des Landes, die militärische Übernahme des südindischen Königreichs Hyderabad – Alles noch bevor Indien überhaupt eine Verfassung und ein Parlament hatte.
Es war diese Verfassung, die dann genau das richtige Mass fand und das Versprechen ablegte, ein nationales «Haus» zu erbauen, in dem sich eine grosse Mehrheit der Bevölkerung einrichten konnte: Demokratische Wahlen mit Stimmrecht für alle, religiöse und sprachliche Toleranz, föderale Gewaltenteilung, Wohlstand für alle, sozialer Ausgleich, namentlich die Ächtung des Kastensystems. Dazu kam eine Aussenpolitik, die den Ehrgeiz hatte, nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs Mahatma Gandhis Gewaltverzicht als internationale Handlungsmaxime durchzusetzen.
Schon früh zeigte sich allerdings, dass der neue indische Staat nicht bei Null angefangen hatte. Besorgt über die zentripetalen gesellschaftlichen Kräfte übernahm er, lange vor dem Auftritt der Hindu-Nationalisten, das bürokratische Obrigkeitsdenken des kolonialen Polizeistaats. Es kaschierte sich sorgfältig mit dem ideologischen Mäntelchen des «Sozialismus», mit regelmässigen Wahlen und einer entpolitisierten Armee.
Ansprechbar für populistische Versprechen
Zahlreiche Kolonialgesetze im Zivil- und Strafrecht blieben in Kraft. Sie stellten die alten gesellschaftlichen Hierarchien nicht in Frage, erlaubten den oberen Kasten, ihren traditionellen Machtanspruch mit den Attributen von westlicher Modernität zu festigen. Wenn Randgruppen – Dalits, Ureinwohner, Landlose, Frauen – aufbegehrten, wurden sie mit einer Mischung von Zugeständnissen und bürokratischem Aussitzen entwaffnet.
Das verhaltene Wirtschaftswachstum als Folge staatlicher Einmischung hemmte die soziale Dynamik und hinterlässt bis heute einen breiten Armutssockel, den das hartnäckige Kastendenken noch verhärtet hat. Während die oberen Kasten (und ein dünner «creamy layer» von Unterkastigen) florieren, bleibt das bald bevölkerungsreichste Land der Welt ein Haus, das mehreren hundert Millionen kein sicheres Dach über dem Kopf gibt.
Der Wahlsieg Narendra Modis und seiner BJP im Jahr 2014 änderte die ideologischen Vorzeichen der Politik, profitierte aber von der resignierten Akzeptanz eines Willkürstaats, und der Ernüchterung darüber, dass Demokratie den Wählern nicht die minimale Sicherheit eines Lebens in Würde – mit den Attributen von Arbeit, Ernährung, Wohlfahrt – gebracht hat. Enttäuscht über das Versagen der Demokratie werden sie ansprechbar für populistische Versprechen und verinnerlichen ein Opfer-Syndrom, das die Ursachen für die enttäuschten Erwartungen nicht in staatlichen Defiziten, sondern auf religionspolitische Verwundungen durch Muslime, Maoisten und prowestliche Liberale ablenkt.
Schweigen zu Rushdie
Dazu kommt nun die Waffe technologischer Überwachung und Propaganda. Mit der Kontrolle über die Medien kann der Staat Feindbilder pflegen und wenn nötig eine regelrechte Lynchjustiz orchestrieren. Für die (auch internationale) Öffentlichkeit übt er sich im Weichzeichnen eines demokratischen, gewaltfreien, egalitären Traumlands, hinter dessen Kulisse Gesetze und Institutionen mit Füssen getreten werden.
Im Getöse der Böllerschüsse und des medialen Triumphalismus des Jubiläums fiel es denn auch schwer, das Schweigen zu registrieren, mit dem das offizielle Indien den Messerangriff auf einen der berühmtesten lebenden Mitbürger zur Kenntnis nahm. Salman Rushdie hatte bereits 1988, im «säkularen» Indien der Kongresspartei, seine Erfahrungen mit dem indischen Staat gemacht. Rajiv Gandhis Regierung war die weltweit erste gewesen, die die «Satanischen Verse» verboten hatte. Und schon vor dem Aufstieg Modis wagte sich Rushdie nicht mehr in seine Heimat. Der Staat wollte ihm nicht mehr den Schutz garantieren, den er (als nun britischer Bürger) im Ausland erhielt.
