Im Rahmen eines Rückblicks auf die letzten 50 Jahre hat Stanislaus von Moos sein neues Buch mit einer ungewohnten und inspirierenden Sicht auf die Nachkriegsarchitektur vorgestellt. Le Corbusier erscheint darin als problematischer Autokrat.
Der Titel des von der Architekturzeitschrift «archithese» zu ihrem 50-jährigen Bestehen veranstalteten Symposions hatte es in sich: «Architektur in Trümmern – Faszination Zerstörung». Wer dachte da nicht sogleich an die furchtbaren Bilder der in Schutt und Asche bombardierten Städte in der Ukraine!
Doch der Titel wurde schon letzten Herbst festgelegt und hatte ein ganz anderes Thema im Fokus. Am 21. April 1971 hielt ein Fotograf die Sprengung eines Teils der Siedlung Pruitt Igoe in St. Louis fest, ohne zu ahnen, dass dieses Bild im 1977 erschienenen Werk «The Language of Post-Modern Architecture» von Charles Jencks dazu dienen würde, das Ende der Moderne zu verkünden.
Das Wohnquartier Pruitt Igoe, bestehend aus grossen, locker verstreuten Blöcken, war ab 1955 nach Plänen des amerikanischen Architekten Minoru Yamasaki gebaut worden. Das mit viel Hoffnung verbundene Projekt erwies sich aber bald als gigantische Fehlplanung. Schon nach wenigen Jahren zerfiel die Bausubstanz. Soziale Probleme häuften sich. Die Stadt sah keinen anderen Ausweg, als den Reset-Knopf zu drücken und alle Gebäude zu sprengen.
Im 1982 gedrehten Film «Koyaanisqatsi» von Godfrey Reggio überfliegt eine Kamera zur Musik von Philip Glass trostlose und menschenfeindliche Wohnsilos – auch die von Pruitt Igoe, die am Schluss in einem apokalyptischen Szenarium zu Staub zerfallen. Bittere Ironie des Schicksals: Yamasaki war auch der Schöpfer des World Trade Centers auf Manhattan, das bekanntlich am 9. September 2001 implodierte. Auf den Tag genau 50 Jahre nach dem Ende von Pruitt Igoe wollte «archithese» sich Gedanken über das Verhältnis von Zerstörung und Wiederaufbau oder auch Neuplanung machen, was implizit auch immer wieder in den Heften aufgegriffen wurde.
Zerstörung ist in der Architektur nicht nur die Kehrseite der Medaille, vielmehr geht sie – frei nach Luigi Snozzi – einher mit dem Bauen selber. Hannes Meyer, der eine kurze Zeit Chefredaktor von «archithese» war, führte in die Welt der Punkbewegung ein, die sich ebenfalls vor rund 50 Jahren formierte und alles Etablierte, so auch die Architektur hinterfragte, um nicht zu sagen verachtete. Es war ein Leben und Werken in Provisorien, an städtischen Unorten – nicht exakt in Trümmerlandschaften, aber auf urbanen Brachen (Stichwort Häuserbesetzung).
Neue Sicht auf die Nachkriegsarchitektur
Am nachhaltigsten blieb der Auftritt von Stanislaus von Moos haften, der die Gelegenheit am Schopf packte, aus seinem kürzlich erschienenen Buch «Erste Hilfe. Architekturdiskurs nach 1940. Eine Schweizer Spurensuche» vorzulesen. Es waren Ausschnitte aus dem ersten Kapitel, überschrieben mit «Bauplatz Ruine», in dem von Moos mit überraschenden Verweisen die heimliche Lust von Architekten (hier ist es angebracht, nur die männliche Form zu verwenden) am Niederreissen entlarvt, weil ihnen damit der Wiederaufbau ohne Einschränkungen ermöglicht wurde.
Einmal mehr staunt man über die Virtuosität des Autors im Formulieren, über die enorme Belesenheit, aber auch über die überraschenden Hakenschläge, wenn es darum geht, bis anhin unbekannte Fährten aufzuspüren. Allerdings muss der Leser, die Leserin bereit sein, sich (ver)führen zu lassen, denn der Assoziationsfluss ist bisweilen unberechenbar. Doch willkürlich ist dies alles nicht. Im immensen Anmerkungsapparat wird jeder Schritt akribisch mit Quellen belegt.
Im zweiten Kapitel, verknüpft von Moos die Erzählung von der Arche Noah mit jener vom japanischen Passagierdampfer Teia Maru, der im Auftrage des Roten Kreuzes 1943 amerikanische Zivilisten gerettet hatte. Das Bild des rettenden Schiffes wird mit Le Corbusier verlinkt, der in «Vers une architecture» moderne Schiffe zu Vorbildern für die Erneuerung der Architektur machte. Hartnäckig versucht von Moos im Folgenden weitere Zusammenhänge zwischen Gesundheit und Wiederaufbau aufzuzeigen. Vom Roten Kreuz, in Genf gegründet, wird die Spur zum Völkerbundpalast und von dessen missratenem Wettbewerb zur Schaffung des CIAM gelegt.
