Auf Volksentscheiden und Parlamentsbeschlüssen gründet jede Demokratie. Doch auch das Volk kann seine Meinung ändern. Dann zum Beispiel, wenn neue Erkenntnisse da sind. Wir Schweizerinnen und Schweizer sind die ersten, die wissen, dass Volksentscheide nicht für die Ewigkeit gelten müssen. Wie oft haben wir ein zweites Mal anders abgestimmt als beim ersten Mal.
Die Zeiten, die Wirtschaft, die Gesellschaft, die Politik und das Polit-Personal ändern sich, und so könnten auch Meinungen ändern. Stures Beharren auf einmal Beschlossenem wäre lähmend. Es zeugt von Stärke, wenn man den Mut hat, die Meinung zu ändern. Natürlich sind Volksmeinungen zu respektieren, doch auch ein Volk kann umdenken.
Die Stimmung kippt
Solche Fragen kümmern im Moment die Briten. Die Engländer und die Waliser haben sich am 23. Juni 2016 für einen Austritt aus der EU entschieden. Insgesamt stimmten 51,85 Prozent der stimmenden Briten für den Brexit. Gegen den Austritt votierten die Schotten mit 62 Prozent, die Nordiren mit 56 Prozent und die Londoner mit 60 Prozent.
Gut zwei Jahre später hat die Stimmung gekippt. Laut der von der „Financial Times“ veröffentlichten „Poll of Polls“ (ein Durchschnittswert aller wichtigen Meinungsumfragen) spricht sich heute eine Mehrheit der Briten für einen Verbleib in der EU aus. Die jüngsten Umfragen zeigen, dass bis zu 56 Prozent der Befragten gegen den Brexit sind.
Eine Mehrheit für eine zweite Abstimmung
Der Meinungswandel überrascht nicht, denn viele sind sich erst jetzt bewusst geworden, was ein Brexit bedeuten könnte: Mehr Arbeitslose, sinkender Lebensstandard, Abzug von Banken und anderen internationalen Unternehmen, Druck auf das Gesundheitswesen, Schwächung im Kampf gegen den Terrorismus und sinnloses bürokratisches Gezerre mit dem übrigen Europa.
Umfragen des Instituts YouGov und des Fernsehsenders Sky News ermittelten, dass heute eine Mehrheit der Briten eine erneute Volksabstimmung über den EU-Austritt will.
Gekippt ist die Stimmung auch, weil die Austrittsverhandlungen „badly“ verlaufen. Dieser Ansicht sind 73 Prozent der von YouGov befragten Briten. Sie geben jedoch nicht nur Theresa May die Schuld, sondern sind der Ansicht, dass jeder andere Premierminister die gleichen Probleme hätte.
Prominente Unterstützung
Die Stimmen, die ein zweites Referendum fordern, mehren sich. Jetzt haben die Brexit-Gegner sehr prominente Unterstützung erhalten. Der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan forderte am Sonntag in einem Gastbeitrag für die Zeitung „The Observer“ einen erneuten Urnengang. Die Konsequenzen, die ein Brexit für die Wirtschaftsentwicklung, die Arbeitsplätze und den Lebensstandard vieler Menschen habe, seien zu gross, um nicht ein zweites Mal abstimmen zu lassen.
Viel Zeit für die Austrittsverhandlungen bleibe nicht, schreibt Khan. Jetzt gebe es nur noch zwei Möglichkeiten: kein Abkommen oder ein schlechtes Abkommen. „Beides ist incredibly risky. Ich glaube nicht, dass Theresa May das Mandat hat, so schamlos mit der britischen Wirtschaft und den Lebensgrundlagen der Menschen zu spielen“, schreibt Kahn im Observer.
Premierministerin May hat sich erst kürzlich wieder gegen eine zweite Volksabstimmung und für den Brexit ausgesprochen. Sie steht unter dem Druck der Hardliner und Scharfmacher in ihrer Partei. Dazu gehört der oft irrlichternde frühere Aussenminister Boris Johnson, der zusammen mit Ukip-Parteiführer Nigel Farage eine populistische Kampagne für den Austritt führte.
Blick auf Labour
Mitentscheidend könnte jetzt die Labour Party sein. Ihre Führung sprach sich bisher ebenfalls für den Brexit aus. Doch auch bei Labour scheint der Wind zu drehen. Die Partei tritt am kommenden Sonntag zu ihrem viertägigen Jahreskongress in Liverpool zusammen. Nicht nur Theresa May wird die Liverpool-Diskussionen zum Brexit mit grösster Aufmerksamkeit verfolgen.
Ein Brexit hebt das Selbstbewusstsein und den Stolz mancher Briten, die sich in alter Tradition von Rest-Europa abheben wollen. Doch abgesehen davon, bringt der Brexit der Insel gar nichts. Im Gegenteil. Die gut zwei Jahre seit der Abstimmung genügten, um zu zeigen, dass ein EU-Austritt vor allem negative Konsequenzen haben wird – sowohl für Grossbritannien als auch für das übrige Europa. Brexit: is it worth it?