Für die Hindu-Nationalisten war Rushdie der Befürworter einer Idee Indiens, die der ihren diametral entgegenstand. Sein erster Roman «Midnight’s Children», der ihn auf einen Schlag berühmt machte, war eine Anspielung auf die erste Generation von Indern, die nach der Mitternachtsglocke des 15. August 1947 geboren waren. Am Beispiel von Mumbai zeichnet er das Bild einer Gesellschaft, die ein Potpourri von Sprachen und Religionen, Kleiderformen, Essensgewohnheiten und Hautfarben ist. Diversität, Disputation und Toleranz sind das Elixier, die das Land zusammenhielten. Die Biografie des Mitternachtskinds Rushdie illustrierte dieses Ideal ebenso wie seine Fabulierlust, sein bissig-liebevoller Erzählstil, die das Rotznasige mit Poesie verwob.
Religiöser Absolutheitsanspruch
Rushdies Vater Anis Dehlavi stammte aus Kaschmir, lebte mit seiner Gattin in deren Heimatstadt Delhi, bevor die Familie ein Jahr vor der Unabhängigkeit nach Mumbai zog. Anis änderte den Familiennamen zu «Rushdie», aus Verehrung für den andalusischen Philosophen und Freidenker Ibn Rushd aus dem 12. Jahrhundert. Er bewunderte dessen Mut, die islamische Orthodoxie zu kritisieren und mit aristotelischem Gedankengut anzureichern. (Ibn Rushd wurde unter dem europäisierten Namen Averroes auch für die christliche Philosophie eine wichtige Brücke zur griechischen Klassik.)
In seinem autofiktionalen Werk «Joseph Anton» reklamiert Rushdie eine Wahlverwandtschaft mit dem kritischen Geist aus Cordoba. Er sieht ihn als Verfechter der freien Rede, die alleinseligmachende Lehren aus den Angeln hebt, seien sie nun christlich oder islamisch – oder hinduistisch. Die Schadenfreude der Hindutva-Prediger über Rushdies islamkritische Lästerpfeile in den Satanischen Versen dürfte von kurzer Dauer gewesen sein.
Dahinter vermuten sie zu Recht einen unerbittlichen Gegner jeder Spielart von religiösem Absolutheitsanspruch und dessen Verkupplung mit ethnischem Nationalismus. Das Projekt einer Hindu-Nation projiziert ein Indienbild, das Rushdies Ideal diametral entgegengesetzt ist. Das offizielle Schweigen über den Messer-Angriff war daher eine klare Botschaft, ähnlich laut wie die Breitseite von Jubelrufen auf den 75. Geburtstag der Nation.
Ikone der Redefreiheit
Dennoch gilt es, eines anzuerkennen: Dieses Schweigen bedeutet nicht etwa, dass die Regierung auf dem falschen Fuss erwischt wurde. Es drückt eher die Hoffnung aus, dass mit dem opportunen Attentat auf diese Ikone der Redefreiheit auch diese selbst verschwindet. Die Hindutva-Ideologen (ebenso wie die rabiaten Islamisten) können mit Genugtuung feststellen, dass auch die westliche «Woke»-Kultur heute ähnlich argumentiert.
Im Newsnight-Programm der BBC meinte ein Kommentator, Rushdies Gegner hätten die Schlacht um das Verbot der Satanischen Verse zwar verloren; den Krieg dagegen hätten sie gewonnen. Heute, so spekulierte er, würde sich wahrscheinlich kein westlicher Verlag mehr finden, der es wagt, das Buch ohne Kürzungen zu publizieren. Free Speech wird nun erfolgreich als Hate Speech etikettiert. Mit seiner Ächtung ist der Begriff drauf und dran, zum Unwort zu mutieren. Orwell lässt grüssen.