Kühn deutet von Moos die Corbusierliege als Paraphrase der Betten auf den Terrassen der Sanatorien, die bekanntlich wichtige Inspirationsquellen für die Protagonisten des Neuen Bauens waren. Nächster Schritt: Der Bau der Cité de Refuge in Paris von Le Corbusier, einer Oase der Heilsarmee für die Gestrandeten der Gesellschaft, und diese wiederum könnte für die Unité in Marseille wegweisend gewesen sein als Antwort auf die Wohnungsnot nach den Zerstörungen im Weltkrieg.
Es geht weiter zum Thema Bauen als Rotkreuzhilfe mit der Besprechung von Vorschlägen zum Wiederaufbau, die von den Vertretern der Moderne ausformuliert wurden. Und dabei spielt die Baracke als eine Art Zwischenlösung eine grosse Rolle, zunächst für Flüchtlingslager, danach als Provisorium selbst für Verwaltungen bis hin zu Clustern beispielsweise für einen Kindergarten – Provisorien, die teilweise Jahrzehnte überlebten (wie etwas das Centro educativo in Rimini).
Von Moos erkennt in der Baracke eine Quelle für Bautypen, die nach dem Krieg prägend wurden, so etwa für die aus Pavillons bestehenden Schulanlagen oder Ferienhaus-Siedlungen als Orte einfachen Lebens. Selbst die Architektur des Pestalozzidorfs in Trogen ist für von Moos ohne den Blick auf die Baracke nicht verständlich. Und könnte nicht gerade die Baracke ein Auslöser für den Boom von Standardisierung und Vorfabrikation gewesen ein? Von Moos versucht dies mit zahlreichen Dokumenten zu belegen. Es kann so gewesen sein, aber man muss sich bewusst sein, dass dies die Interpretation eines Gelehrten ist, der schon immer auch Lust am Provozieren hatte und gerne gegen den Strom schwamm, in diesem Falle gegen den Mainstream der Architekturgeschichtsschreibung.
Heimliche Lust am Zerstören
Die Lust am Zerstören ist nicht nur etlichen Machthabern zu attestieren: etwa Kaiser Nero, der angeblich Rom abbrennen liess, um ein Schauspiel zu geniessen, oder Papst Julius II., der sich des Niederreissens ganzer römischer Stadtviertel erfreute, um dort seinen gigantischen Petersdom zu bauen. Auch für die Vertreter der frühen Moderne galten die bestehenden Städte als derart marode, dass nur noch Tabula-Rasa-Lösungen Abhilfe schaffen konnten. Le Corbusier führte 1925 mit seinem berühmt-berüchtigten Plan Voisin vor, wie dies am Beispiel Paris zu bewerkstelligen wäre.
Die Bombardierungen des Zweiten Weltkriegs wurden von zahlreichen Architekten im Nachhinein als Chance für einen fruchtbaren Neuanfang gesehen, gar als einen Segen im Unglück. Von Moos zitiert dabei keinen Geringeren als Max Frisch, der solche Gedanken beim Anblick der zerstörten Metropole Warschau äusserte. Gleichzeitig entstand eine Faszination der Ruine, die teilweise in den Wiederaufbau integriert wurde. Von Moos nennt die Gedächtniskirche in Berlin, die mit dem Neubau von Egon Eiermann zum Wahrzeichen der Stadt mutierte. Und in München versuchte Hans Döllgast die Narben an zerbombten Gebäuden beim Wiederaufbau zu belassen, was besonders beeindruckend bei der Alten Pinakothek umgesetzt ist.
Etwas gewagt rückt der Autor die Beton-Brut-Ästhetik Le Corbusiers in die Nähe der Ruinenfaszination, sozusagen als Nachhall der zerbombten Gebäude, die nur noch aus den rohen Skeletten bestanden. Alvar Aalto soll in einem Vortrag die Architektur als Schwester des Kriegs verstanden haben. Das klingt zynisch, aber der Zusammenhang von Zerstörung und Neubau ist leider offensichtlich. Das Kapitel «Bauplatz Ruine» erhält mit Blick auf die Ukraine eine beklemmende Aktualität.
Traditionalisten gegen die Modernisten
Die CIAM-Kämpfer stiessen – das war nicht anders zu erwarten – auf Widerstand. Ausgerechnet an der Landi von 1939 prallten die Auffassungen darüber, wie sich die Architektur entwickeln solle, unversöhnlich aufeinander. Das Manifest des Heimatschutzes ist mit dem «Dörfli» gegeben, das als Vorbild für Sanierungen von Altstädten dient. Diese sollten gegen das Vordringen der Moderne mit allen Mitteln verteidigt werden, wobei von Moos eine überraschende Gemeinsamkeit zwischen den Traditionalisten und den Modernisten aufzeigt. Es waren nämlich beide nicht bereit, das Gegebene zu akzeptieren. Sie purifizierten Fassaden, entkernten alte Häuser, ergänzten Lücken, wodurch sie insgeheim zugaben – natürlich aus jeweils anderen Gründen –, dass sie ähnlich wie die Protagonisten des Neuen Bauens die Baukultur des 19. Jahrhunderts ablehnten. Die Eingriffe der Denkmalschützer in die Substanz von Altstädten sind zwar nicht augenfällig, aber gleichwohl radikal, wie beispielsweise von aussen nicht sichtbare Aushöhlungen zeigen.
Das Neue Bauen wurde jedoch noch von einer ganz anderen Seite angegriffen. Im Kapitel «Unterbundene Klassizismen» werden die Einflüsse der Faszination für die griechische Antike und für das Bauen in der Sowjetunion erforscht. Insbesondere für Repräsentationsgebäude wurden Entwürfe eingereicht – von Moos nennt als Beispiel das erste Projekt von Armin Meili für das Kunsthaus Luzern –, deren Fronten mit Kolonnaden versehen waren. Die Architektenzunft musste sich mit der Propaganda eines Hans Schmidt auseinandersetzen, der in zahlreichen Vorträgen die riesigen neuklassizistischen Strassenfluchten in Moskau und in Ostberlin lobte und solches auch in der Schweiz verwirklicht sehen wollte. Das blieb der Schweiz glücklicherweise ebenso erspart wie das utopische Projekt «achtung: die schweiz» mit dem Vorschlag einer komplett neuen Stadt im Grünen.
Le Corbusier revidiert
Von Moos hatte 1968 das Standardwerk zum Gesamtschaffen Le Corbusiers veröffentlicht. Kritik gegenüber dem Meister fehlte weitgehend. In «Erste Hilfe» wird Le Corbusier nach wie vor als zentrale Figur des Architekturdiskurses verstanden, doch von Moos’ Verhältnis zu seinem Idol hat sich merklich abgekühlt. 1968 meinte er noch, dass man Le Corbusier nicht «für die Öde der heuten Satellitenstädte, von Paris oder von Chicago, verantwortlich» machen dürfe. Es liege eher daran, dass die Planer die von Le Corbusier zur Verfügung gestellten Instrumente nicht richtig genutzt hätten. Und weiter: «Es scheint, dass das Funktionieren der ‘Ville Radieuse’ einen gewissen Stand der Zivilisation und der Gewohnheit des Nebeneinander- und Miteinanderlebens voraussetzt ...»
Doch nach über 50 Jahren musste auch von Moos sein Urteil über Le Corbusier revidieren, zu deutlich wurden seither die problematischen Eigenschaften des Egomanen erkannt. Zum Minenfeld Le Corbusier und Vichy spricht von Moos nun Klartext: «Ein ominöser Mix ist das Resultat: Idealismus, ein singuläres Vermögen, komplizierte Sachverhalte in plakative Formeln zusammenzufassen, masslose Ambition, Verachtung von Bürokratie und von Politikern allgemein, verbunden mit einem naiven bis zynischen Vertrauen in die ‘Autorität’.»
Von Moos stellt Le Corbusier in «Erste Hilfe» eine Art Gesinnungsgenossen zur Seite, wenn auch nicht in Bezug auf architektonische Fragen: Armin Meili, der Direktor der Landi 39 und geistige Vater der Landesplanung scheint mit seinem autokratischen und im Grunde antidemokratischen Gehabe etliche Gemeinsamkeiten mit Le Corbusier zu haben. Auch Meili wollte Städte radikal umformen. Seine Pläne für den Umbau von Zürich wurden mehrmals in der «Neuen Zürcher Zeitung» erörtert.
«Erste Hilfe» ist die Summa eines engagierten und eigenständigen Forschers, der auf sein Wirken zurückblickt und eine Bilanz seiner Bemühungen ziehen möchte. Es ist ein Buch, das von der ersten bis zur letzten Seite fesselt und einen immer wieder zum Nachdenken und zum Hinterfragen anregt. Von Moos sagt uns implizit, dass jede Geschichtsschreibung ein dynamischer Prozess ist und nie abgeschlossen werden darf.
Stanislaus von Moos: Erste Hilfe. Architekturdiskurs nach 1940. Eine Schweizer Spurensuche, 448 S., gta Verlag Zürich, 2021, ISBN 978-3-85676-397-8, CHF 60.00.